Umbruch 1969

SPD-Wahlplakat Bundestagswahl 1969 mit Willy Brandt: Damit Sie auch morgen in Frieden leben können
SPD-Wahlplakat Bundestagswahl 1969 mit Willy Brandt: Damit Sie auch morgen in Frieden leben können

Bei den Bundestagswahlen im Jahre 1969 lag die SPD erstmalig über 40 %. SPD und FDP zusammen hatten mehr Mandate als die CDU/CSU und bildeten die sozialliberale Koalition. Die ‚Ära Brandt‘ begann, eine enorme Reform- und Aufbruchstimmung ergriff das ganze Land. Brandts Leitsätze in der Regierungserklärung am 28.10.1969 „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ und „Mehr Demokratie wagen“ wurden berühmt.

In der Zeit um 1969 bis 1971 fand in der münsterschen SPD ein heftiger Umbruch statt. „Seit 1969 tobte in Münsters SPD ein Machtkampf zwischen der alten Funktionärsgeneration und Jungsozialisten“; „Was wir vorwärts gebracht haben, war die Herrschaft der Jungen, vor allem von Akademikern, in der münsterschen SPD, die glaubten, alles Recht auf ihrer Seite zu haben die politische Zukunft zu bestimmen, …“ beschreibt Klaus-Dieter Franke diese Phase. (Zum Nachlesen: 125 Jahre SPD in Münster, Der Umbruch 1971.)

In dieser turbulenten Phase wurde der SPD-Ortsverein Münster-Süd aufgeteilt. In Berg Fidel entstand ein neues Wohngebiet, und die dort wohnenden GenossInnen organisierten sich in einem eigenen Ortsverein Berg Fidel. Er ging 2004 im Ortsverein Hiltrup-Berg Fidel auf.

Das gesellschaftliche Umfeld war geprägt von aufkommenden Konflikten. Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren markierte 1967 in der Hamburger Universität die Auseinandersetzung mit nicht hinterfragten (NS-)Traditionen. In der Hiltruper “Provinz” steht ein Bericht der Westfälischen Nachrichten vom 1.10.1970 noch beispielhaft für überkommenes Honoratioren-Denken: Ehefrauen von örtlichen Honoratioren, d.h. von Unternehmern, Ärzten, Sparkassendirektor, Großbauer, Rechtsanwalt und Chefredakteur äußern sich im Interview zu Modefragen. Der Glasuritdirektor redet von einem “großen, sehr schlanken Mädchen”, das seiner Meinung nach ein “elegantes Midi-Cocktailkleid” gut tragen könne.

Die Zusammensetzung der Hiltruper Bevölkerung änderte sich. Evangelische waren im Jahr 1928 mit 7% der Bevölkerung (222 von 3052 Einwohnern) noch eine eher exotische Minderheit, 1931/1932 bauten sie an der Hohen Geest ihre erste kleine Kirche. Nach dem II. Weltkrieg stieg ihr Anteil mit dem Zustrom von Flüchtlingen auf 16% (absolut: 1198 von 7348 Einwohnern) im Jahr 1950, 1970 weihten sie an der Hülsebrockstraße die neue Christuskirche ein. 1971 war ihre Zahl auf 3518 gestiegen, deutlich mehr als 20% der Bevölkerung. Die alte Kirche an der Hohen Geest wurde 1971 abgebrochen. Die Paul-Gerhardt-Schule, ursprünglich eine evangelische Bekenntnisschule, wurde 1972 in eine Gemeinschaftsschule umgewandelt (die einzige in Hiltrup).

Ein Generationenwechsel erfolgte Anfang 1969 in der Hiltruper CDU mit dem Tod von Bürgermeister Ludger Wentrup (1897-1969). Die Bürgermeister ab 1945 waren zunächst fast durchgängig aus der Zentrumspartei gekommen, auch Wentrup war erst später zur CDU übergetreten. Der Rechtsanwalt Dr. Franz Tölle (CDU, 1931-2019) wurde Bürgermeister; der Schulrektor Theo Harbaum (1902-1982) wurde 1972 durch den Rechtsanwalt Werner Quante (*1944) als Vorsitzender der CDU-Fraktion abgelöst.

Auch in der Hiltruper SPD gab es einen heftigen Umbruch: Nach der Kommunalwahl 1969 musste Marga Niedenführ

Marga Niedenführ (1970)

in einer Kampfabstimmung den Vorsitz der 9köpfigen SPD-Fraktion im Gemeinderat an Joachim Riedel abgeben. 1969 stellte die Hiltruper CDU voll Empörung fest, dass Niedenführ es in einer Veranstaltung der Gemeinde für Neubürger gewagt hatte, gegen die „sehr fundierten Ausführungen des CDU-Fraktionsvorsitzenden Harbaum“ zu „polemisieren“ (Hiltruper Anzeiger Juli 1969). Bis 1970 war sie noch Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, dann übernahm zunächst der Architekt Horst Kaisers und ab 1971

Dr. Dietrich Thränhardt (1979)

Dr. Dietrich Thränhardt den Vorsitz. Als sie 1972 ihr 25jähriges Hebammen-Jubiläum und gleichzeitig ihr 20jähriges Politik-Jubiläum feierte, war sie noch (bis zur kommunalen Neuordnung 1.1.1975) Abgeordnete im Kreistag.

Mit der „Konsenspolitik am Biertisch“ war es nun vorbei. Die SPD machte schwungvoll Oppositionspolitik.

Krautkrämer stellte im Dezember 1970 öffentlich Erweiterungspläne für das Hotel am Steiner See vor (von 66 auf 140 Betten). Die SPD Hiltrup bezog 1971 Stellung dagegen und gegen die Ansiedlung des Tennisclubs; sie forderte den Umbau eines vorhandenen alten Gebäudes zum Jugendzentrum (ein Schwerpunktthema der SPD in den folgenden Jahrzehnten) und Nutzung des Geländes zur Naherholung. (Quelle: Westfälische Nachrichten 1.12.1970; mündliche Angaben von Horst Kaisers) Die Hotelerweiterung ging 1973 in Betrieb.

Die Dominanz der örtlichen CDU in vielen Bereichen nahm die SPD nun nicht mehr als selbstverständlich hin; der SPD-Vorsitzende Horst Kaisers beschwerte sich z.B. beim VW-Werk dagegen, dass die CDU eine Parteiveranstaltung in den Räumen des VW-Händlers Hollenhorst durchführte.

Das kirchliche Gymnasium in Hiltrup gehörte ursprünglich als nicht staatlich anerkannte Ordensschule dem Orden der Hiltruper Missionare und hatte bis 1940 nur interne Schüler, das heißt den Priesternachwuchs des Paterklosters ausgebildet. 1941 war der Orden enteignet worden. Zum Neubeginn 1946 war die Schule unter dem Namen Kardinal-von-Galen-Gymnasium auch für externe Schüler geöffnet worden und hatte 1952 mit dem ersten Abiturjahrgang die staatliche Anerkennung erhalten. Dem Orden fiel es immer schwerer, seinen Finanzierungsanteil nach dem Ersatzschulfinanzierungsgesetz aufzubringen. Nachdem die Schule sich zum 1.8.1968 für Evangelische und für Mädchen geöffnet hatte, trug die SPD Hiltrup den Ratsbeschluss mit, der Schule für 1971 einen Zuschuss von 50.000 DM zu zahlen. Schulpflegschaftsvorsitzender war zu dieser Zeit der SPD-Vorsitzende Horst Kaisers. (Quelle: mündliche Angaben von Horst Kaisers; KvG). 1975 ging die Schule in bischöfliche Trägerschaft über.

Auf Initiative der SPD beschloss der Hiltruper Rat, dass 25% des neu ausgewiesenen Baulands verbilligt an Familien abgegeben werden mussten.

Städtebauliches Entwicklungsgebiet: Die Patronatsstraße (Osterkirmes, Westfälische Nachrichten 28.3.1975)

Städtebauliches Entwicklungsgebiet: Die Patronatsstraße (Osterkirmes, Westfälische Nachrichten 28.3.1975)

Städtebaulich war Hiltrup in den 1970er Jahren Entwicklungsgebiet. Der Ort war nach und nach ungeordnet entlang der Westfalenstraße und der Bahnhofstraße (heute: Marktallee) gewachsen. Die Clemensstraße (ab 1975: Patronatsstraße) in der Ortsmitte war kaum bebaut, eine große Fläche war ausgesandet und lag deshalb tiefer. Genutzt wurde dieser Bereich zum Beispiel für die Kirmes, die Osterkirmes und jeweils am 1. Augustsonntag die „große Kirmes“.

Hektische Diskussionen löste 1970 das Projekt eines Großflughafens zwischen Sendenhorst und Albersloh aus. Die NRW-Landesregierung wollte hier einen dritten interkontinentalen Flughafen bauen. In Hiltrup wurde mit einer Neuansiedlung von 30.000 Menschen gerechnet. Das Projekt scheiterte 1973 am Widerstand der britischen Streitkräfte (wegen ihrer Tiefflugschneisen) und der Bundesregierung.

Seit 1969 liefen Vorüberlegungen und Begutachtungen für die zweite Phase der kommunalen Gebietsreform im Land NRW. Hiltrup wollte nicht nach Münster eingemeindet werden, sondern wollte seine Selbständigkeit zusammen mit Amelsbüren und Rinkerode bewahren. Vor diesem Hintergrund diskutierte die Hiltruper CDU-Ratsfraktion im Jahr 1971, an der Clemensstraße ein städtisches Zentrum zu schaffen und den Verkehr von der Westfalenstraße auf die Meesenstiege als Westumgehung zu verlagern. Die SPD Hiltrup trug diese [später nicht realisierten] Pläne mit.

Die SPD forderte eine Kanalunterführung anstelle der [später realisierten] Hochbrücke und eine „Fußgängerzone Marktallee“ (Quelle: mündliche Angaben von Horst Kaisers).

Ab 1971 gab die Hiltruper SPD eine eigene Stadtteilzeitung heraus: „Hiltrup heute und morgen“

Ab 1971 gab die Hiltruper SPD eine eigene Stadtteilzeitung heraus: „Hiltrup heute und morgen“

Die SPD wurde in der Berichterstattung der konservativen Lokalzeitungen nicht ausreichend berücksichtigt. Daneben existierte seit 1966 eine anzeigenfinanzierte Stadtteilzeitung der CDU („Hiltruper Anzeiger“). 1971 startete die SPD Hiltrup daher eine eigene anzeigenfreie Stadtteilzeitung mit dem Titel „Hiltrup heute und morgen“, die ungefähr 3x jährlich an alle Haushalte in Hiltrup verteilt wurde. Die erste erhaltene Ausgabe ist Nummer 4 aus dem Jahr 1971. (Eine Übersicht der erhaltenen Ausgaben finden Sie hier. Hiltrup heute und morgen erschien bis 1994 und wurde später durch die Internetseite www.spd-hiltrup.de ersetzt.)

Anfang 1972 wurde überlegt, einen regelmäßigen Wochenmarkt an der Clemensstraße einzurichten.

1972 wurde auf Antrag der SPD-Fraktion ein Schulkindergarten bei der Paul-Gerhardt-Schule errichtet; die CDU verkaufte das in ihrer Stadtteilzeitung als ihren Erfolg. Hiltrup heute und morgen Nr. 4 fragte öffentlich: „Was hatte nun die CDU damit zu tun?“

In derselben Ausgabe von „Hiltrup heute und morgen“ griff die SPD den CDU-Bürgermeister Dr. Tölle frontal an: „Bodenspekulation verquickt mit Bürgermeisteramt … Herr Tölle, seines Zeichens CDU-Ratsmitglied, Rechtsanwalt und Bürgermeister, schafft es mit leichter Hand, seinen Reichtum zu vermehren. …“ – die SPD Hiltrup machte damit ein Grundstücksgeschäft der Familie Tölle publik: „Kauf von Ackerland am Sternkamp im Gebiet der Gemeinde Amelsbüren, Erschließung mit Einvernehmen der Gemeinde Hiltrup durch Anschluss an die Hiltruper Infrastruktur, Aufstellung eines Bebauungsplans durch die Gemeinde Amelsbüren, Verkauf als Bauland.“ (Der SPD-Vorsitzende Dr. Dietrich Thränhardt wurde daraufhin von Dr. Tölle verklagt, der Prozess endete mit einem Vergleich. Laut einem Zeitungsbericht vom 13.2.1973 forderte die Junge Union anschließend die Ratsfraktion auf, Bürgermeister Dr. Tölle den Rücktritt zu empfehlen und einen Nachfolger zu suchen.)

Die Vorüberlegungen und Begutachtungen für die zweite Phase der kommunalen Gebietsreform im Land NRW konkretisierten sich jetzt. Hiltrup wollte nicht nach Münster eingemeindet werden, sondern wollte seine Selbständigkeit zusammen mit Amelsbüren und Rinkerode bewahren. Der Gutachter Dr. Georg Kluczka hatte Hiltrup einen großen Einzugsbereich bescheinigt. Hiltrup bemühte sich, seine „Mittelpunktfunktion“ zu unterstreichen. Diskutiert wurde, im Bereich der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße) Rathaus, Stadthalle, Post, Jugendzentrum und Marktplatz zu bauen (Hiltruper Anzeiger Mai 1971). Der Rat vergab dafür im Juni 1972 einen Planungsauftrag „für das neue Ortszentrum im Gebiet der Hammer Straße / Clemensstraße (später: Patronatsstraße)“. Die SPD unterstützte diese Planungen.

In diesem Zusammenhang standen auch die Planungen für die Hiltruper Stadthalle. Bis in die 1960er Jahre hatte in Hiltrup für größere Veranstaltungen der Saal der Gaststätte Elfering am Bahnhof zur Verfügung gestanden. Saal und Gaststätte wurden wegen Baufälligkeit geschlossen, andere Säle standen nicht zur Verfügung. So beschloss 1969 der Hiltruper Rat, für die neue Realschule und die noch zu bauende Hauptschule eine Aula zu schaffen (Hiltruper Anzeiger Oktober 1969). Das „Aula-Mehrzweckgebäude“, wie der Gebäudekomplex 1974 genannt wurde (Hiltrup heute und morgen Nr. 6), sollte nach einem holländischen Vorbild in Hoogeveen Bürgerhaus / Freizeitzentrum werden, „Zentrum für das politische, kulturelle, musische und jugendpflegerische Leben“ (Hiltruper Anzeiger November 1972). Die Standortbestimmung war 1970 Bestandteil des Architektenwettbewerbs für das Schulzentrum, „Schule / Sport / Freizeit“ waren die Überschriften. Im Sommer 1972 wurde ein Architektenwettbewerb für die Stadthalle ausgeschrieben. Den 1. Preis erhielt der Architekt Mirbach aus Münster, der auch das Schulzentrum geplant hatte. Sein Entwurf sah im Obergeschoss einen größeren Saal als später verwirklicht vor, dazu ebenfalls im Obergeschoss ein Restaurant zur Versorgung von Saal und Konferenzräumen und eine kleine Bücherei. Im Untergeschoss waren im wesentlichen Räume „für die Jugend“ vorgesehen. Bereits im Dezember 1972 beschloss der Rat bei 2 Gegenstimmen den Bau der „Mehrzweckhalle“, sobald die Finanzierung gesichert werden könne. Aber es gab kein Nutzungskonzept als Planungsgrundlage. Stattdessen wurde ein Kuratorium gebildet, „das dafür Sorge tragen will, dass das Aula-Gebäude mit Leben erfüllt wird“ (Westfälische Nachrichten 31.12.1974).

1973 war inzwischen abzusehen, dass Hiltrup genauso wie andere Umlandgemeinden nach Münster eingemeindet werden würde. Die Hiltruper SPD thematisierte deshalb die Interessenvertretung der Bürger im neuen Rat: Die kommunale Neugliederung werde den Kontakt zwischen Bürgern und Volksvertretern verringern. Die SPD rief dazu auf, sich für die Direktwahl von Bezirksausschüssen einzusetzen und die Gemeindeordnung entsprechend zu ändern – wie es dann mit Schaffung der heutigen Bezirksvertretungen realisiert wurde (Hiltrup heute und morgen Nr. 5).

Im Oktober 1973 organisierten Hiltrup und Amelsbüren gemeinsam eine Bürgerabstimmung zur Gebietsreform. Bei einer Wahlbeteiligung von 67% stimmten 96% für eine Selbständigkeit Hiltrups als Großgemeinde zusammen mit Amelsbüren und Rinkerode.

Diese Aktivitäten kamen allerdings zu spät, Hiltrup wurde mit dem Münster/Hamm-Gesetz von Juli 1974 zum 1.1.1975 nach Münster eingemeindet, der Kreis Münster und die Ämter Sankt Mauritz, Roxel und Wolbeck wurden aufgelöst. Die Planungen für ein „funktionsfähiges Stadtteilzentrum“ rund um die Patronatsstraße (auf Initiative der SPD sollte hier sogar ein Kaufhaus entstehen) wurden 1977 noch mit dem Planungsausschuss der Stadt erörtert, verliefen dann aber im Sande. Erst 20 Jahre später schuf die Stadt Münster mit dem Bebauungsplan 259 die Grundlage für die heutige verdichtete Wohnbebauung an der Patronatsstraße.

Zu dem Projekt der Aula / Mehrzweckhallte hatte Hiltrup in den Gebietsänderungsverhandlungen vor der kommunalen Neuordnung Zusicherungen erhalten: Für den Fall, daß die Mehrzweckhalle Hiltrup im Bau sei, solle die Stadt Münster sie nach der kommunalen Neuordnung weiterbauen (ein klassischer Fall von Kuhhandel). Der Bau der Stadthalle wurde noch 1974 übereilt begonnen, als die Eingemeindung Hiltrups nach Münster zum 1.1.1975 feststand. Die Stadt Münster legte 1975 die Baustelle sofort still, auch die anschließenden Diskussionen über Art und Größe von Nutzungen verliefen chaotisch (siehe Hiltrup heute und morgen Nr. 7 und „Nr. 8“:https://www.hiltrup.eu/index.php?s=file_download&id=16). Die Verwaltung fasste das Projekt mit spitzen Fingern an, immer neue Planvarianten wurden von dem Architekten erarbeitet, Anfang 1976 kam Planvariante 12 in den Rat. SPD und FDP forderten, das Projekt entweder für eine schulische Nutzung umzuplanen oder an einen privaten Träger abzugeben. Die SPD warnte, die in der „Mehrzweckhalle“ geplante Gaststätte werde man zum Nulltarif verpachten müssen, um überhaupt einen Pächter zu finden: Tatsächlich fand sich später kein Betreiber mehr für die Gaststätte, seit etlichen Jahren steht sie leer (Stand: 2022). Die CDU-Mehrheit beschloss 1976, den Bau der „Mehrzweckhalle“ in städtischer Trägerschaft fortzusetzen. Über Nutzungsmöglichkeiten und Raumprogramm wurde aber weiter gestritten. Ende 1977 war die Rede von einem Restaurant mit insgesamt 1500m² und einem Saal mit 680m² Fläche (Hiltruper Anzeiger Dezember 1977). Dem Rat wurde eine „Skizzen-Konzeption“ vorgelegt, die noch nicht einmal von der städtischen Fachverwaltung überprüft war (Hiltrup heute und morgen Nr. 12). Die FDP stimmte für den Abbruch der Bauruine.

Im Sommer 1972 hatte die sozialliberale Koalition im Deutschen Bundestag keine ausreichende Mehrheit mehr zur Ratifizierung der Ostverträge. Am 20. September stellte Willy Brandt nach Art. 68 GG die Vertrauensfrage, der Bundestag wurde aufgelöst. Die SPD stellte den Bundeskanzler in einem emotional geprägten Wahlkampf völlig in den Mittelpunkt ihrer Kampagne: ‚Willy wählen‘ und ‚Auf den Kanzler kommt es an‘ waren die Slogans.

SPD-Wahlplakat "Willy Brandt" zur Bundestagswahl 1972

SPD-Wahlplakat zur Bundestagswahl 1972

61 Hiltruper Bürger unterzeichneten zur Bundestagswahl am 19.11.1972 einen Wahlaufruf für Willy Brandt, der in Hiltrup heute und morgen Nr. 4 veröffentlich wurde.

"Ich bin für Willy": Wahlwerbung 1972 auch auf dem Kinderwagen

„Ich bin für Willy“: Wahlwerbung 1972 auch auf dem Kinderwagen

Willy Brandt erreichte für die SPD mit 45,8 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte, eine eindeutige Bestätigung für die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt-Scheel.

Mit Beginn der Ära Brandt im Jahre 1969 und mit dem grandiosen Wahlerfolg bei der Bundestagswahl 1972 begann die große Euphoriephase in der SPD, die ihr viele neue Mitglieder einbrachte. Die Euphorie musste aber bald der mühseligen Arbeit und der Erkenntnis weichen, dass nicht alle wichtigen Probleme über Nacht gelöst werden können. Auch in Hiltrup dauerte dieser Weg vielen Neueingetretenen zu lange, sie verließen die SPD wieder.

Der Vorsitz der SPD Hiltrup ging 1973 von Dr. Dietrich Thränhardt für insgesamt zehn Jahre auf den Polizeibeamten Theodor Dopheide über.

Theodor Dopheide (1974)

In den Jahren 1975 bis 1980 hatte die Hiltruper SPD konstant zwischen 120 und 130 Mitglieder, davon zunächst die Hälfte Jusos (SPD-Mitglieder unter 36 Jahren); bis 1980 sank ihr Anteil auf ein gutes Drittel (für die Jahre davor und für die folgenden Jahre 1981 und 1982 sind keine Daten mehr verfügbar).

In den Jahren der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung erlebten Hiltruper Sozialdemokraten gelegentlich nicht nur den Konflikt mit dem politischen Gegner, sondern auch mit der „eigenen“ sozialliberalen Regierung.

Geplante Autobahn-Trasse am nördlichen Rand von Hiltrup (1973)

Geplante Autobahn-Trasse am nördlichen Rand von Hiltrup (1973)

1973 wurden Pläne für eine Bundesstraße, später sogarAutobahn A 43 von Münster nach Gütersloh bekannt, die Hiltrup unmittelbar berührten. Im Zusammenhang mit den Planungen eines Großflughafens zwischen Albersloh und Sendenhorst im Jahr 1970 sollte die Trasse zunächst südlich der Hohen Ward verlaufen. Nachdem die Flughafenpläne gestoppt waren, änderte der Landschaftsverband als Planungsträger den Verlauf und verlegte die geplante Trasse an den nördlichen Rand von Hiltrup. Dicht an der Bebauung sollte die Straße auf einem hohen Damm und Brücken Eisenbahn und Kanal überqueren, dafür wurden Flächen am Merkureck planungsrechtlich frei gehalten. Die Planung löste scharfen Protest in Hiltrup aus und wurde 1980 aufgegeben.

1973 erwarb das Land NRW das alte Hiltruper Paterkloster. Das Gebäude wurde zunächst von der 1973 eingerichtete Polizeiführungsakademie Hiltrup (heute: Hochschule der Polizei) genutzt sowie vom Kardinal von Galen-Gymnasium. (Über das weitere Schicksal des Gebäudes – Abriss oder öffentliche Nutzung? – wurde später heftig gestritten, bevor es schließlich in eine Anlage von Kleinwohnungen umgebaut wurde.)

Im Dezember 1973 verlegte Die CDU-Ratsmehrheit gegen den Rat von Pädagogen und gegen die Stimmen der SPD den Schulkindergarten der Paul-Gerhardt-Gemeinschaftsschule aus dem Grundschulzentrum in die alte Clemensschule „ins Getto“. Am 3.4.1974 beschloss der Gemeinderat, den Schulkindergarten wieder in das Grundschulzentrum zurückzuverlegen (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).

„Der Versuch bestimmter Gruppen im Gemeinderat, die Errichtung eines Aldimarktes in der Bahnhofstraße zunächst einmal zu verhindern, …“: Die SPD Hiltrup trat im April 1974 dafür ein, das [Einzelhandels-] Angebot in Hiltrup erheblich zu erweitern (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).

Die Hiltruper Jusos inspizierten die Kinderspielplätze und forderten Instandsetzung / Neugestaltung und regelmäßige Reinigung; längerfristig forderten sie die Einrichtung eines Abenteuerspielplatzes (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).

Im Mai 1974 trat Willy Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre (die DDR hatte den Spion Guillaume in Brandts unmittelbares Umfeld eingeschleust) als Bundeskanzler zurück. Sein Nachfolger wurde Helmuth Schmidt, der zuvor Verteidigungs- und Finanzminister gewesen war.

Helmut Schmidt (1975)

Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982

Die Eingemeindung Hiltrups nach Münster zum 1.1.1975 stand bevor. „Gemeinsam haben sich daher Gemeinderat, Gemeindeverwaltung und alle Parteien bemüht, die Entwicklungsrichtung der Gemeinde Hiltrup über den Termin der Eingemeindung hinaus vorzugeben. Es wurden Flächennutzungspläne so verändert, daß der Wohnwert der Gemeinde Hiltrup voraussichtlich auch nach der Eingemeindung erhalten bleibt, und die Hiltruper Bürger nochmals preiswert Bauland kaufen können. Kommunale Kindergärten wurden errichtet und der Ausbau des Schul- und Freizeitzentrums intensiviert. …“ (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr.6). Für den westlichen Siedlungsbereich konnte kein städtebauliches Entwicklungsprogramm festgelegt werden, da die Trasse einer damals geplanten Bundesstraße (EB 54) bzw. Autobahn 43 nicht feststand; deshalb entschloss man sich wegen des zunehmenden Nachfragedrucks in Hiltrup, ins Emmerbachtal auszuweichen und hier ein Flächenangebot durch Bebauungspläne zu sichern. Mit dem Baubeginn des Schul- und Freizeitzentrums (der heutigen Stadthalle Hiltrup) wurden Fakten geschaffen zu Lasten des Haushalts der Stadt Münster.

Über das Planungskonzept für die heutige Hiltruper Stadthalle gab es erhebliche Auseinandersetzungen. Die SPD Hiltrup forderte im Dezember 1974 für das „Aula-Mehrzweckgebäude“ einen Benutzerrat und auch schulische Nutzung („… schulische Veranstaltungen …, u.a. als Mensa einer Ganztagsschule, hat als offene Einrichtung allen Bürgern, auch Nichtorganisierten, zur Verfügung zu stehen.“) (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 7). Als Folge der Querelen um das Konzept der Halle, die nach Eingemeindung und Baustopp 1975 andauerten, stellte das Hallen-Kuratorium seine Arbeit ein.

Ebenfalls im Dezember 1974 forderte die Hiltruper SPD ein Verkehrs-Gesamtkonzept für Hiltrup – ein Thema, das über Jahrzehnte die Kommunalpolitik beschäftigen sollte (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 7).

Nach dem mündlichen Bericht eines Zeitzeugen gab es in diesen Jahren im Haushalt der Gemeinde Hiltrup keine „Löcher“, sondern im Gegenteil: An Jahresenden musste noch schnell Geld ausgegeben werden. Hiltrup war Industriestandort! 1970 arbeiteten fast 70% aller im heutigen Stadtbezirk Hiltrup (einschließlich Amelsbüren und Berg Fidel) Beschäftigten in Betrieben des produzierenden Bereichs (Stadt Münster: 26%); Hiltrup hatte einen Berufseinpendler-Überschuss, in den 13 Industriebetrieben Hiltrups arbeiteten 1973 über 3.100 Beschäftigte.

(Dieser Artikel wurde zuletzt am 28.02.2023 aktualisiert.)

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