Der Pulverdampf verzieht sich, Rückzug ist angesagt
Münster hat ein Problem mit Baugenehmigungen. Es dauert einfach zu lange, bis man den behördlichen Segen bekommt für ein Bauprojekt. In Hiltrup wartet ein Bauer schon ein Jahr auf die Genehmigung für einen neuen Schweinestall.
Die Zeit haben andere genutzt, um dem Bauern Vorschriften zu machen. Es ist ein vielstimmiger Chor. Den einen stinkt’s einfach, andere fürchten um Gesundheit und Umwelt, auch die militanten Tierschützer haben mobil gemacht. Wir alle sollen unser Leben ändern, der Bauer voran.
Was da als Besorgnis von Nachbarn angefangen hat, die sich als Bürgerinitiative organisieren, ist dann aus dem Ruder gelaufen. Chaoten fühlten sich aufgerufen, Fenster einzuwerfen, und Parteipolitik bemächtigte sich des Themas. An dieser Stelle verlor die Bürgerinitiative die Kontrolle. Für Rot und Grün war es die Gelegenheit, den allgemeinen Aktionsstau der Corona-Zeit mit Umwelt-, Klima- und Tierschutz aufzuladen: Der Schweinestall wurde zum rot-grünen PR-Projekt. Verloren ging die Verankerung in der Nachbarschaft, die sich um ihre Wohnqualität sorgte, ein Medien-Hype wurde daraus, bis der Naturschutzbeirat nicht mitspielte.
Das kann man als typisches Internet-Ereignis abtun. Heute ein Schweine-Shitstorm, morgen ein anderer, schnell vergessen.
Nachdenkenswert sind aber doch einige Aspekte dieser Geschichte. Da fällt zunächst auf, wie bedenkenfrei gegen den Bauern als einzelnen Bürger agitiert wurde. Das Internet ist eine scharfe Waffe, um einzelne Menschen anzugehen: Wollen wir ab jetzt so leben? Unser Nachbar tut etwas, was uns nicht passt, und wir organisieren einen Shitstorm, gegen den er sich in der Öffentlichkeit nicht wehren kann?
Es ist eine neue Form des Rechts des Stärkeren. Sie stellt die Grundlagen unserer Zivilisation in Frage. Über Jahrhunderte haben wir Verfahren und Regeln entwickelt, um Lösungen für Konflikte zu finden. Im Straßenverkehr wie im Nachbarschafts- und Baurecht gibt es diese Normen. Hier Nachbarn, dort Schweine – der Konflikt ist nicht neu. In einem demokratischen Verfahren haben wir alle, vertreten durch Volksvertreter, auch für diesen Fall verbindliche Regeln entwickelt. Regelmäßig werden diese Regeln fortgeschrieben, an eine sich ändernde Wirklichkeit und sich ändernde Wertvorstellungen angepasst, in einem demokratischen Aushandlungsprozess.
Der Aufruhr um den Hiltruper Schweinestall stellt diese Basis in Frage: Wir machen Lärm, weil wir uns über die geltenden Regeln hinweg durchsetzen wollen?
Natürlich ist auch eine andere Betrachtung möglich. Wir machen Lärm, weil wir mit Lärm PR-Vorteile sammeln können – als politische Partei alle paar Tage in den Medien erscheinen? Die Sache ist ganz gleichgültig, was zählt ist der Lärm? Diese Betrachtungsweise ist die zynische Variante.
Die dritte Variante ist das Geraune vom „tiefen Staat“. Wir machen Lärm, weil man in unserem Land den Behörden nicht trauen kann, die machen gegen unseren Willen ihr eigenes Ding? Diese Betrachtungsweise klingt inzwischen bei der Bürgerinitiative an. Dem Naturschutzbeirat, der dem Schweinestall wiedersprechen könnte, schreibt die Bürgerinitiative neben vielen Sachargumenten ganz verklausuliert: „Schließlich sind zudem Zweifel nicht ganz von der Hand zu weisen, ob die Genehmigungsbehörde unter diesen Umständen bei ihrer Entscheidungsfindung nicht gehalten ist, ein wohlwollendes Ermessen zugunsten des Antragstellers auszuüben.“ Die Verwaltung hat sich selbst dadurch gebunden, dass sie dem Bauern von einem anderen Standort für den Stall abgeraten hat? Finstere Mächte sind hier am Werk, alle stecken unter einer Decke? Als der Naturschutzbeirat keinen Wiederspruch gegen den Stall erhebt, wird die Bürgerinitiative deutlicher: „Das nennt man einen Deal“ (WN 3.7.2021).
Regeln ignorieren, Lärm um des Lärms willen, der tiefe Staat – aus Trumps USA ist die Welle bis nach Hiltrup herüber geschwappt?
Selbstkritik aller Beteiligten ist jetzt angesagt, und etwas Ruhe. Die Entscheidung über den Bauantrag steht weiter aus. Die ehrenwerten Mitglieder der Bürgerinitiative müssen sich überlegen, ob sie weiter von einem „Deal“ reden wollen, dem viele Leser automatisch das Adjektiv „schmutzig“ zuordnen.
Die Parteien müssen genauer lesen, wie allgemein-vorsichtig sich die Umweltministerin zur Schweinemast geäußert hat: Kein Wort zum konkreten Bauantrag.
Und die Grünen müssen sagen, was sie wollen: Sie wünschen sich ein langwieriges Klageverfahren gegen eine eventuelle Baugenehmigung für den Schweinestall, und erst wenn die Baugenehmigung vor Gericht Bestand hat, erst dann wollen die Grünen die Gesetze ändern (WN 3.7.2021)? Da wird auf Zeit gespielt. Für den Augenblick hat es genug PR gegeben, das Thema muss jetzt vorsichtig beerdigt werden. Den für uns alle teuren Kern der Diskussion, nämlich die Änderung der Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft, können und wollen auch die münsterschen Grünen nicht anpacken. Jedenfalls wollen sie offensichtlich vor der Bundestagswahl nicht darüber sprechen.
(Siehe auch: Autsch: Unsere kleine Schweinewelt)
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 05.04.2022.)