Kritischer Spaziergang über die Hiltruper „Flaniermeile“
Veränderungen laufen manchmal so unmerklich langsam ab, dass man sie im Alltagsleben kaum wahrnimmt. Das gilt auch für Hiltrups Marktallee. Die einen preisen sie als Hiltrups Flaniermeile, andere nehmen sie als kürzeste Verbindung zwischen Amelsbüren und Wolbeck, am Wochenende wird sie auch gern als Schalltrichter für aufgemotzte Motorräder und Showcars benutzt. In Abständen lohnt es, die ganze Marktallee vom Bahnhof bis zur Westfalenstraße mit offenen Augen abzulaufen; die Kamera hilft beim Sehen. Nach den Besichtigungsrunden Ende 2017 und Anfang 2019 also eine Revision im August 2020.
Der Einstieg in die Marktallee hängt davon ab, von wo man kommt:
Bahnfahrer aus dem Süden nehmen vom Bahnsteig herab besser die Treppe. Der Aufzug ist schmutzig und stinkt so fürchterlich nach Urin, dass man ihn nur im Notfall benutzt. Der Weg aus der Unterführung heraus zeigt die öde Rückseite des Supermarktes, am Ende steht man ernüchtert vor einer kahlen Kreuzung.
Aus dem Norden kommend zeigt Hiltrup sich etwas freundlicher. Fahrräder, Kulturbahnhof, dann muss eine große Parkplatz-Landschaft zwischen den Supermärkten überwunden werden. Ist das der Vorgeschmack darauf, was Hiltrups Flaniermeile zu bieten hat: Frisör, Pizza-Lieferdienst, Apotheke, billige Haushaltswaren?
Man findet sich in einer Auto-Landschaft, so ist auch die anschließende Bebauung aufgestellt. Wie ein riesiger Trichter wirken die Häuserzeilen an der Kreuzung mit der Glasuritstraße. Was am anderen Ende der Marktallee euphemistisch als „Tor zur Marktallee“ bezeichnet wurde, kommt hier wenig einladend daher. Links und rechts markieren massige Gebäudekomplexe den Beginn, links liegt ein Gebäudezugang auch noch unter Niveau; wenig gestaltete Freiflächen vor den Häusern verspielen die Chance einer anspruchsvollen Gestaltung.
Gleiches gilt für die Nutzung der Ladenlokale. Auf der Nordseite signalisieren Spielhalle und preiswerte Gastronomie, dass dieser Bereich vor der Bebauung des Bahnhofsareals den Übergang zu einer no-go-area bildete und seine neue Rolle noch nicht gefunden hat. Die Postfiliale, die hier Anfang 2020 untergekommen ist, ist eher unglücklich platziert: Deutlich außerhalb der engeren „Flaniermeile“, und der zu knappe Parkraum ist ein echtes Hindernis, wenn man größere Pakete abholen oder abschicken möchte. Immerhin sorgt die Post an dieser Stelle für etwas Belebung.
Stoffmarkt und Versicherungsbüro auf der Südseite passen mit ihrer „bürgerlichen“ Anmutung schon eher an diese Stelle. Daneben kündigt „HEAR AND BEARD“ eine Besonderheit der Marktallee an, die Massierung von Frisörgeschäften. Wer es im neuen Bahnhofsareal nicht zum Frisör geschafft hat – auch dort gibt es einen -, hat von dieser Stelle an die Auswahl.
Änderungsschneider und „Hair for You“ neben „HEAR AND BEARD“ setzen ein eindeutiges Signal, das ein Haus weiter unangenehm verstärkt wird.
„ASIA QUICK“ bestimmte 2018 mit einer langwährenden Baustelle das negative Bild, und auch nach dem Abschluss der Bauarbeiten kehrte hier kein Leben ein. Die ursprünglich für Außengastronomie vorgesehene Fläche – hier kämpfte einmal eine Eisdiele – wurde kaum genutzt, das Geschäft lief offensichtlich wie bei einem anderen Betrieb im Bahnhofsareal als Lieferservice. Mit welchem Erfolg, steht dahin; Anwohner erzählen von einem Chef im Maserati.
Mitte August 2020 ist der Betrieb wieder geschlossen. An der Tür hängt – zusammen mit drei toten Fliegen – ein verblasster Zettel mit der Erklärung „Auf Grund einer Quarantäneanordnung der Bundesregierung bleiben wir vorübergehend geschlossen“.
Gegenüber einer so verwahrlosten Brache ist es für „normale“ Gastronomie schwierig, Gäste anzuziehen. Die Situation wird auch nicht besser durch Entsorgungsprobleme, aus den Containern neben „Nikos“ stinkt es bei Hitze ganz erbärmlich.
Wenige Schritte weiter zeigt „TAPAS Y VINO“, wie die Marktallee auch aussehen kann: Allein schon die weißen Tischdecken und Sessel erinnern an die so oft gebrauchte Bezeichnung „Flaniermeile“.
Nach dem dritten Frisör und zweiten Änderungsschneider und Zahnarzt (vom Bahnhof aus gesehen) stoßen wir auf weitere Vertreter der Branche „Medizin / Pflege“. Hörgeräte, Hilfsmittel und Pflegedienst folgen dicht aufeinander. Es sind die kleinen Ladenlokale, sie wurden vor Jahrzehnten geplant und gebaut. Heute sind sie nur noch schwer zu vermieten; sie ziehen Nutzungen an, die mit „Flaniermeile“ oder „Aufenthaltsqualität“ nicht mehr sehr viel zu tun haben.
Wo Burgholz war, ist jetzt Woolworth: Ein schon immer problematischer Bereich der Marktallee. Denn hier reiben sich die Zielvorstellungen. Einerseits braucht die Marktallee das Kaufhaus als Publikumsmagnet – wer hier einkauft, bleibt vielleicht auf der Marktallee. Andererseits bietet sich hier ein Platz an, eine sehr seltene Situation in Hiltrups Zentrum: Plätze wollen bevölkert sein, können Mittelpunkt städtischen Lebens sein, und diese rare Fläche ist öder Parkplatz. Eine vertane Chance, Konsequenz von städtebaulichen und Investoren-Entscheidungen der 60er Jahre. Das Café Schrunz auf der Ecke gegenüber zeigt mit seiner belebten Außengastronomie, welches Potential dieser Platz haben könnte.
Schräg gegenüber auf der anderen Seite der Marktallee fällt der Blick auf ein weiteres Krankheitssymptom. Hiltrup ist reich gesegnet mit Filialen von „Billigläden“. Kodi, Action, NKD, gegenüber von Woolworth kommt tedi noch dazu. Das Gebäude war zeitweise arg herunter gekommen und ist inzwischen saniert, aber: Ist das der Anspruch der Hiltruper an städtisches Flair?
Zwei denkmalgeschützte Häuser weiter erobert die Natur eine Brachfläche. Kinderträume residierten hier einmal, Brintrups Spielwaren waren ein Magnet. Das Ladenlokal ist nach heutigen Maßstäben problematisch, mit versetzten Ebenen ist es nicht barrierefrei; weitere Flächen liegen etwas tiefer hinten im Hof. Zwischennutzungen hatten eher Verlegenheitscharakter; seit längerem steht es leer, Unkraut wuchert in der Einfahrt. Der letzte Mieter ist ein paar Häuser weiter gezogen, ein Beispiel für die scharfe Konkurrenz zwischen neuen und alten Ladenflächen.
Im Nachbarhaus residiert die nächste Zahnarztpraxis. Das Gebäude war offensichtlich als reines Wohnhaus konzipiert, im Laufe der Zeit ist es damit beinahe schon zu einem Fremdkörper geworden. Ein neuer Anstrich hat ihm inzwischen einen Hauch von Eleganz verliehen.
Einige Häuser weiter zeigen sich direkt nebeneinander die Chancen und Risiken der alten kleinen Ladenlokale.
Der Schuster neben dem Café Klostermann – einige sagen, dem eigentlichen Zentrum Hiltrups – ist nicht wegzudenken, als kleiner Handwerksbetrieb passt er gut in das kleinstädtische Zentrum; das winzige Ladenlokal links daneben hat schon viele Mieter gesehen und steht seit einiger Zeit leer. Liegt das ehemalige Brintrupsche Spielwarengeschäft noch fast versteckt, wirkt das Lädchen zwischen Schuster und Tabak wie ein totes Auge in der Mitte der Straße.
Es ist diese Inhomogenität, die das Irritierende an Hiltrups Mitte ausmacht: Gerade in diesem Bereich kontrastieren die „Ankergeschäfte“, Klostermann, Biosupermarkt, Buchhandlung, besonders krass mit den schwer zu vermietenden Kleinstladenlokalen.
Ria Money Transfer im soundsovielten Hairdressing-Shop bietet sicher interessante Dienstleistungen, aber: Zentraler Bestandteil einer Flaniermeile?
Wenig weiter hat sich mit „Dessous & Meer“ wieder ein anspruchsvolles Fachgeschäft als Mieter gefunden. Hochwertige Leuchten wurden hier ursprünglich angeboten, offensichtlich überforderte dies Angebot die Hiltruper Kundschaft. Hohe Preise für anspruchsvolles Design waren in der Kleinstadt Hiltrup nicht durchzusetzen – ein Phänomen, das auch in Münsters Zentrum zu beobachten war, diese Geschäfte sind auch dort verschwunden.
Der Ablauf macht deutlich, dass die Kaufkraftbasis für ein gehobenes Angebot in Hiltrup, einem Stadtteil von der Größe einer Kleinstadt dünn ist. Zum Flanieren möchte man die Dinge gern im Schaufenster sehen, kaufen wird man sie hier nicht – oder nur zum Kampfpreis im Internet. Was über bleibt, sind die Frisöre, die Anbieter medizinischer Dienstleistungen und die Billigläden? Wie weit dieser Trend durch die Corona-Epidemie mit ihrem mächtigen Schub für den Internethandel noch beschleunigt wird, bleibt abzuwarten.
Die andere Straßenseite zeigt eine weitere mögliche Perspektive. Der Laden der Alexianer („Onkel Alex“) zielt einerseits auf eine kaufkräftige Kundschaft, andererseits wollte er sich als Ort der Begegnung positionieren. Mit Corona sind die gemütlichen Sesselchen in der Schaufenster-Begegnungsecke leer geblieben. Aber die Alexianer erfüllen mit ihren Integrationsbetrieben eine öffentliche Aufgabe – und erhalten öffentliche Gelder.
Auch unter einem anderen Gesichtspunkt ist dieser Teil der Marktallee beispielhaft. Das Gebäude ist weit zurück gesetzt in einem großstädtischen Gestus: Hier komme ich. Es will Wirkung erzielen. Das große Gebäude und die große freie Fläche davor zeigen den Versuch eines großen Auftritts an. Dies wäre eine Chance gewesen für die Ausbildung eines zentralen Platzes, aber diese Chance ist genauso wie im Fall Woolworth nicht genutzt worden. Hier ist die Tiefgarage darunter das Argument, mit dem die schleichende Vernachlässigung gerechtfertigt wird: Öde Betonplatten und Absperrpfähle sorgen dafür, dass sich niemand ohne Not nähert.
Schräg gegenüber wieder das Elend der kleinen Ladenlokale. Erst ging der Weinhändler, dann die Frisörin. Nachlässig sind die Schaufenster mit Papier zugeklebt bzw. mit leeren Regalen zugestellt. Dem Eigentümer ist offensichtlich völlig egal, welch verheerende Wirkung das auf das Erscheinungsbild der ganzen Straße hat. Alles verkündet nur eine Botschaft: Desinteresse und bevorstehender Abriss. Dem Hörensagen nach hätten sich hier Mieter gefunden, wenn der Eigentümer gewollt hätte…
Nicht viel besser sah es lange Zeit beim Nachbarhaus aus. Große Ladenflächen in dem Neubau stehen seit Jahren leer, auch hier ist dem Eigentümer nichts eingefallen außer Papier hinter den Scheiben. Ein weiteres Café soll dort angeblich als Mieter im Gespräch gewesen und am Widerstand der Eigentümergemeinschaft gescheitert sein. Lange schon ist die Eröffnung einer Augenarztpraxis angekündigt, aber quälend langsam gingen die Bauarbeiten voran. Eine Arztpraxis an zentraler Stelle der Flaniermeile? Mehr ist dem Eigentümer nicht eingefallen? Für den Charakter der Straße ist diese Entscheidung schädlich.
Da gibt es wenigstens gegenüber einen nostalgischen Ankerpunkt für die Hiltruper. Der Handwerksbetrieb im Ortskern, hier gab es ihn noch lange in der klassischen Kombination: Der Mann ist Klempner, die Frau verkauft Haushaltswaren. Auf Haushaltswaren folgte Eis, die Handwerkerfamilie ist flexibel, und Generationen von Hiltrupern holten und holen sich hier ihr Eis.
Die nächsten kleinen Lädchen profitieren noch von der Nachbarschaft zu Billigmode und Blumengeschäft, aber auch hier ist mit einer Fahrschule schon ein Nutzer eingezogen, der nicht unbedingt flaniermeilentypisch ist.
Die Kirche St. Clemens steht mitten im Dorf (die eingeborenen Hiltruper gehen „ins Dorf“, wenn sie die Marktallee meinen), aber doch nicht wirklich. Die Gestaltung des Kirchplatzes vor Jahren hat die Anmutung des closed shop: Statt den Kirchplatz zu öffnen und ihn als Ortsmitte funktionieren zu lassen – warum ist hier nicht der Wochenmarkt? -, hat sich die Kirche mit Hecken und Grün abgeschottet gegen den Rest der Welt. Wer will kann diesen Rückzug als Symptom sehen für eine wachsende Distanz zur sogenannten Zivilgesellschaft, für das Spannungsverhältnis zu deren moralischen und rechtlichen Normen. Diesen Bereich der Marktallee lässt die grüne Mauer um die Kirche zurück als öde Kreuzung, eine technische Einrichtung zur Abwicklung von Verkehr. Die kleine Sitzecke am Brunnen zeigt, was hier möglich gewesen wäre, und nicht zu vergessen: Das Espresso-Mobil von „Flotte Bohne“, für das eine kleine Schneise in den grünen Verhau geschlagen worden ist.
Kleine Ladenlokale können gar nicht funktionieren, man sieht es auch am Neubau neben Bröcker? Das schmale Ladenlokal in dem Neubau hat lange leer gestanden, am Ende zog der nächste Pflegedienst ein. Beispielhaft für die Zukunft der Marktallee?
Man geht vorbei an den nächsten Arztpraxen, Hörgeräten, Apotheke (leben denn nur alte Leute in Hiltrup?). Zwei Häuser weiter hat auch das Ladenlokal unter dem Zahnarzt als Einzelhandelsstandort nicht funktioniert; der Umbau hat wenigstens den Zugang zum Zahnarzt verbessert. Ein Santitätshaus, noch mehr Ärzte, und plötzlich kommt man in eine andere Welt.
Dieser Teil der Marktallee hat sich in den letzten Jahren still und leise gemausert, hier funktionieren auch die kleinen Läden! Bunt ist das Angebot geworden, die Atmosphäre hat etwas Dörfliches mit ihren „Kramläden“, man fühlt sich wohl!
Was genau den Unterschied zum mittleren und oberen Bereich der Marktallee ausmacht, ist schwer zu beschreiben. Vielleicht ist es einfach die Abwesenheit der Ketten: Hier war es wohl für die Billigheimer nicht interessant, die 2000. Filiale mit Billigplastik oder Billigkleidung aufzumachen, und in dies Vakuum sind kreative Leute eingedrungen. Da findet sich neben dem Frisör (noch einer!) das winzige Blumengeschäft, …
…, und Fiffikus schließt die Lücke, die nach der Schließung von Brintrup vor vielen Jahren entstanden war. Man könnte auch sagen: Die geschlossene Vielfalt der Kleinen macht stark.
Dahinter bleibt die Frage, warum diese lebendige Entwicklung an der unteren Marktallee nicht auch anderswo möglich war. Liegt es vielleicht an den Eigentümern der Grundstücke? Kalkulieren sie die Ladenmieten hier unten vernünftiger als anderswo? Und vielleicht auch etwas solidarischer? Denn Entwicklung braucht auch einen gewissen Konsens der Beteiligten, eine Verständigung über langfristige Perspektiven und Wege. In dem aktuellen Strukturumbruch weg vom stationären hin zum Internethandel brauchen auch die jetzt noch funktionierenden größeren Einzelhandelsgeschäfte an der Marktallee das freundliche Ambiente der bunten „Kleinen“, um ihre Attraktivität zu wahren. Dienstleister sind da nur bedingt eine gute Alternative: Wer will schon bummeln gehen vor lauter Pflegediensten und Frisören?
Die Momentaufnahmen dieses Spaziergangs über die Marktallee erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit allem Vorbehalt bleibt allerdings ein leichtes Unbehagen zurück: Läuft die Entwicklung in die richtige Richtung? Können wir auch in Zukunft Besucher hier hin führen und stolz unsere Flaniermeile präsentieren, wo wir selbst uns gern aufhalten?
Wie wäre es also mit einem Eigentümerverbund Marktallee? Darf auch „runder Tisch“ heißen oder „zum Kaffee beim Wirtschaftsverbund“ – Hauptsache es wird geredet und dann auch gehandelt. Dass die SPD solche Ideen in den Kommunalwahlkampf eingebracht hat, muss nicht hinderlich sein. Auch die CDU, die für den Wahlkampf bislang nur das Uraltprojekt „Parkplätze am Bahnhof“ wieder belebt hat, kann hier einsteigen.
Oder wollen die Hiltruper in fünf Jahren dieselben Plakate sehen wie jetzt? 5 Jahre regiert und nix passiert? Nur Frisöre, Ärzte, Apotheker und Pflegedienste auf der Marktallee? Da wären auch Parkplätze am Bahnhof kein Trost mehr.
(Zum nächsten Spaziergang über die Marktallee im November 2022 geht es hier.)
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 20.11.2022.)