Hiltrups verkehrsgünstige Lage an Straße, Eisenbahn und Kanal war um die Jahrhundertwende eine günstige Ausgangssituation für die weitere Entwicklung. Angetrieben wurde der kräftige Entwicklungsschub von externen Akteuren.
Um 1900 wurde auch in Hiltrup nach Steinkohle gesucht, das Vorkommen in 1100 Meter Tiefe war nicht abbauwürdig.
Franz Anton Hanses-Ketteler (1871-1937) kam 1891 nach Hiltrup und erwarb in der Nähe des Bahnhofs einen rund 50 Morgen großen Teil des Konsul Schencking’schen Gutes Hülsebrock. Hier gründete er eine Forstbaumschule. An der Bahnhofstraße 88 (heute: Marktallee / Ecke Glasuritstraße) baute er ab 1891 Wohn- und Wirtschaftsgebäude und vergrößerte sie nach und nach.
Mit den neuen Forstbaumschulanlagen in Hiltrup wurden gleichzeitig größere Obstbaum- und Gehölzschulen eingerichtet, so dass die Anlagen schon in wenigen Jahren eine Ausdehnung von über 300 Morgen erreichten. Die Gruppenaufnahme von 1903 zeigt eine Belegschaft von 53 Personen. Die Gartenmeister und viele Arbeiter kamen aus Holland. Auf diesem offiziellen Foto, das auch als Postkarte verwendet wurde, durfte ganz links auch der Briefträger mit geöffneter Postmappe und Briefen in der Hand mit aufs Bild.
Eisenbahnbau und Aufbau der Handels- und der Kriegsmarine schufen den Bedarf für Rostschutz- und Lackfarben. Der spätere (1932) Ehrenbürger Max Winkelmann hatte in den USA gelernt, gründete 1888 in Hamburg einen Handel mit Lacken und Farben und begann 1893 die Eigenfabrikation in einer kleinen Lackkocherei. Mit seinem „Chinalack Kristall-Weiß“ wurde auch die kaiserliche Jacht gestrichen, er durfte das Produkt danach „Hohenzollernweiß“ nennen. 1898 wurde das Warenzeichen „Glasurit“ eingetragen.
1903 kaufte er in Hiltrup ein Grundstück mit Kanal- und Gleisanschluss für ein Zweigwerk und errichtete eine Ölfarbenfabrik. Die ersten Gebäude im Jahr 1903 waren die Ölraffinerie, Lagerhäuser an der Bahnlinie, ein Wohnhaus und eine Villa, wie der Lageplan des Baugesuchs vom 30.3.1904 für den Neubau des Wasser-Hochbehälters zeigt (das Baugesuch ging am 2.4.1904 beim Amt St. Mauritz ein, die Baugenehmigung datiert vom 12.4.1904). 1903 startete die Lackproduktion unter dem Firmennamen „Glasurit“.
Die Architektur der Lagerhäuser an der Bahnlinie (auf dem Briefkopf von 1908 oben neben dem Schornstein, heute nicht mehr vorhanden) lehnte sich an den Tudor-Style an, ähnlich wie kurz danach die Sodafabrik Mittrop (siehe unten). 1908 wurde die Firma umgewandelt in die „Glasurit-Werke M. Winkelmann Aktien-Gesellschaft“.
An der Bahnhofstraße (heute: Marktallee) entstanden langsam weitere Häuser. Um 1904/1905 wurden über die Länge der Bahnhofstraße verteilt eine Reihe kleiner Arbeiterhäuser gebaut.
Der Grundriss dieses Hauses für den Arbeiter Wilhelm Röwekamp leitet sich noch von bäuerlicher Architektur ab:
In der Mittelachse des Hauses ist ein Raum als „Tenne“ bezeichnet mit Zugang an der Giebelseite; zur Tenne gehört eine offene Stallung. Der Dachboden hat eine offene Luke im Giebel, um hier Vorräte einzulagern. Der Hauseingang an der Längsseite führt direkt in die Küche als zentralen Raum analog der bäuerlichen Deele – man versorgte sich selbst.
Auch die Bäckerei Klostermann hatte 1907 Viehställe – und einen Pferdestall für den Brotwagen, mit dem die Bauernhöfe versorgt wurden. Neben Klostermann standen weitere kleine Arbeiterhäuser ähnlich dem Haus Röwekamp.
Der Auktionator Harling hatte schon 1897 an der Bahnhofstraße Nr. 64 ein repräsentatives Haus gebaut (bis 1970 Sitz einer Nebenstelle des Amtes St. Mauritz, 1979 abgerissen für den Neubau des Kleinkaufhauses Burgholz, später Woolworth).
1906/1907 (Schriftzug „1908“ an der Fassade) baute der Unternehmer Hermann Dalhoff an der Bahnhofstraße 54 eine repräsentative Jugendstilvilla mit neobarocken Elementen. Er vermietete das Haus zunächst an seinen Geschäftspartner Dr. Schaafhausen. Bernhard Twenhöven gen. Schulze Brüning aus Überwasser, Münster (1866-1938) kaufte danach das Haus, er hatte den Hof Schulze Brüning, Sandrup 1 in Kinderhaus ca. 1910 an die Einrichtung Mariental verkauft und zog mit seiner Ehefrau (∞16.5.1906) Anna Gescher nach Hiltrup in seine „Villa Brüning“. Das Haus wurde 1986 saniert und steht seitdem unter Denkmalschutz; 2024 wird es von der Firma Beermann und Partner genutzt.
Bernhard Twenhöven brachte auch seinen Schwager Bernhard Gescher, Oekonom zu Horstmar (verheiratet am 14.11.1906 mit Antonia Schulze Twenhöven gen. Schulze Brüning *22.2.1879) nach Hiltrup. Gescher baute nebenan an der Bahnhofstraße 56 die Villa Gescher mit einem überdimensionierten repräsentativen Treppenaufgang innen (1943 Büro der Firma Hanses, später wegen der Augenarztpraxis bekannt als „Villa Korte“; 1992 abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt).
Auf der anderen Seite von Haus Brüning entstand um dieselbe Zeit an der Bahnhofstraße 52 das repräsentative Haus des Arztes Dr. Wahlert. Dr. Wahlert praktizierte bis 1920, das Haus ging in das Eigentum der Famile Burmann über (1944 durch Bomben zerstört, 1956 Neubau der Sparkasse).
Heinrich Mertens kaufte 1907 den Mertens Kotten an der Hammer Straße und gründete eine Gärtnerei (auf einem Teil des Geländes steht heute die Hochschule der Polizei).
Josef Eschweiler (1878-1958) arbeitete zunächst als Obergärtner bei Hanses, 1908 gründete er seine eigene Baumschule (auf dem Gelände an der Westfalenstraße entstand im Jahr 2022/2023 ein neues Baugebiet).
Nah am Bahnhof auf dem Gelände zwischen Bahn und Kanal begann 1908 der Bau eines weiteren Industriebetriebs, ähnlich wie das erste Glasurit-Gebäude in Anlehnung an den Tudor-Style. Südlich von F. M. Dalhoff entstand nah am Kanal die „SODA-FABRIK H. MITTROP“. Das Foto von 1908 zeigt die Baustelle des Kesselhauses von Süden gesehen, …
…, die Größe des gesamten Betriebes gibt der Briefkopf einer Rechnung aus dem Jahr 1909 wieder. Der Betrieb wurde bis 1949 von Josef Rößing fortgeführt und bestand bis in die 1950er Jahre als Waschmittelfabrik, die Gebäude sind nicht mehr vorhanden.
1910 vergrößerte sich die Firma Gebr. Hanses mit dem Kauf mehrerer Bauernhöfe in Sprakel.
Der Orden der „Missionare vom Heiligsten Herzen Jesu“ (MSC) war 1854 in Frankreich gegründet worden zur Unterstützung der Landseelsorge. Der Orden und seine Schule wurden 1880 in Frankreich verboten, wichen ins Ausland aus und nahmen mit französischen Missionaren die Südseemission auf. Die Kolonialmächte versprachen sich von der Mission der indigenen Völker in den neuen Kolonien, diese Bevölkerung zu „nützlichen Untertanen“ zu machen und zum Arbeiten und zur Kolonialverwaltung einzusetzen.
1884 übernahm das deutsche Reich die „Schutzherrschaft“ über den sogenannten Bismarck-Archipel. Die Inseln waren ab 1885 in Besitz der Neuguinea-Kompagnie. Diese machte hohe Verluste, 1899 übernahm das Deutsche Reich die Hoheitsrechte; bis 1914 war der Bismarck-Archipel Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Anfang der 1890er Jahren berichtete die deutsche Kolonialregierung nach Berlin, die katholische Mission auf dem Bismarck-Archipel sei „fest in französischer Hand“. Das Auswärtige Amt wandte sich darauf an den Heiligen Stuhl, und der MSC beauftragte 1894 den holländischen Pater Linckens (1861-1922) mit der Gründung einer Ordensniederlassung in Deutschland. Linckens suchte per Zeitungsanzeige ein Grundstück. Konsul Schencking bot das Baugrundstück in Hiltrup an, am 6.7.1896 unterschrieben Linckens und Schencking den Kaufvertrag.
Das Paterkloster der „Missionare vom Heiligsten Herzen Jesu“ mit Internatsschule eröffnete am 13.12.1897 (Bericht eines Klosterschülers aus der Zeit 1916-1918).
Linckens siedelte 1897 nach Hiltrup über und trat bald darauf in den „preußischen Untertanenverband“ ein, d.h. er wurde deutscher Staatsbürger.
Das Auswärtige Amt forderte von Linckens, auch die französischen Missionarinnen bald durch deutsche Ordensschwestern abzulösen. Nach dem Willen des preußischen Kultusministeriums sollte dazu ein neuer Orden gegründet werden. Linckens warb für den neuen Frauenorden und baute 1899 auf Flächen des Hofes Buermann im Norden von Hiltrup das Mutterhaus. Die ersten Kandidatinnen wurden auf Haus Herding ausgebildet und zogen 1899 in das Mutterhaus der „Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu“ ein.
Ab 1902 unterstützten sie die Hiltruper Missionare zunächst auf den Marshallinseln und auf Neubritannien (heute: Papua Neuguinea). Von Münster aus betrieb auch der Kapuzinerorden bis zum Ende des I. Weltkriegs die Mission in deutschen Kolonien Mikronesiens.
Die Gemeinschaft der Missionsschwestern wuchs schnell, 1910 wurde das Mutterhaus im Norden und im Süden um jeweils drei Fensterjoche erweitert.
Die Industrie- und Gewerbebetriebe in Hiltrup entwickelten sich. Am 1.4.1905 eröffnete Franz-Mauritz Dalhoff die Kunststein-, Mosaik- und Terrazzo-Fabrik F. M. Dalhoff („Cementfabrik F.M. Dalhoff, Herstellung von Zementwaren, Zementrohren, Kunststeinen, Marmor- und Mosaikplatten, Trottoirplatten, Steinmehle und Betonwaren“, verbunden mit einem Baustoffgroßhandel mit Bahnanschluss und eigenem Frachthafen) an der Industriestraße 4 (heute: Nobelstraße; später Baustoffhandel, Büro an der Bahnhofstraße / Marktallee). 1906/1907 wurde an der Münsterstraße (heute: Hohe Geest) mit 12 Bohrtürmen vergeblich nach Öl gebohrt.
Seit dem 15. Jahrhundert bestand an der Galgheide schon eine Ziegelei, 1668 ist eine „Stadtziegelei“ im Kirchspiel HIltrup erwähnt. Sie verarbeitete Geschiebelehm und belieferte die Stadt Münster. Im 19. Jahrhundert ließ der wachsende Bedarf an Ziegelsteinen weitere Ziegeleien in der Gemeinde Hiltrup entstehen. Im Jahr 1844 gab es in Hiltrup 6 Ziegeleien: Buermann, Helling, Lohmann, Kluck, Reismann und Schepers. Mit der Einführung der Ringöfen blühte die Ziegelindustrie auf, mehrere Ziegeleien waren 1905 in Hiltrup in Betrieb: Die Ziegelei Kentrup / Averhoff / Menke (1890-1960), Greve (1890-1937) und die Ringofenziegelei Dr. Carl Schmitz (Schmitz Kühlken, 1900-1930) und in Amelsbüren C. Herold sowie Ökonomierat Winkelmann (1850-1940). 1913 sind zusätzlich die Mecklenbecker Dampfziegelei sowie W. Janinhoff & Co (gegründet 1906) bekannt. Erwähnt ist auch ein Kalksandsteinwerk Dr. Schaafhausen. 1910 kam die Soda-Fabrik H. Mittrop / Waschmittelfabrik von Rössing (bis in die 1950er Jahre) dazu.
1919 gründete Josef Suhrheinrich zwischen Bahnhofstraße (heute: Marktallee) und Klosterstraße (heute: Am Klosterwald) das Betonsteinwerk Suhrheinrich („Beton-, Kunststein- und Terrazzowaren“, 1935 auch „Kalksandsteinwerk Surhenrich“, bis in die 1990er Jahre Jos. Suhrheinrich KG).
Das Hiltruper Zweigwerk der Glasurit-Werke von Max Winkelmann entwickelte sich ab 1903 schnell zum Hauptstandort, ab 1908 als Aktiengesellschaft (1965 von BASF übernommen, heute BASF Coatings). Für die Werksangehörigen von Glasurit entstanden in standardisierter Bauweise Wohnhäuser. Das im Foto gezeigte Haus Marktallee 53 aus dem Jahr 1904 wurde von dem Glasurit-Arbeiter Schmitz und seiner Familie bewohnt; es ist 2010 durch einen Neubau ersetzt worden, sein „Zwilling“ (Nr. 51) hatte schon in den 1960er Jahren dem Café Klostermann weichen müssen. Weitere „Werkshäuser“ standen bis 1978 an der Max-Winkelmann-Straße.
InfrastrukturMit der Entwicklung von Industrie und Gewerbe entstand der Bedarf für eine bessere Infrastruktur. Die 1879 in der Gaststätte Stähler (später: Rohrkötter) eingerichtete Postagentur reichte nicht mehr aus. Sie wurde zum 1.10.1903 in ein Postamt an der Bahnhofstr. 32 / Ecke Klosterstraße umgewandelt (heute: Grosche). 1910 wurde dort mit dem ersten Telefonanschluss ein Fernsprechamt installiert mit einem Klappenschrank.
1907 wurde ein neues, vergrößertes Bahnhofsgebäude im Heimatstil gebaut, man befasste sich mit dem Bau eines Hiltruper Wasserwerks (Pumpwerk Hohe Ward, 1906) und eines Wasserleitungsrohrnetzes (1908) und schon bald mit der Erweiterung der Schule (1911).
Die Landkarte von 1907 zeigt noch eine sehr lückenhafte Bebauung. Das von Schencking parzellierte Gebiet südlich der heutigen Marktallee ist in der Karte als „Hiltruper Reihe“ bezeichnet, die Bebauung ist noch nicht in Gang gekommen. Die Eisenbahnstrecke Münster-Hamm folgt noch über Hackenesch hinaus dem Kanal nach Norden, die Bahnstrecke Münster-Dortmund und die Umgehungsbahn sind noch nicht gebaut.
SchulenBis zum Anfang des 17. Jahrhunderts gab es in Hiltrup weder eine Schule noch regelmäßigen Unterricht. Wahrscheinlich erst nach 1675 wurde eine Schule eingerichtet, als Bischof von Galen allen Kirchengemeinden die Einrichtung von Schulen vorschrieb. Den rudimentären Unterricht in Religion, Lesen und Singen erteilte der Küster in der Küsterei neben seinen übrigen Aufgaben.
Der Schulbesuch war freiwillig und kostete um 1800 einen halben Thaler Schulgeld jährlich; wer Schreiben lernen wollte, musste zuzahlen und kam in die 1. Reihe. 1811 (nach anderer Quelle 1820) wurde zur Zeit des Lehrerküsters Potthoff ein Schulzimmer an die Küsterei gegenüber Alt-St. Clemens angebaut, 1833 erhielt Potthoff die formelle Anstellung als Lehrer und schwor den Eid auf den preußischen König. 1886 endete die Schulgeldpflicht.
Bis 1887 stieg die Schülerzahl auf 96 und bis 1888 auf 128 Schüler, deshalb baute die Gemeinde 1890 die einklassige Mädchenschule mit Lehrerin-Wohnung an der „Stiege“ (später: Burchardstraße / An der Alten Kirche). Erste Lehrerin war Emilie Neisemeyer, ab 1905 unterstützt durch ihre Tochter Alma Neisemeyer.
1905 hatte Hiltrup schon 1.447 Einwohner, Mädchen- und Knabenschule hatten zusammen 250 Schüler. Laut Lehrplan sollte „dankbare Liebe zum Vaterland und zum angestammten Herrscherhaus“ genährt werden, „mit Rücksicht auf die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ waren die „Verdienste der preußischen Herrscher um die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen besonders hervorzuheben“.
Von 1904 bis 1940 wurden 8 weitere Klassenräume an der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße) gebaut. Die 1904 gebaute neue Knabenschule hatte zunächst neben der Lehrerwohnung zwei Klassenzimmer, Küster- und Lehrerstelle wurden 1905 voneinander getrennt. Schon 1911 musste die Schule um zwei Klassenzimmer erweitert werden. Die alte Schule in der Küsterei am Kirchplatz wurde 1912 aufgegeben (das Gebäude wurde in den 1920er/1930er Jahren als Kochschule genutzt und im II. Weltkrieg durch Bomben zerstört).
Ein Chirurg hatte im 19. Jahrhundert in Hiltrup gelebt (Friedrich Bischopinck, 1804-1881), danach hatte sich zunächst kein Arzt in Hiltrup niedergelassen. Bei Krankheit half Pfarrer Spinn mit seinen kostenlos verabreichten (homöopathischen) „Pulvern“.
Seuchen wie die Cholera waren eine ständige Bedrohung. Die „asiatische Cholera“ war in Russland verbreitet, im 19. Jahrhundert trat sie immer wieder auch in Westfalen auf, zum Beispiel in Dorsten, Lünen und Telgte. Die Hamburger Choleraepidemie 1892 forderte viele Todesopfer; sie drohte sich in ganz Deutschland zu verbreiten, Isolationsmaßnahmen wurden auch in anderen Städten ergriffen. Cholera war 1894 auch beim Bau des Dortmund-Ems-Kanals um Hiltrup ein Problem. Verunreinigtes Trinkwasser war die Ursache. Hamburg baute erst nach der Epidemie von 1892 eine Reinigungsanlage für das Leitungswasser. Möglicherweise waren diese Erkenntnisse und Erfahrungen der Anlass, 1906 in der Hohen Ward das Hiltruper Wasserwerk zu bauen.
Erst um 1910 bis 1920 ließ sich Dr. med. Franz Wahlert in einer großen Villa an der Bahnhofstr. 52 (heute: Marktallee) nieder.
Die Entwicklung Hiltrups ist anschaulich nachzuvollziehen an den Ansichten des Gasthauses Scheller. Das Gasthaus Scheller sah 1905 schon etwas feiner aus als auf der Postkarte aus dem Jahr 1901 (s.o.). Heinrich Theodor Scheller, der Sohn des Gründers, hatte 1904 das Gasthaus übernommen, er heiratete die wohlhabende Tochter eines Holzhändlers. Das Scheunentor neben dem Gasthaus ist auf der Postkarte zwar noch zu sehen, aber eine Kutsche hat feierlich gekleidete Gäste gebracht, die am Tisch vor dem Haus sitzen. Links posieren zwei Eisenbahner (?, Bahnbeamter Stienemann wohnte neben Alt-St. Clemens), rechts zwei Postboten in Uniform. Ein Schild am Haus „Deutsche Radfahrer / Station“ wirbt um neue Kunden: Radfahren ist die neue Mode.
Wenige Jahre später zeigt die Postkarte des Gasthauses Scheller deutliche Veränderungen. Die Chaussee / Hammerstraße (heute:Westfalenstraße) ist zwar immer noch nicht gepflastert, aber das Scheunentor ist verschwunden. Zwei Wohnraum-Fenster sind an seiner Stelle entstanden, im ehemaligen Stallbereich eine kleinere Einfahrt; davor steht der einspännige Brotwagen der „Landbrotbäckerei Ww. Scheller“, mit dem die Kunden beliefert werden. Scheller hat sich noch mehr auf die neue Mode des Fahrradfahrens eingestellt. Am Haus wirbt über dem großen Schild „Deutsche Radfahrer – Station“ ein Schild „Große Pumpe für deutsche Radfahrer“, darunter ist eine Wasserpumpe am Haus zu erkennen; am Zaun lehnt ein Fahrrad. Vor dem Haus stehen Tische und Stühle, Pflanzkübel grenzen die Außengastronomie zur Straße hin ab. Am Straßenrand steht ein Hydrant – Hiltrup hat jetzt eine Wasserleitung.
Die Chaussee Münster-Hamm bleibt in den Folgejahren ungepflastert. Neben der wassergebundenen Steinbahn zeigt das Foto aus dem Jahr 1914 einen breiten Sommerweg. Das Haus der Missionsschwestern (erbaut 1899, inzwischen bereits erweitert) steht noch allein auf weiter Flur.
Wieder einige Jahre weiter ist die Elektrizität nach Hiltrup gekommen: Im Oktober 1910 hatte der Gemeinderat die Versorgung der Gemeinde mit elektrischem Licht beschlossen. Den Auftrag zur Errichtung der elektrischen Licht- und Kraftanlage erhielt die Firma Felten & Guilleaume Lahmeyer-Werke unter der Voraussetzung, dass der Stromlieferungsvertrag mit der Stadt Münster zustande kam (das münstersche Elektrizitätswerk war im Jahr 1910 vergrößert worden). 1917 zeigt das Foto über der Tür des Gasthauses Scheller eine elektrische Lampe. Das Schild „Deutsche Radfahrer / Station“ ist verschwunden, die Pflanzen in den Kübeln der Außengastronomie sind gewachsen, am Straßenrand steht immer noch ein Futterkasten für die Pferde. Vor dem Haus posiert eine Gruppe von Männern in Zivil und in schlichter Uniform – Scheller auf Fronturlaub?
Das öffentliche Leben in Hiltrup wurde wesentlich bestimmt durch Bürgermeister Große Wentrup und Pfarrer Franz Unckel (1858-1933). Welche Bedeutung Pfarrer Unckel in der Hiltruper Gesellschaft hatte, zeigt schon ein Detail der Einführungsfeier zu Beginn seiner Tätigkeit in Hiltrup von 1906 bis 1931: Die umfangreiche Speisenfolge der Feier im Restaurant Voigt am 28.11.1906.
Namen wie Schencking und Winkelmann prägten das wirtschaftliche Leben. Max Winkelmann hatte die Farbproduktion „Glasurit“ nach Hiltrup gebracht, August Bernhard Schencking hatte sich für die Einführung moderner landwirtschaftlicher Methoden eingesetzt, maßgeblichen Einfluss auf die Verlegung des Hiltruper Bahnhofs (von der Station „Diecke Wief“) zum heutigen Standort und auf die Streckenführung des Kanals ausgeübt. Seine Anstrengungen zur Belebung der Hiltruper Wirtschaft waren übrigens auch durchaus politisch motiviert. Davon zeugt sein zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasstes Testament:
>> Von dem Wunsche beseelt,… die Zahl der Hauseigenthümer zu vermehren, wodurch am besten der Anarchismus bekämpft und Staat und Religion besser erhalten werden … <<
bestimmte er, dass erhebliche Teile seines umfangreichen Grundbesitzes Siedlungszwecken zuzuführen seien: >> Von dem Wunsche beseelt, recht bald das Dorf Hiltrup mit dem Bahnhof Hiltrup zu verbinden …, ertheile ich meiner Gemahlin das Recht, nach meinem Tode fortzufahren, Theile von meinem Gute Hülsebrock … zu verkaufen, vornehmlich zu Ansiedlungen … <<
Die Flurkarte von 1900 zeigt, was Schencking damit meinte: Fast die gesamte Fläche zwischen heutiger Marktallee und Max-Winkelmann-Straße war eingetragen auf den Namen seines Erben Paul Schencking und aufgeteilt in viele gleich große Flurstücke; nur wenige waren bis zu diesem Zeitpunkt vergeben.
Vor dem Hintergrund der weiter steigenden Einwohnerzahl wurde in der katholischen Pfarrgemeinde immer hitziger diskutiert, ob Alt-St. Clemens erweitert, durch einen Neubau an gleicher Stelle oder durch einen völligen Neubau an anderer Stelle ersetzt werden sollte. Dabei spielte auch die Einschätzung eine Rolle, dass mit dem Ort eines Neubaus die Lage des gesamten neuen Ortskerns und damit auch die künftigen Grundstückspreise bestimmt würden. Als Pfarrer Unckel 1906 sein Amt antrat, fand er heftig zerstrittene Lager vor. Die Vergabe der Bauplätze und die Grundstücksspekulationen waren schon im Gang. Die Familie Hanses zum Beispiel versuchte mit dem Angebot von Geld die Entscheidung zu beeinflussen, gleichzeitig kauften die Bauunternehmer Bröker von der Pfarre das spätere Baugrundstück an der Bahnhofstraße. Unckel vermied es, Stellung zu beziehen, und begann sehr erfolgreich, Geld für einen Neubau zu sammeln.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich auch in Hiltrup ein Spannungsverhältnis verschiedener gesellschaftlicher Kräfte herauszubilden. Traditionell bestimmten noch die alteingesessenen Großbauern das öffentliche Leben in Hiltrup. Sie waren eng verbunden mit der katholischen Kirche, in deren Umfeld sie den Ton angaben (zum Beispiel im Männergesangverein 1848 Hiltrup und im Bürgerschützenverein Hiltrup von 1851). Der größte Hiltruper Bauernhof, das durch Schencking erworbene Gut Hülsebrock, hatte noch die Flächen für die Baumschulen von Hanses und für das Paterkloster zur Verfügung gestellt.
Die katholische Kirche suchte die gesamte Bevölkerung mit katholischen Vereinen eng an sich zu binden. Der Kriegerverein Hiltrup (ab 1959: Kameradschaft ehemaliger Soldaten Hiltrup) wurde 1896 von Pater Hubert Linckens initiiert.
1906 wurde die Katholische Arbeiter-Bewegung Hiltrup gegründet (Fahne: „Katholischer Arbeiter-Verein 1914“). Der katholische Arbeiter-Verein diente wie die anderen katholischen Vereine primär zur Absicherung des katholischen Milieus im Prozess der Industrialisierung. Er wurde von einem örtlichen Geistlichen, den der Bischof berief, als Präses geführt und richtete sich gegen Protestantismus und Sozialdemokratie.
Die nach dem Vorbild von Regensburg gegründeten Vereine christlicher Mütter banden die Frauen unter der alleinigen Entscheidungsgewalt der Pfarrer eng an die katholische Kirche. Mit der Aufnahme in den Verein konnte ein Ablass gewonnen werden. Der Verein der christlichen Mütter Hiltrup wurde 1916 gegründet. Im selben Jahr zählte der Verein 254 Mitglieder; „nur ca. 30 Frauen sind nicht Mitglied“ berichtete Pfarrer Unckel; die Vereinszeitschrift hieß „Kommt alle zu mir“, Präses war Pfarrer Unckel.
Als dritte Kraft etablierte sich nach und nach verschiedene Industrie, die den kontinuierlichen Zuzug abhängig beschäftigter Arbeiter und Angestellter auslöste.
Über dreißig Jahre sollte es dauern, bis in Hiltrup der Schritt nachvollzogen wurde, den beherzte Sozialdemokraten in Münster mit der Bildung der ersten SPD-Organisation bereits 1878 wagten: Im Jahre 1909 gründeten fünf ortsansässige Steinarbeiter die SPD-Ortsgruppe Hiltrup.
Hiltruper Arbeiter bekennen sich zur SPDAls Gründer der SPD Hiltrup müssen 5 Steinmetzarbeiter angesehen werden, die in der Hiltruper Kunststein-, Mosaik-und Terrazzofabrik F. M. Dalhoff beschäftigt waren: Ignatz Züller (Steinmetz), August Landgraf (Stampfer), Otto Johlitz (1890-1973) und zwei weitere. In jener Zeit streikten die gewerkschaftlich organisierten Hiltruper Steinmetzarbeiter. Die mit dem Streik zusammenhängenden Probleme gaben vermutlich den Anlass zum politischen Zusammenschluss derjenigen Gewerkschafter, die zugleich Sozialdemokraten waren. Überhaupt förderten die Schwierigkeiten, öffentlich für die Sozialdemokratie einzutreten, zunächst eine Hinwendung der politisch Aktiven zur Gewerkschaftsarbeit. Hier lag, zumindest in Münster und Umgebung, der Schwerpunkt der Arbeit. Hier konnten Bemühungen unternommen werden, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und Handwerker zu verbessern.
Dies galt offensichtlich auch für Hiltrup. Dort bildete sich noch vor der SPD-Ortsgruppe eine Filiale der Gewerkschaft der Steinarbeiter aus den Beschäftigten der Terrazzofabrik, die 1910 bereits 30 Mitglieder und damit ein Vielfaches der SPD-Ortsgruppenstärke zählte. Auch der aus Kreisen der SPD und der freien Gewerkschaften gebildete münstersche Konsum- und Sparverein verfügte in Hiltrup bereits 1909 über eine Filiale.
Wenn auch die Einzelheiten der Gründungsumstände im Dunkeln liegen, es bleibt jedenfalls auffällig, dass im Jahre der Ortsgruppengründung die Hiltruper Steinmetzarbeiter streikten und dass die ersten 5 Mitglieder dieser Ortsgruppe allesamt Steinmetzarbeiter waren. Am 14.9.1909 traten 23 Arbeiter der Hiltruper Terrazzo- und Zementwarenwerke (F. M. Dalhoff) in den Streik. Der Vorwärts berichtete am 2.10.1909: „Der Streik der Steinmetzen in Hiltrup bei Münster in Westfalen ist mit einem Erfolg der Streikenden beendet worden, obgleich sich ein Vertreter des christlichen Keram- und Steinarbeiterverbandes bei dem Unternehmer erbot, genügend christliche Arbeitswillige liefern zu wollen“. Es liegt daher nahe, dass das Erstarken der Gewerkschaften in Hiltrup schließlich zum organisatorischen Zusammenschluss der örtlichen Sozialdemokraten geführt hat.
Etwa ein Jahr später fand eine Generalversammlung des SPD-Wahlkreisvereins Münster-Coesfeld statt (24. Juli 1910). An dieser Versammlung nahmen zwei Hiltruper Genossen teil. Es handelt sich um „Ignatz Züller, Steinmetz“ und „August Landgraf, Stampfer“. Sie dürften mit einiger Sicherheit an der ein Jahr zuvor vollzogenen Gründung der Hiltruper Ortsgruppe beteiligt gewesen sein. Ihre Berufsbezeichnungen als Steinmetz und Stampfer weisen sie als Streikbetroffene aus.
Weder die Gründung des Wahlvereins Münster-Coesfeld noch die entsprechenden Hiltruper Aktivitäten blieben der Obrigkeit verborgen. Nachdem der Oberbürgermeister von Münster bereits am 22. September 1908 dem Regierungspräsidenten berichtet hatte, dass sich
>> hier ein sozialdemokratischer Verein Münster-Coesfeld gebildet hat …… <<,
meldete er auf eine entsprechende Anfrage des Regierungspräsidenten am 21. März 1909, dass der Verein etwa 60 Mitglieder habe, darunter 25 Frauen, Ortsgruppen seien nicht errichtet worden. Etwa ein Jahr später berichtete die münstersche Polizeiverwaltung über eine Parteiversammlung in Münster und zählte dabei namentlich alle Teilnehmer aus Münster und Hiltrup auf. Unter ihnen befinden sich die beiden Steinarbeiter der Hiltruper Terrazzofabrik.
Der eigentliche Nachweis des Gründungszeitraumes 1909/1910 ergibt sich aus dem Zusammenhang des Oberbürgermeisterberichts vom 21. März 1909, wonach sich (in Hiltrup) noch keine Ortsgruppe gebildet hatte, mit einer Meldung der Dortmunder „Arbeiterzeitung“ aus dem folgenden Jahr, die von einer vor einiger Zeit gegründeten Ortsgruppe der sozialdemokratischen Partei in Hiltrup berichtet.
Demnach fällt die Gründung in die Zeit zwischen dem 21. März 1909 und dem Erscheinen dieses Zeitungsartikels. Ein weiteres Indiz für das Gründungsjahr 1909 ergibt sich aus folgendem: Der Bericht des Regierungspräsidenten in Münster vom Dezember 1909 erwähnt den Wahlkreisverein Münster-Coesfeld mit fünf nicht näher bezeichneten Ortsgruppen. Im nachfolgenden Jahresbericht 1910 werden diese fünf Ortsgruppen einzeln genannt, unter ihnen auch Hiltrup.
Der erwähnte Zeitungsbericht der Dortmunder „Arbeiterzeitung“ von 1910 ist auch im Übrigen interessant, beleuchtet er doch schlaglichtartig das Verhältnis der christlichen zu den freien Gewerkschaften, die der SPD nahestanden und bis zum heutigen Tage nahestehen. Diese hatten im September 1909 den bereits erwähnten Konsum- und Sparverein gegründet. Im gleichen Jahr beantworteten die christlichen Gewerkschaften dies mit der Gründung einer eigenen Konsumgenossenschaft unter dem Namen „Eintracht“. Beide Genossenschaften verfügten über Filialen auch in Hiltrup. Unter dem Titel „Wer übt Terrorismus?“ berichtete die Dortmunder Arbeiterzeitung unter Bezug auf Hiltrups christliche Konsumfiliale:
>> Aber Mitglieder muß der Konsumverein haben und wurde deshalb auf die Hauswirte verheirateter Kollegen eingewirkt. Wenn der Betreffende nicht beitritt, wird die Wohnung gekündigt. Das ist kein Terrorismus, sondern christliche Nächstenliebe! <<
Vorher heißt es in diesem Artikel:
>> In Hiltrup besteht seit einiger Zeit eine Ortsgruppe der sozialdemokratischen Partei, deren Mitglieder aus den hier beschäftigten … Steinmetzen bestehen. Die Tatsache hat nun den Vorsitzenden des christlichen Keram- und Steinarbeiterverbandes um den Rest seiner Überlegungen gebracht. Nicht eine Nummer des Keramarbeiterblättchens erscheint, in der nicht über die Genossen in einer Weise hergezogen wird, daß man meinen könnte, es wären lauter Diebe und Räuber. <<
Der Bericht zeigt aber noch ein Weiteres. Von Anfang an hatten die Sozialdemokraten in Münster es vermieden, eine antikirchliche Haltung einzunehmen. Mit welchem Erfolg, lässt sich ebenfalls der Zeitungsmeldung entnehmen:
>> Derselbe [der Hiltruper Pfarrer Unckel] faßte die Sache auch gleich richtig an und empfahl seinen Gläubigen von der Kanzel aus, keinen der roten Genossen in Logis zu nehmen und beileibe kein Lokal für Versammlungen herzugeben. Sogar die Wirtschafterin des Herrn [seine Schwester Anna Unckel] ging von Haus zu Haus, um die rote Flut zu dämmen.<<
Der Bericht ist ein sehr prägnantes Beispiel, unter welchen Bedingungen Sozialdemokraten auch in Hiltrup ihre Rechte erkämpfen mussten, dass sie auch in Hiltrup dem erbitterten Widerstand von Bürgern und Kirche ausgesetzt waren. Ihnen ist nichts geschenkt worden – sie mussten sich nehmen, was ihnen zustand, aber nicht zugestanden wurde. Ohne das oft genug verzweifelte Engagement unserer politischen Väter und Mütter sähe heute vieles anders aus. Wenn wir uns deshalb heute an die Gründung der Hiltruper SPD und die enormen Widerstände, die der organisierten Arbeiterschaft entgegengestellt wurden, erinnern, so geschieht dies vor allem in Respekt vor denen, die uns trotz aller damit verbundenen Mühsal die Wege geebnet haben, die wir heute wie selbstverständlich beschreiten. Ihr persönlicher Einsatz, ihr politischer Wagemut und ihre Unbeirrbarkeit sind beispielhaft. Unsere Aufgabe ist es, diese Arbeit fortzuführen mit dem Ziel, weiter für die Verwirklichung unserer Grundwerte Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit beharrlich zu kämpfen.
Weitere Dokumente, Fotos oder Wahlplakate der Hiltruper SPD aus dieser Zeit sind nicht bekannt. Politische Plakate waren bis 1919 in den meisten Ländern nicht zugelassen.
Einen Hinweis auf ein Umfeld, das größeres Selbstbewusstsein der Arbeiter und Mut zur Selbstorganisation beförderte, kann man vielleicht einer Stellenanzeige entnehmen, die am 19.11.1910 im General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen erschien: „Steinmetzen gesucht. Stundenlohn 60 Pf. Hiltruper Steinwerke und Betonbau Akt.=Gesellschaft Hiltrup i. W.“. Die Anzeige deutet darauf hin, dass die aufstrebenden Baustofffirmen Hiltrups (hier vielleicht die Firma Dalhoff?) im Ort nicht genug Steinmetze fanden und deshalb überregional suchen mussten. Der Stundenlohn von 60 Pfennig liegt relativ hoch im Vergleich mit dem Durchschnittsentgelt des Jahres 1910 in Höhe von 1078 Mark: Rechnet man das Durchschnittsentgelt auf 60 Wochenstunden um, entspricht dem ein durchschnittlicher Stundenlohn von ungefähr 35 Pfennig. Der Beruf des Steinmetz war auch wenig attraktiv wegen der gesundheitlichen Risiken; die Zeitung „Der Steinarbeiter“ (16.7.1910) berichtet 1910 über den Mangel an Steinmetzen in Herdecke: „Entweder sie sind verstorben oder sie haben sich einem anderen Berufe zugewandt, um der heimtückischen Berufskrankheit der Steinmetzen, der Lungenschwindsucht, nicht allzu früh zum Opfer zu fallen“.
Hiltrup war in dieser Zeit stark von der katholischen Kirche geprägt. Der 1893 von Pfarrer Spinn gegründete „Kirchbauverein“ hatte bis 1906 28.000 Mark im Kirchbaufonds angesammelt. Der neue Pfarrer Unckel erwies sich als Profi im Fundraising, bis 1909 kamen weitere 50.000 Mark zusammen, bis 1912 über 100.000 (davon 7000 Mark allein von Familie Hanses). 1910 stufte der Regierungspräsident Alt-St. Clemens als „kulturgeschichtlich wertvoll“ ein, verbot den Abriss und verfügte die Beseitigung von Anbauten.
Die Entscheidung über den Standort des Neubaus von St. Clemens – im alten Dorf unmittelbar an der Chaussee Münster-Hamm oder am jetzigen Standort auf einem Grundstück, das die Bauunternehmer Bröker erst kurz zuvor 1907 von der Pfarre gekauft hatten – traf zunächst 1910 der Generalvikar, da der Kirchenvorstand sich nicht einigen konnte. In mehreren Schreiben an verschiedene Beteiligte äußerte er, „daß wir nach reiflicher und sorgfältigster Erwägung das Bröckersche Grundstück als Platz für die zu erbauende Kirche bestimmt haben“. Pfarrer Unckel warb zweckgebundene Spenden ein als „Beitrag zur Erwerbung des Bröcker’schen Grundstückes“.
Darüber gab es Streit, der im Wahlkampf vor der Neuwahl von Kirchenvorstand und (Kirchen-)Gemeindevertretung im September 1911 ausgetragen wurde. Ein Wahlaufruf warb für das Bröcker-Grundstück und berief sich auf die Stellungnahme des Generalvikars. Der Gegenaufruf appellierte an die „kleinen Leute und Arbeiter, daß gerade Ihr es seid, die das Geld durch Steuern aufbringen müssen“, verwies auf die hohen Kosten und Gewinne aus der Grundstücksspekulation – möglicherweise eine Initiative der 1909 gegründeten SPD-Ortsgruppe?
Nach der Kampfabstimmung der Gemeindevertretung im Herbst 1911 wurde der Bau auf dem Grundstück der Bauunternehmer Heinrich und Bernard Bröker beschlossen. Die Bröckers erhielten im Tausch ein größeres Gelände zwischen Bahnhof- und Klemensstraße. Das Angebot der Unternehmer Bröker und Rohlmann für den Bau der neuen Kirche lautete auf 147315,51 Mark Baukosten.
Die neue Kirche war für ein Fassungsvermögen von 1.400 Personen mit Erweiterungsmöglichkeit angelegt und wurde 1912/1913 im wesentlichen von Hiltruper Firmen gebaut, darunter die Bauunternehmer Bröker und der Zimmermeister Marx von der Klosterstraße; die Malerarbeiten führten die Firmen Quante (Bahnhofstr. 4) und Tecklenborg (Klosterstr. 10) aus. Am 26.11.1913 wurde die Kirche geweiht.
Zur Begrüßung von Bischof Johannes Poggenburg auf dem Weg zur Weihe von St. Clemens war auf der Bahnhofstraße / Ecke Hammer Straße (heute: Marktallee) ein Triumphbogen aufgebaut mit einem großen Schild „Willkommen Du ersehnter Seelenhirt!“
Die Bahnhofstraße (heute: Marktallee) war zu dieser Zeit noch ein wassergebundener Steindamm, daneben ein Sandweg für die Pferdefuhrwerke, Alleebäume und Seitengräben. 1915 folgte der Bau des Pastorats an der Münsterstraße (heute: Hohe Geest) gegenüber der Kirche, das Grundstück war eine Schenkung der Familie Schencking. Das Gebäude wird seit 1998 von einer Anwaltskanzlei genutzt (Stand 2023).
Gleichzeitig mit dem Kirchenbau errichtete das Baugeschäft Bröcker an der Bahnhofstraße 21 eine Gastwirtschaft unmittelbar neben dem Gotteshaus. Hier wurde vor und nach der Messe eingekehrt, eine Zeitzeugin berichtet: Bröckers Töchter gingen durch die Reihen und boten auf Tabletts Schnaps und Bier an. Im Hinterzimmer bediente Mutter Bröcker selbst, damit niemand sah, um wie viel Geld Karten gespielt wurden.
Der Kolonialwarenhändler und Sattler Bloech eröffnete sein Geschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite (Bahnhofstr. 24, heute: Marktallee 24; im Jahr 2024 steht das Haus noch, Schaufenster und Eingang von der Straßenseite sind beseitigt).
Bloech stand wie die anderen Einzelhändler, die sich nach und nach in Hiltrup niederließen, damals schon in der Konkurrenz mit den Geschäften in Münsters Innenstadt. 1910/1911 hatte der Unternehmer Theodor Althoff aus Dülmen in Münster an der Salzstraße ein Kaufhaus eröffnet (1920 mit Karstadt fusioniert. In dem Gebäude befindet sich jetzt das Stadtmuseum.).
Als die neue St. Clemens-Kirche am 26.11.1913 eingeweiht wurde, hatte Hiltrup ungefähr 2.000 Einwohner. Die alte St. Clemens-Kirche am Alten Kirchplatz, geweiht 1160, wurde nicht mehr benötigt. Am 8. Mai 1914 fragte der Landrat an, ob man sie nicht zum Zwecke gottesdienstlicher Handlungen der „evangelischen Gemeinde Münster“ (geschätzt ungefähr 100 Mitglieder) vermieten sollte. Der Kirchenvorstand lehnte ab. Alt St. Clemens wurde in den folgenden Jahrzehnten unterschiedlich genutzt, vorübergehend sogar profaniert, und die St. Anna-Glocke von 1521 wurde 1926 an das Landesmuseum verkauft. 1948 diente die Kirche zum Beispiel als Turnhalle für den Turn- und Sportverein und wurde erst 1963 wieder für Gottesdienste hergerichtet, erst 1971 kam die St. Anna-Glocke auf Betreiben des Heimatvereins zurück.
Hiltruper, die sich nicht selbst unterhalten konnten, hatten in früheren Zeiten das Recht, an bestimmten Tagen mit behördlicher Genehmigung zu betteln. 1715 beteiligte sich Hiltrup an den Kosten eines Armen-Aufsehers. 1834 gab es ein Armenhaus; 1913 befand sich das Gemeindearmenhaus an der Hammer Straße 168 (heute: Westfalenstraße).
Die Bahnhofstraße (heute: Marktallee) war um 1915 noch nicht gepflastert, die Nordseite war von der Westfalenstraße bis zur heutigen Hausnummer 15 (Haus Außendorf, später Bosse, 2023: Haversath) noch nicht bebaut.
Im Juli 1914 lief noch das „Große Doppel-Carussell“ bei Heithorn an der Hammer Straße – am 2. August 1914 ging Gendarm Hölscher mit lauter Glocke durch Hiltrup und verkündete die Mobilmachung. 94 Hiltruper Soldaten kamen in den folgenden Jahren um.
Mit Beginn des ersten Weltkriegs wurde die Verbindung aus dem Missionshaus der Hiltruper Missionare in die Welt unterbrochen. Von 1914 bis 1918 wurde im Missionshaus ein Lazarett eingerichtet, etwa 1200 verwundete und kranke Soldaten wurden hier in dieser Zeit gepflegt. Die Verwaltung übernahmen die Hiltruper Missionare, Krankenpflege und Küche besorgten die Hiltruper Missionsschwestern (siehe Hiltrup heute und morgen Nr. 15).
Eine Postkarte aus dem Jahr 1915 zeigt eine Gruppe von deutschen Soldaten als Patienten des Lazaretts im Hiltruper Missionshaus. Der Absender schreibt unter dem 10.7.1915: „Meine lieben Eltern! … kam Euer so liebes Paket, habt vielen vielen Dank dafür. – Mir geht es gut, auch operiert bin ich nicht worden. – Daß Ihr meine Lieben von dem Kuchen nur einmal gegessen habt, war nicht nötig, wenn ich etwas weniger bekommen hätte, wäre die Freude ebenso groß gewesen…“ Neben den Schrecken des Krieges – Patienten auf dem Foto brauchen einen Stock oder tragen einen Arm in der Schlinge – lässt diese Nachricht an die Familie ahnen, dass schon 1915 die Lebensmittelversorgung ein Thema war.
Im Herbst 1914 wurde ein Kriegsgefangenenlager auf der ehemaligen Rennbahn zwischen der heutigen Drachterstraße und dem Vennheideweg in Hiltrup errichtet. In den Baracken waren über 8000 Kriegsgefangene untergebracht. Die meisten mussten in der Industrie oder Landwirtschaft im Münsterland arbeiten. Versorgung und hygienische Verhältnisse waren unzureichend, vor allem russische Gefangene starben an Unterernährung und ansteckenden Krankheiten. Eine Stele an der Drachterstraße erinnert heute an das Lager Rennbahn.
Seit 1901 wurden die Hiltruper Sandvorkommen für Infrastrukturprojekte genutzt. Ab 1913/1914 wurde die Hohe Ward entsandet. Der Bahndamm der Neubaustrecke von Münster nach Dortmund wurde damit aufgeschüttet. Das Material aus der später Steiner See genannten Grube (Nordteil des heutigen Steiner Sees) transportierte die Baufirma Philipp Holzmann mit der „Sandbahn“ über Heithorn nach Wittlerbaum, ab 1915 mit der Eisenbahn nach Rinkerode. Dort wurde es auf eine Schmalspurbahn umgeladen, die über Davensberg bis kurz vor Ascheberg führte. Von 1917 bis 1925 gab es auch Personenverkehr auf dieser Davertbahn.
An der Bahnhofstraße waren neue Häuser entstanden. Das Foto von 1913 zeigt auf der Südseite die markanten Häuser des Arztes Dr. Wahlert (Nr. 52, 1944 zerstört), daneben die von dem Fabrikanten Dalhoff gebaute Jugendstilvilla aus dem Jahr 1907. Auf der Nordseite steht diesen beiden Häusern die Bäckerei Klostermann gegenüber (heller Giebel), dahinter zur Bahn hin: Das kleine Fachwerkhaus Grön (1976 abgebrochen), ein zweigeschossiges Haus mit Schmuckgiebel (später Büro Dalhoff) und dahinter die Villa Dalhoff (ab 1970 „Jägerklause zur Wildsau“, 1980 abgebrochen). Nach Westen schließt sich an die Bäckerei Klostermann eine Reihe von einfachen Häuschen an, jeweils mit Stallgebäude und großem Garten zur Selbstversorgung (unten rechts Marktallee 31/33; seit 1934 Beitelhoff).
Auf dem Foto von 1913 verdecken die Alleebäume die „besseren“ Häuser, die auf der Südseite der Bahnhofstraße zum Bahnhof hin stehen:
Die Postkarte zeigt um 1915 im Hintergrund das 1897 gebaute Haus Harling (Nr. 64, bis 1970 Sitz einer Nebenstelle des Amtes St. Mauritz, später abgerissen für den Neubau des Kleinkaufhauses Burgholz / Woolworth). Das mittlere Haus davor (Nr. 62) gehörte dem Installateur Richters (später abgerissen für den Neubau mit Café Schrunz), für Nr. 60 rechts im Vordergrund („Haus Farwick“) nennt das Adressbuch 1940 den Eisenbahner Rabe als Eigentümer (später Fernsehtechniker Groll).
Die Kosten des Krieges trugen die BürgerInnen. Mit dem Aufruf Gold gab ich für Eisen wurden sie zu Spenden aufgerufen; sie finanzierten die Rüstungsindustrie mit Kriegsanleihen, die mit dem Kriegsende ihren Wert verloren.
Die Gläubigen von St. Clemens in Hiltrup mussten am 9.7.1917 die Zinnprospektpfeifen der Orgel und am 5.9.1917 drei Glocken abliefern, die sie 1913 gerade erst angeschafft hatten. Nur die St. Anna-Glocke aus dem Jahr 1521 blieb ihnen. (25 Jahre später wurden ein zweites Mal die Glocken von St. Clemens für einen Krieg eingeschmolzen.)
(Dieser Artikel wurde zuletzt am 17.10.2024 aktualisiert.)
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