Kirche und Kindesmissbrauch: Der lange Weg zu einer eindeutigen Haltung
Das waren noch Zeiten! Da gefiel dem Direktor die Schülerzeitung nicht, und der Hausmeister musste die ganze Auflage in den Heizungskessel stecken. Schluss aus, weg mit dem missliebigen Artikel, Ruhe im Karton. Ein Herr von und zu war das damals, so führte er sich auch auf. Widerspruch gab es nicht.
Heute aber gibt es keine Ordnung mehr. Da gefällt dem Kardinal die Meinung seiner Untergebenen nicht und er tilgt sie aus dem Internet, Schluss aus, weg damit – und es gibt keine Ruhe. Das missliebige Meinungspapier ist nach wie vor im Internet, und noch schlimmer: jetzt verbreitet der evangelische Feind die Meinung der unbotmäßigen katholischen Untergebenen, die verdammte Lügenpresse macht das Ganze auch noch öffentlich. Da hilft es auch nicht mehr, den Untergebenen mit „arbeitsrechtlichen Konsequenzen“ zu drohen, der Skandal ist in der Welt. Ein vermeidbarer Skandal, finden sich in dem Meinungspapier doch nur längst öffentlich und auch innerkirchlich diskutierte Positionen.
Der Skandal, worin besteht er eigentlich? Eigentlich ist nicht der Umgang des Kardinals mit seinen Untergebenen – von wertgeschätzten Mitarbeitern kann man wohl nicht reden – anstößig. Kirche als Arbeitgeber ist genauso wie die Gewerkschaft ein Tendenzbetrieb, unsere Rechtsordnung legitimiert hier einen rüden Umgang mit Abhängigen, man kennt das. Aufsehen erregt eher das Blitzlicht auf etwas nicht (mehr?) Vorhandenes. Das Team der katholischen Hochschulgemeinde steht aus der täglichen Arbeit heraus auf der Seite der Jugend, deren Sicht findet sich in dem Meinungspapier. Und zwischen dieser realen Welt und dem Kardinal gibt es offensichtlich keine Verbindung. Die Nicht-Beziehung zwischen beiden ist durch diese Aktion des Kardinals zum Thema geworden.
Was sonst noch?
Der rüde Umgang mit Abhängigen, er findet sich auch in dem selbstherrlichen Vorgehen bei der „Aufklärung“ von Missbrauch in der Kirche. Die beiden Sprecher des Kölner Betroffenenbeirats, die die Untersuchung des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Kleriker begleiten wollten und sollten, haben den Weg aus der Abhängigkeit nicht gefunden. Soweit bekannt ist einer beim Kardinal angestellt, er ist sein Untergebener, und auch der andere dürfte dem kirchlichen Umfeld zuzurechnen sein. Ein Umgang „in Augenhöhe“ war in dieser Konstellation nicht zu erwarten. Die Äußerungen der beiden gegenüber der Süddeutschen Zeitung (19.11.2020) erklären, wie sie vom Kardinal überfahren und instrumentalisiert wurden. Ihre anfängliche Zustimmung, den von einer unabhängigen Anwaltskanzlei erstellten Untersuchungsbericht in der Schublade verschwinden zu lassen, sollte offensichtlich den bösen Schein mindern.
Aber der böse Schein bleibt, der Kardinal und auch der im Bericht erwähnte jetzige Erzbischof (als früher Personalverantwortlicher) wollten etwas verbergen. Je mehr Details bekannt werden, desto peinlicher wird es: Der Kardinal und der Erzbischof kennen den Bericht. Der Erzbischof kennt ihn so gut, dass er sich öffentlich dagegen wehrt. Die Sprecher des Betroffenenbeirats haben den Bericht der Anwälte nie zu sehen bekommen. Sie haben etwas verworfen, ohne es zu kennen. Sie wurden mit der eingekauften Autorität irgendwelcher „Experten“ beeindruckt; sie hatten keine Chance, die vom Kardinal behaupteten methodischen Mängel des Untersuchungsberichts und die behaupteten rechtlichen Bedenken selber zu verifizieren oder zumindest in irgendeiner Form Einfluss auf das Verfahren zu nehmen, in dem solche angeblichen Mängel festgestellt werden sollten.
Der Aachener Bischof hat in „seinem“ Untersuchungsbericht, der von derselben Anwaltskanzlei erstellt wurde, offensichtlich keine methodischen oder rechtlichen Mängel gefunden. Hat also der Kardinal nur nach der überlieferten Maxime gehandelt, den Überbringer schlechter Nachrichten gleich zu erschlagen? Ist maximale Diskreditierung beabsichtigt, den Autoren der Untersuchung methodische Mängel zu unterstellen, dem Anwalt rechtliche Fehler? Der Kardinal will jetzt eine neue Untersuchung, er will einen Strafrechtler beauftragen. Soll der feststellen, dass die meisten Straftaten von Klerikern inzwischen verjährt sind und dass damit alles in Ordnung ist?
Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Prozedur befrage man die Betroffenen – sie müssen sich erneut missbraucht fühlen – und die öffentliche Wahrnehmung.
Die öffentliche Wahrnehmung ist für die katholische Kirche als Ganzes katastrophal. Viel zu prominent und medienpräsent ist dieser Kardinal, als dass die ganz andere Position vieler Bischöfe das Gesamtbild noch retten könnte. Der Eindruck entsteht, dass „die Kleriker“ an ihrem Sessel kleben und keine Verantwortung übernehmen wollen. Der Erzbischof, der in Köln vielleicht keine ganz weiße Weste hinterlassen hat, will jetzt ein Amt ruhen lassen – aber bitte keine Missverständnisse: Natürlich bleibt er Bischof, er will nur nicht mehr mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken reden. Eine vielleicht gar nicht so unangenehme Lösung. Die Basis wird nämlich frech; da ist das miteinander Reden nicht immer vergnüglich.
Wie wichtig ist diese Diskussion eigentlich? Ist es inzwischen nicht völlig egal, ob sich innerhalb einer alten Organisation Leute streiten, die nicht mehr ganz viele aktive Fans haben, so wie Jusos und Seeheimer Kreis?
Zwei Aspekte dieser Story reichen über den engeren Kreis der Opfer und der Täter hinaus.
Die ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens stehen zurzeit auf dem Prüfstand. Das Internet hat brutal deutlich gemacht, welches Potential an gegenseitiger Verletzung in unserer Gesellschaft besteht. Dazu gehören der sexuelle Missbrauch von Kindern, dazu gehören Hass und Verfolgung. Ein eindeutiges Statement Aller ist nötig, solche Aggressionen zu bekämpfen. Die katholische Kirche – solange die Amtsbrüder den Kardinal unwidersprochen machen lassen, haften alle mit: gleiche Brüder, gleiche Kappen – verweigert sich diesem Statement, wenn sie weiter laviert, wenn sie weiter Täter deckt, wenn sie die Opfer erneut missbraucht, wenn sie bei Entschädigungszahlungen in kleiner Münze rechnet und sich nach und nach Konzessionen abringen lässt.
Konzessionen macht der Kardinal, und das macht seinen Umgang mit dem Thema so scheibchenweise schrecklich. Wenn das vom Kardinal in Auftrag gegebene Gegengutachten vorliegt, könne der Betroffenenbeirat auch Einblick in das WSW-Gutachten erhalten; auch „ziehe [man] in Betracht“, den Bericht dann für „interessierte Einzelpersonen, insbesondere Betroffene oder Journalisten im rechtlich möglichen Rahmen“ zugänglich zu machen, zitiert katholisch.de den Kardinal. Der „rechtlich mögliche Rahmen“, was sagt die Formulierung anderes als dass der Kardinal auch in Zukunft nur ausgewählte Teile des Berichts herausgeben will? Und sich dann neue Konzessionen abringen lassen?
Der zweite Aspekt ist ganz einfach. Die katholische Kirche ist genauso wie die evangelische eng verwoben mit unserem Staat. Sie betreibt soziale Infrastruktur, Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und redet auf vielen Entscheidungsebenen mit. Der Staat finanziert, seit zwei Jahrhunderten zahlt er an die Kirchen, er hilft Kirchensteuern eintreiben, es gibt viele Kontaktpunkte. Wenn so große Player von innen heraus erodieren, entsteht ein Vakuum. Wer soll das füllen? Amazon?
Wird die katholische Kirche es schaffen, sich von dieser Krise zu erholen? Auch wer ihr nicht verbunden ist, verfolgt die Entwicklung mit Sorge.
Redet miteinander, möchte man diesem riesigen Apparat zurufen. Genau das fällt wohl so schwer. Da ist auch der münstersche Bischof keine Ausnahme: Im inzwischen öffentlich ausgetragenen Streit um einen Gemeindepfarrer schreibt der Bischof einen offenen Brief. Auf drei Seiten laviert er um die Frage herum, warum er den Pfarrer gegen den Willen vieler Gemeindemitglieder abberuft, und formuliert einen wunderschönen Widerspruch: Weder mit den Gremien der Pfarrei noch mit dem Pastoralteam habe er vor seiner Entscheidung über den Fall gesprochen, aber er „werde auch weiterhin das Gespräch mit den Vertretern des Seelsorgeteams und den Gremien suchen“. Karl Valentin hätte es nicht schöner sagen können.
(Siehe auch Wird sie es schaffen? (2018) und Wird sie es schaffen II? (2019).)
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 30.11.2020.)