Kirche und Kindesmissbrauch: Vertane Chance
Gewalt gegen Abhängige ist nun seit Jahren ein Thema. Sie hat viele Formen, die schlimmste ist sicher der sexuelle Missbrauch von Kindern unter Ausnutzung der ganz besonderen Autorität von Geistlichen. Es hat lange gedauert, bis den Betroffenen nach jahrzehntelangem Leiden an den Folgen jemand zuhörte. Es brauchte großen Mut, das Schweigen zu brechen und über das Unaussprechliche zu berichten. Insbesondere der katholischen Kirche fiel es schwer, sich mit diesen Untaten zu konfrontieren. Es gelang ihr nicht, in der öffentlichen Diskussion widerspruchsfrei zu ihrer Verantwortung zu stehen. Fehler im Dialog mit den Betroffenen wachsen sich zu einem immer größeren PR-Desaster aus. Die öffentliche Wahrnehmung wird zum Beispiel von dem Auftreten des Kölner Kardinals geprägt. Er meint immer noch, er könne von ihm eingeladenen Journalisten Schweigepflichterklärungen abverlangen.
Der münstersche Bischof Genn hat sich jetzt in ähnliche Peinlichkeiten begeben. Zwei Selbsthilfegruppen für Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester und andere Kirchenvertreter haben die Zusammenarbeit mit dem Bischof aufgekündigt. Auslöser für die Trennung war nach einem Bericht der Westfälischen Nachrichten (7.1.2021) wohl ein Streit darüber, ob man die dem Bischof bekannten Missbrauchsopfer anschreiben solle, wie es angeblich vereinbart war, oder über die Medien ansprechen solle. Eine Petitesse, mit etwas Sensibilität im Umgang mit den Verbrechensopfern hätte sich hier sicher eine Lösung finden lassen.
Was zählt, ist das öffentliche Bild. Es ist verheerend. Die Opfer werden 50 Jahre später noch immer als Bittsteller behandelt.
Es ist kein Zufall, wenn die Westfälischen Nachrichten einen Tag später einen Augenzeugenbericht über Misshandlungen im Kinderheim veröffentlichen. Hier war es nicht die Kirche, aber die Grundkonstellation ist ähnlich. In einem Raum, den man „besonderes Gewaltverhältnis“ nennen kann, üben Autoritäten ihre Macht über Wehrlose aus. Es sind widerliche Schikanen, und erst ein halbes Jahrhundert später finden die Opfer Gehör.
Alles Einzelfälle, Betriebsunfälle? Nein, dafür ist die Zahl der Zeugen zu groß. Auch in den Kinderheimen der Nachkriegsjahre, man muss nur die Ohren aufmachen. Erbrochenes aufessen? Zwangsweise so lange essen, bis es eine Gewichtszunahme gab? Nachts nicht aufs Klo dürfen, aber Prügel für ein nasses Bett? Alles nichts Besonderes.
Ohne Gewalt kommt keine Gesellschaft aus. Polizisten müssen Gewalt anwenden, um schwere Straftaten zu verhindern, die Bundeswehr hat Gewalt als Aufgabe. Aber Gewalt muss immer auf das unabdingbar nötige Maß beschränkt bleiben und kontrolliert werden. Wer sich nicht uneingeschränkt zu diesen Grenzen bekennt, stellt unser gesamtes Zusammenleben in Frage.
(Siehe auch Wird sie es schaffen? (2018), Wird sie es schaffen II? (2019) und Wird sie es schaffen III? (2020).)