Zwangsarbeit in Hiltrup

Lageplan des Lagers "Waldfrieden" in Hiltrup am Kanal / Osttor (26.8.1941, mit Baracken, noch ohne Bunker)
Lageplan des Lagers "Waldfrieden" in Hiltrup am Kanal / Osttor (26.8.1941, mit Baracken, noch ohne Bunker)

In Erinnerung an das Ostarbeiterlager “Waldfrieden”

Dr. Gisela Schwarze:

Die Führer des Nationalsozialismus speisten ihre Ideologie der Unmenschlichkeit aus dem Antisemitismus mit seinen Vorbildern seit dem Mittelalter, dem Rassismus, der in der Zeit der weißen Kolonialarroganz aufblühte, und dem Sozialdarwinismus, der die Auslese nach dem Prinzip des Stärkeren vollzog. Die Nazi-Rassenlehre erklärte alle Blonden und Blauäugigen zu “Ariern”(d.h. “germanisch”), die höherwertiger seien als alle anderen Menschen und deshalb “Herrenmenschen” wären. Unter diesen Herrenmenschen beanspruchte Hitler die Rolle des (von Gott berufenen) “Führers”. Niederländer und Skandinavier erklärte man auch zu Ariern, die allerdings durch ihre anderen Staatsformen” verdorben” seien. Alle anderen Völker galten als “fremdvölkisch” oder – wie die slawischen Völker – als “schlechtrassisch”. Das unterste Ende der Rassenskala ordnete man der jüdischen Bevölkerung zu, deren Vernichtung offen propagiert und in den Jahren ab 1941 auch ausgeführt wurde – unter Beteiligung nicht unbeträchtlicher Teile der deutschen Bevölkerung.

Hitlers Weltmachtphantasien, die aus diesem Wahn einer rassischen Vorherrschaft erwuchsen, wurden ab 1934/35 Grundlage der mehrjährigen Kriegsvorbereitungen in Wehrmacht und Wirtschaft. Mit Blitzkriegen gedachte man, die Voraussetzungen für einen Großwirtschaftsraum in Europa unter deutscher Führung zu schaffen. Der rassistischen Zuordnung der zu erobernden europäischen Völker entsprachen die Strukturierungspläne: In Westeuropa eine arbeitsteilige Industrielandschaft unter deutscher Führung, in den zu erobernden Ländern des Ostens und des Südostens das Abschöpfen der Rohstoffe, Vernichtung der Intelligenz und jüdischen Bevölkerung und letztlich die Versklavung der übrigen Bevölkerung.

Die Umsetzung dieser Ziele begann unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939. Während die polnischen Kriegsgefangenen sofort in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, begann die SS mit der Ermordung der polnischen Intelligenz und der Gettoisierung der Juden.

1940 folgte die Besetzung Norwegens, Dänemarks, der Benelux-Länder und Frankreichs. Sofort versuchte man, neben den Kriegsgefangenen Zivilarbeiter auf Kontraktbasis ins Reich zu verpflichten, um dem Arbeitskräftemangel aufgrund der Einberufungen der deutschen Männer zum Militär entgegenzuwirken. Die in Polen “erprobten” Methoden der Unterdrückung und Ausbeutung mündeten nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in unbeschreiblicher Grausamkeit in einen Vernichtungskrieg. Hitlers Ziel war, die Sowjetunion wirtschaftlich und politisch zu beherrschen, um deren Ernteprodukte und Bodenschätze auszubeuten und die “reduzierte” Bevölkerung zu versklaven. Sofort begann man auch hier mit der Ermordung der Eliten und aller Juden. Himmler plante mit dem Generalplan “Ost” die Ansiedlung deutscher Kolonisten.

Nachdem im Dezember/Januar 1941/42 von den 3,35 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen knapp zwei Millionen verhungert, erfroren, erschossen waren, kam der Rest nach Deutschland in die Bergwerke und Rüstungsfabriken. Innerhalb eines Vierteljahres waren 47 Prozent verhungert oder an Fleckfieber gestorben. Daraufhin beschloss man auf Drängen der Wirtschaft die Deportation von Zivilisten aus der Sowjetunion. Man begann mit den Jugendlichen. 10.000 – 20.000 pro Woche brachte die Reichsbahn nach Deutschland. Ab 1943 – nach Stalingrad hatte der Rückmarsch der deutschen Armee eingesetzt – folgte die Deportation der vor den Kampfhandlungen flüchtenden Zivilbevölkerung. Letztlich hat man ganze Dörfer mit alten Leuten, Frauen und Kindern in die Sklaverei getrieben. 1944 waren es insgesamt 2,2 Millionen Menschen – die über 700.000 Kinder nicht mitgezählt -, die meist unter barbarischen Bedingungen in Deutschland schuften mussten.

Die 2. Prinz-Brücke über den Kanal und nördlich davon das Lager Waldfrieden (1943; Foto: Hiltruper Museum, Bearbeitung: Henning Klare)

Die 2. Prinz-Brücke über den Kanal und nördlich davon das Lager Waldfrieden (1943; Foto: Hiltruper Museum, Bearbeitung: Henning Klare)

Aufgrund der Reichsplanung zum Einsatz von “Fremdarbeitern” errichtete die Stadt Münster zu Kriegsbeginn das Lager Mecklenbeck an der Weseler Straße für 800 Menschen, bei Kriegsbeginn zunächst mit deutschen Soldaten belegt. An der Grenze zu Angelmodde in Gremmendorf entstand ein Barackenlager für 600 Menschen und im Jahr 1940 im Hiltruper Stadtbusch [1890: „Stadts Busch“; das Grundstück war seit 1562 Eigentum der Stadt Münster] das Lager “Waldfrieden” mit 8 Wohnbaracken für 480 Menschen. Die Baracken hatten je drei Räume und Wasseranschluss, aber keine Kanalisation. Gleichfalls im Wald lagen massive Erdbunker, die allerdings nur für das deutsche Personal bestimmt waren. Allerdings gewährte man gegen Ende des Krieges wohl auch den Lagerinsassen darin Schutz. Eine alte Flurkarte des Landkreises ohne Bebauung des “Herrenbrock” wurde am 11. 2. 1940 “außer Gebrauch gesetzt”. Es ist anzunehmen, dass sich das Gelände in städtischem Besitz befand. Von 1940 bis 1945 wurden alle drei Lager in Zusammenarbeit mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) – eine NS-Massenorganisation für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber – mit ausländischen Arbeitskräften belegt.

[Anmerkung zu dem zynisch-euphemistischen Namen „Waldfrieden“: Die Bau-Organisation der Deutschen Arbeitsfront betrieb eine strikte Rationalisierung und Typisierung des Wohnungsbaus. Es ist anzunehmen, dass dies auch beim Bau der Baracken für die zahlreichen Lager geschah. Zumindest in Mecklenburg-Vorpommern existierte ein weiteres Lager Waldfrieden – möglicherweise waren auch die Bezeichnungen der Lager standardisiert.]

Die mit der Besetzung Norwegens, Dänemarks, der Benelux-Länder ins Reich verpflichteten zivilen Kontraktarbeiter wurden im gesamten Stadtgebiet Münster, auch über die DAF-Lager zum Arbeitseinsatz gebracht. Ihnen folgten dann in großer Zahl französische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter. Auch Großfirmen wie die Flugzeugfabrik Hansen am Dahlweg und Winkhaus erhielten sogenannte “Fremdarbeiter”, für die Barackenlager errichtet worden waren.

Hiltrup, damals zum Landkreis gehörend, war ein stark industrialisiertes Dorf mit Bedeutung für die Kriegswirtschaft. Gleichzeitig hatten sich NS-Funktionäre dort etabliert, die im Dorf und in den Wirtschaftsbetrieben versuchten, den Ton anzugeben. Neben den Parteifunktionären der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) hatte sich vor allem die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in Hiltrup angesiedelt. Sie unterhielt ein Zentrallager Kleidung für Zwangsarbeiter für den Gau Westfalen-Nord und 1943 die “Bauhilfe der DAF für den sozialen Wohnungsbau” mit dem Betrieb des Bauhofes Westfalen-Nord. Letzterer wurde 1943 zum Lager Mecklenbeck verlegt. Von Hiltrup kamen Aufseherinnen für das große Entbindungslager für Ostarbeiterinnen und Polinnen in Waltrop Kreis Recklinghausen. Auch die Organisation Todt (OT), eine NS-Bauorganisation, die vor allem Militäranlagen errichtete, ließ sich während des Krieges auch in Hiltrup nieder. Ihr Einsatzleiter hatte sein Büro beim NS-Bürgermeister Elfering. Die OT war berüchtigt für ihren menschenverachtenden Umgang mit ihren Arbeitskräften. Gegen Ende des Krieges ließ sie wohl zwei Doppelreihen von primitiven Hütten in einer Aussandung der Hohen Ward errichten, wie zwei Hiltruper Zeugen beschreiben. Das Lager war, wie alle OT-Lager, bewacht. Vermutlich waren die Lagerinsassen bei Instandsetzungsarbeiten der Reichsbahn eingesetzt.

Im November 1944 transportierte die deutsche Besatzungsmacht in der Razzia von Rotterdam ungefähr 50.000 niederländische Männer aus Rotterdam zwangsweise zum Arbeitseinsatz in den Osten der Niederlande und nach Deutschland ab. Einige von ihnen waren Anfang 1945 auch in Hiltrup eingesetzt, sie arbeiteten an der Reichsbahn.

“Glasurit” und die Hiltruper Röhrenwerke (Hoesch) waren die beiden größten Unternehmen und bekamen auch die meisten Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter zugewiesen. Glasurit stellte Tarnfarben her, die Röhrenwerke produzierten Rohre für Geschütze. Bei Glasurit arbeiteten vor allem Franzosen, die nach Aussagen von Zeitzeugen in der Gaststätte Ötte Vogt Quartier hatten.

Hoesch-Röhrenwerk Hiltrup: Gemeinschaftslager für Zwangsarbeiter (Zeichnung: frühere Zwangsarbeiterin Alexandra Teslenko; um 1944)

Hoesch-Röhrenwerk Hiltrup: Gemeinschaftslager für Zwangsarbeiter (Zeichnung: frühere Zwangsarbeiterin Alexandra Teslenko; um 1944)

Auf dem Werksgelände der Hiltruper Röhrenwerke befand sich ein großes Gemeinschaftslager, mehrfach genannt unter Industriestraße 4 (heute Nobelstraße).

Hoesch-"Gemeinschaftslager" (21.3.1945; Foto: USA Defense Department; Bearbeitung: Henning Klare)

Hoesch-"Gemeinschaftslager" (21.3.1945; Foto: USA Defense Department; Bearbeitung: Henning Klare)

Ende 1940 sollen 45 französische Zivilarbeiter für die Röhrenwerke in das Lager “Waldfrieden” eingewiesen worden sein. Wegen des schlechten Essens aus der Lagerküche sollen sie mit Arbeitsniederlegung gedroht haben. Der Bürgermeister [nach anderer Quelle: die Firmenleitung des Röhrenwerks] suchte daraufhin Frau Rabe, Besitzerin der ehemaligen Kanalbaukantine, später “Haus Sonnenborn”, auf und teilte ihr mit, sie habe diese Franzosen aufzunehmen und für sie zu kochen. Ihr Mann war bereits eingezogen, sie mit den Kindern allein. Sie hat dann für die mehrheitlich aus der Normandie stammenden Bauernsöhne gekocht. Zwei Tage vor Einmarsch der Alliierten haben sie sich nach einem Luftangriff auf Hiltrup abgesetzt. Frau Rabe wurde dann von Polen aus dem OT-Lager in der Hohen Ward überfallen, die Schnaps haben wollten.

Mit dem Fall Stalingrads am 1. Februar 1943 vollzog sich die Wende im Zweiten Weltkrieg. Die deutschen Truppen befanden sich an der Ostfront auf dem Rückzug. Umso brutaler reagierten die Partei- und SS-Führer. Reichskommissar Koch und Himmler verfügten ab April 1943 “eine große konzentrierte Bandenbekämpfungsaktion in den Nordgebieten (der Sowjetunion) mit dem Ziel der völligen Evakuierung der Bevölkerung und restlosen Erfassung aller Arbeitskräfte für das Reich.” Daneben blieb der Barbarossabefehl bestehen, nach dem alle Dörfer, aus denen nur der geringste Widerstand kam, mit allen Bewohnern niedergebrannt wurden. Ein Viertel der weißrussischen Bevölkerung wurde so vernichtet.

Und Iwan Putschinski, der uns in Münster besuchte, verlor so die Eltern und den jüngsten Bruder und sein Heimatdorf. Mit zehn Jahren wurde er nach Münster deportiert und kam in das Lager “Waldfrieden”, wo er so schrecklich hungerte, weil er als Kind nur die Hälfte der Erwachsenen-Hungerration erhielt: 1/2 Liter Steckrübensuppe und 1 Scheibe Russenbrot, aus Roggenschrot und Baumrinde gebacken. In Abmachung mit dem Lagerkommandanten ließ er sich zwei Jahre älter machen, damit er die doppelte Menge erhielt. Allerdings musste er dann auch 12 Stunden täglich arbeiten. Mit 13 Jahren kehrte er 1945 heim und musste bei einem Bauern seinen Unterhalt verdienen. So blieb er Analphabet.

Im Rahmen eines umfangreichen Schriftwechsels mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus Russland und der Ukraine berichteten sieben damalige Kinder und Minderjährige, die damals allein oder mit Angehörigen in Hiltrup waren. Alexandra Pawlowna T. kam mit 15 Jahren in die Hiltruper Röhrenwerke, Iwan Putschinski mit 10 Jahren und zwei Brüder in das Lager “Waldfrieden”, ebenso Nikolai Karpow mit der Großmutter, Nadeshda Jegorowna A. mit Vater, Mutter und Schwester, Valentina Fjodorovna St. mit Vater, Nina L. mit Mutter und Schwester und Nadeshda Wladimirowna M. mit Vater, Mutter, Bruder und zwei Schwestern.

Im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen hat sich eine Liste der in Hiltrup beschäftigten Ausländer erhalten, die vom Landkreis Münster am 21.2.1949 der britischen Militärverwaltung übergeben wurde. Sie enthält die Namen von 351 ausländischen Arbeitskräften, ist aber bezüglich Glasurit unvollständig, da sie nur 10 Namen nennt. Es fehlen die französischen Namen gänzlich, außerdem waren mehr Polen und Sowjetrussen beschäftigt. Die Liste nennt für die Hiltruper Röhrenwerke 181 ausländische Arbeitskräfte, 118 Männer und 63 Frauen. Alle anderen ausländischen Arbeitskräfte verteilten sich im gesamten Dorf bei Landwirten, Handwerksbetrieben und in Privathaushalten: Russen, Ukrainer, Polen, Franzosen, Niederländer, Italiener, Jugoslawen, Staatenlose und Belgier, unter ihnen ein Kind. “Europa im Reichseinsatz” hieß es großspurig bei den Nazis. Nach den standesamtlichen Eintragungen wurden von Frauen aus den Hiltruper Röhrenwerken 4 “Russenkinder” geboren.

Die Arbeitsverhältnisse in den Hiltruper Röhrenwerken, die zu Hoesch gehörten, waren durch den Werksleiter Schorr, einen fanatischen Nazi, für die Ausländer lebensgefährlich. Er hortete Waffen, schlug Russen und Polen, lieferte sie an die Gestapo, so dass nachweislich zwei Polen umgebracht wurden, wohl auch ein Franzose, dessen Flugzeug abgeschossen wurde und der sich mit dem Fallschirm retten wollte. Er wurde von diesem Werksleiter beschossen – gegen jedes Völkerrecht – und ist wohl gestorben. Dieser Werksleiter wurde aufgrund von Anzeigen aus dem Werk von den Alliierten verhaftet und landete in Warschau in Haft. Nach vier Jahren wurde er entlassen und arbeitete dann wieder im Werk. Die Aussagen gegenüber den alliierten Gerichten liegen vor, ebenso die von Kollegen und dem Firmendirektor. Sie machen das verbrecherische Tun deutlich.

Ehemalige Lagerkommandantur des Lagers Waldfrieden in Hiltrup (1965)

Ehemalige Lagerkommandantur des Lagers Waldfrieden in Hiltrup (1965)

Das Lager “Waldfrieden” wird in der Meldung des Landkreises im Jahre 1949 überhaupt nicht erwähnt. Es galt wohl als “städtisch” und wurde deshalb nicht genannt. Wie verhielt es sich mit diesem Lager, von dem heute nur noch die drei alten Erdbunker im Wald, eine alte Karte, ein Foto von der Lagerführerbaracke erhalten sind und von dem die ehemaligen Zwangsarbeiterkinder in Briefen und bei ihren Besuchen berichteten und vor allem Nikolai Karpow in seiner Erzählung “Der kleine Ostarbeiter” (Ardey Verlag Münster/Buchhandel) schreibt.

Französische Zwangsarbeiter vor der Rückfahrt in ihr Hiltruper Lager (Mai/Juni 1943; Foto: Stadtarchiv Münster, Pg. Wiemers)

Französische Zwangsarbeiter vor der Rückfahrt in ihr Hiltruper Lager (Mai/Juni 1943; Foto: Stadtarchiv Münster, Pg. Wiemers)
Im Stadtarchiv Münster befindet sich ein Mietvertrag der Stadt Münster mit der “Bauhilfe der DAF für den sozialen Wohnungsbau” für das Jahr 1943 zur Unterbringung einer französischen Dachdeckerkompanie, die sich dann bis zum 31.8.1943 im Lager befand. In der Kriegschronik des früheren Stadtarchivars Wiemers (Stadtarchiv) befindet sich das Foto: Handwerker vor der Rückfahrt ins Handwerkerlager Hiltrup. Dem Mietvertrag lag ein Plan des Lagers vom 26.8.1941 bei. Danach bestand das Lager 1943 aus:
  • 1 Führerbaracke
  • 8 Mannschaftsbaracken
  • 1 Gemeinschaftsanlage mit Kücheneinrichtung, Kantine und Gemeinschaftsraum
  • 1 Abort- und Waschbaracke mit Duschanlage, Wäschetrockenraum und Heizungsanlage
  • 1 Waschbaracke
  • 1 Kohlenschuppen mit Stallung
  • 3 Luftschutzsplittergräben
  • 1 Lebensmittelbunker

Die vierteljährliche Miete betrug 11.175 RM. Bereits am 12. Mai 1943 verwies die Bauhilfe darauf, dass das Lager weiterhin als Durchgangslager “für die uns zu überweisenden Ostarbeiter erforderlich ist.”

Für die DAF-Lager Gremmendorf und “Waldfrieden” werden gern die deutschen Nachkriegsangaben gegenüber belgischen Ermittlern angeführt, die Lager seien offene Wohnlager ohne Bewachung gewesen. Das mag für die Anfangsjahre zutreffen. Spätestens im Spätsommer 1943 wurden beide Lager mit Stacheldraht hoch umzäunt, den die damals aus der Sowjetunion ankommenden Kinder als “noch nicht rostig” und “neu” in Erinnerung haben. Ebenso gab es in beiden Lagern bewaffnete Wachmänner, von denen auch Anwohner berichten, denen allein die Bunker zur Verfügung standen.

Die dann im Laufe des Jahres 1943 in großer Zahl eintreffenden Zivilisten aus der Sowjetunion kamen in Münster vor allem in die Reichsbahnlager und in die beiden DAF-Lager Mecklenbeck und Gremmendorf.

Jevgenij Viktorowitsch P., Jahrgang 1930, beschreibt seine Ankunft in Münster: “Es war später, dunkler Abend. Man stellte uns in Reih und Glied in einer großen Kolonne auf und führte uns (die Wachmannschaft war bewaffnet) in die Vorstadt. Ich weiß noch, dass der Weg asphaltiert war. Wir gingen etwa drei bis vier Kilometer bis zum Lager Mecklenbeck, in dem Baracken und auch Bunker standen. Zu essen gab es ein kleines Stückchen Brot und gekochte Steckrüben. Mutter verzichtete auf ihr Brot und gab es mir. Dann begann unsere Arbeit.”

Nikolai Karpow schildert seine Ankunft in Münster: “Den Bestimmungsort erreichten wir lange vor Tagesanbruch. Die Begleitsoldaten befahlen uns, mit unseren Sachen auszusteigen und uns auf keinen Fall von unseren Ältesten zu entfernen. Unter unseren Füßen war sauberer, kalter Asphalt. Es begann hell zu werden, durch den Morgennebel waren die Umrisse nahestehender fremdartiger Häuser zu sehen. An jedem Waggon fuhr ein Lastwagen mit Anhänger vor; wir mussten aufsteigen und wurden, wie uns mit Hilfe einer Dolmetscherin erklärt wurde, in ein Lager bei Gremmendorf gebracht.

Das Lager, in das wir kamen, war von Stacheldraht umgeben; der Draht war neu, vom Regen und Nebel noch nicht rostig geworden. Zum Tor führte eine asphaltierte Straße, aber auf dem Gelände des Lagers waren die Wege mit Schlacke ausgefüllt, die unter den Füßen knirschte. Vor dem Gebäude, in dem die Kommandantur untergebracht war, gab es eine Art Platz, auf dem man uns antreten ließ, um uns die Ordnung des Lagerlebens zu erklären. Es sprach der Kommandant – ein kleiner dunkelhaariger Mann mit einer Prothese an Stelle der rechten Hand. Unsere Dolmetscherin Tonja übersetzte. In der Rede des Kommandanten kam am häufigsten das Wort “verboten” vor, das wir schon von der Besatzung her kannten. Die Leute, die vom Hunger auf der Reise und nach einer schlaflosen Nacht erschöpft waren, hörten fast nicht zu und warteten ergeben darauf, dass der Kommandant zu reden aufhöre und man uns auf die Baracken verteilte.

In den dunkelgrün gestrichenen Baracken mit weißen Fensterrahmen gab es jeweils drei Räume, und in jedem davon wurden zwanzig Personen untergebracht. In den Räumen standen zweistöckige Pritschen an den Wänden und ein großer, aus einem Benzinkanister gebauter Ofen. Auf den Pritschen lagen Strohsäcke, mit Stroh gestopfte Kissen und dünne Baumwolldecken. Großmutter und ich erhielten die Pritschen direkt an der Tür. Wir legten unsere Sachen ab und saßen lange da, ohne uns zu rühren, dann streckten wir uns aus und lagen dort bis zum Abend. Gegen sieben Uhr kam die Dolmetscherin in die Baracke und erklärte, dass wir mit unseren aus Pappe angefertigten Nummern in die Küche gehen könnten, um dort die Verpflegung für einen Tag in Empfang zu nehmen.” (aus: Der kleine Ostarbeiter)

Etliche Familien wurden dann im Herbst 1943 aus den Lagern Mecklenbeck und Gremmendorf u.a. in das Lager “Waldfrieden” verlegt, vermutlich, um für die bis 1944 nachweisbar ankommenden Transporte insbesondere aus dem Norden Russlands Platz zu machen.

Das Lager “Waldfrieden” war, wie ein damaliger Baulehrling, der am Aufbau der Lager eingesetzt war, berichtete, von derselben Baufirma aus Gremmendorf errichtet worden, die auch das Gremmendorfer Lager gebaut hatte, dort allerdings mit festen Betonfundamenten, wie man an der Birkenheide in Gremmendorf, der ehemaligen Lagerstraße, noch sehen kann. Nach dem Krieg haben einige ihre Häuser drauf gebaut. Die Baracken waren hier wie dort grün gestrichen und bestanden aus drei Räumen. Meist waren zwanzig Menschen in einen Raum gepfercht, Familien mit Kindern und Einzelpersonen, so daß von 60 bis 70 Menschen in einer Baracke ausgegangen werden muß.

Nadeshda Wladimirovna M., die 1943 als Elfjährige nach Hiltrup kam schreibt: “Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt, das eiserne Tor war hoch. Links war die Küche, wo für uns das Essen gekocht wurde; geradeaus – die Blumenbeete und der Platz, auf dem wir uns morgens und abends aufstellen mussten. In der Baracke Nr. 1 Zimmer 2 wohnte ich mit meiner Familie: Die Mutter, der Vater, zwei Schwester, mein Bruder und ich, die Kleinste. Das Zimmer war groß, da wohnten mehrere Familien und mehrere Alleinstehende. Aber ich erinnere mich nicht, dass es Streit gab. Es wurde nicht viel erzählt, und gelacht wurde auch nicht.

Nikolai Karpow, der als Zwölfjähriger zwischendurch, wie mehrere andere Jungen, in einer Gaststätte – in der Zoogaststätte – arbeiten musste, erfuhr, dass die Großmutter von Gremmendorf nach Hiltrup verlegt worden sei. Er fuhr von der zentralen Arbeitsvermittlung am Hörster Platz mit einem Lastwagen nach Hiltrup. „Ich erblickte das Tor mit dem Schilderhäuschen und dem Posten. Der Lastwagen fuhr auf das Lagergelände, wir stiegen herunter, und ich machte mich auf die Suche nach Großmutter. Ich betrat den ersten Raum der ersten Baracke und begegnete zufällig der Dolmetscherin Tonja, die mit ihrer hochbetagten Mutter und ihrem Mann, einem ehemaligen Polizisten, zusammen ein Zimmer bewohnte, in dem im Lager sonst zwanzig Menschen zusammengepfercht leben mussten.” … “Ich fand Großmutter in der Baracke 3. Mein Platz war auch hier erhalten geblieben, und wieder schliefen Großmutter und ich in der Nähe der Tür, doch diesmal nicht weit vom Kanonenofen.” … “Hinter dem Zaun unserer Baracke floss ein winziger trüber Bach, der irgendwo außerhalb des Lagers in den großen Kanal mündete.” In einem Telefonat bestätigte Nikolai Karpow, dass alle 8 Baracken von Ostarbeitern belegt gewesen seien.

Im Gegensatz zum brutalen, gewalttätigen Lagerführer in Gremmendorf schildert Nikolai Karpow den Lagerführer in “Waldfrieden” als gutmütigen Mann, der Kranke nicht zur Arbeit trieb und schlug, niemanden anschrie. Schwächliche Frauen und Mädchen mussten in der Küche helfen, die ja wohl auch für die Lagerinsassen der Hiltruper Röhrenwerke kochte. Mit der Belegung durch sog. Ostarbeiter wurde das umzäunte Lager durch Wachmänner bewacht.

Die meisten Lagerinsassen wurden jeden Morgen von Gremmendorf wie Hiltrup mit Lastwagen oder Trecker mit Anhänger nach Münster gefahren. Dort befand sich auf dem Hörster Platz eine Art Wohnwagen, die Arbeitsbörse, wo Deutsche ihren “Bedarf” anmeldeten. Die “Fremdarbeiter” – vornehmlich sowjetrussische Männer, Frauen und Kinder ab 12 Jahre versammelten sich auf der Wiese an der Fürstenbergstraße, von wo sie von ihren “Arbeitsherren” mitgenommen wurden. Meist mussten sie Trümmerschutt wegräumen. Um 18 Uhr mussten sie wieder abgeliefert werden. Dann fuhr man sie in die Lager zurück. Zu Essen bekamen sie nur einmal täglich am Abend: Suppe aus Steckrüben und Mohrrüben und zwei Scheiben “Russenbrot”.

Der Hunger war vor allem für die Kinder die größte Qual. Deshalb ließ sich der kleine Iwan älter machen. Als wir am ersten Abend des Besuches von Nikolai Karpow einige Schritte vom Kiepenkerl in Richtung Lambertikirche gingen, blieb er plötzlich stehen, zeigte auf den Alten Steinweg und sagte: “Da haben wir Trümmer geräumt, und in die Kirche” – er zeigte auf Lamberti – “bin ich mittags immer gegangen, um zu beten, weil ich so einen Hunger hatte.”

Zum Lagerleben schreibt Nikolai Karpow: “Feuchter, schwerer Schnee weckt in mir immer die Erinnerung an die milden und nassen Winter in Deutschland. Oft denke ich an einen Sonntag im Lager, an dem uns kein für den Verkauf fertig gestelltes Spielzeug zur Verfügung stand und Großmutter und ich bei dem trüben Licht des erwachenden Tages auf der Pritsche saßen und die auf dem kleinen Ofen gewärmte Suppe aßen. Danach legten wir uns wieder auf die Strohmatratzen. Wir lagen, jeder hing seinen Gedanken nach. Die anderen achtzehn Leute aus unserem Raum verbrachten den Sonntag ganz ähnlich. Einige konnten sich nicht beherrschen, verschlangen die ganze Ration auf einmal, starrten dann mit gierigen Augen die an, die sich das Essen einteilten, und hätten am liebsten zu betteln begonnen. Alle erwarteten sehnsüchtig die Essensausgabe am Abend und gingen bis dahin den gewohnten Arbeiten nach, brachten ihre Kleider in Ordnung, kämmten Läuse aus und wuschen der Reihe nach Wäsche im kalten Wasser in einer Schüssel, die für den ganzen Raum ausreichen musste.” Nikolai sagte, dass sie zwar Wasseranschluss in der Baracke gehabt hätten, aber in jedem Raum nur eine Schüssel. Die Lagerinsassen durften die Duschen und Waschräume nicht benutzen. Sie seien nur einmal in der ganzen Zeit alle gemeinsam mit LKWs nach Recklinghausen gefahren worden, wo sie geduscht und desinfiziert und auch die Kleidung desinfiziert wurden. Für die Lagerinsassen befanden sich in der Mitte des Lagers Latrinen.

Die Zwangsarbeiter waren mehr noch als die Deutschen den Schrecken und Bedrohungen des Bombenkriegs ausgesetzt, weil sie nur selten in Bunkern Schutz suchen durften. Allerdings befanden sich im Franziskusbunker 1944 im Eingangsbereich “Fremdarbeiter”, Männer, Frauen und Kinder. Eine damals Fünfzehnjährige, die in einem Friseurgeschäft helfen musste, schrieb, dass ihre Chefin sie in den Schützenhofbunker mitgenommen hätte. Nadeshda M. berichtet für “Waldfrieden”: “Im Sommer 1944 wurden Münster und Hiltrup stark bombardiert. Ich und noch einige Menschen waren an dem Tag im Lager: Rauch, Staub, Explosionen – und wir saßen an die Tür des Bunkers gelehnt – der Wachmann hat die Tür nicht geöffnet. Aber das Schrecklichste kam später, als am Abend die Zwangsarbeiter aus Münster gebracht wurden. Es hatte Tote und Verwundete gegeben. Auch meine Schwester wurde verwundet. An dem Tag sind auch viele Deutsche und Kriegsgefangene umgekommen. Erst als sich in den letzten Kriegstagen das gesamte Lagerpersonal in Hiltrup abgesetzt hatte, konnten die sowjetrussischen Lagerinsassen während der Kämpfe an der Kanalbrücke in den Erdbunkern Schutz suchen.

[Anmerkung: Laut Münstersche Zeitung vom Mai 1982 fielen am 25. 10.1944 allein 200 Bomben in die Hiltruper Grafschaft, dabei wurden etwa 100 Ausländer getötet.]

Hiltrup am 21.3.1945 (Foto: USA Department of Defense; Bearbeitung: Henning Klare)

Hiltrup am 21.3.1945 (Foto: USA Department of Defense; Bearbeitung: Henning Klare)

Die Hiltruper haben das “Russenlager” im Herrenbrock wahrgenommen. Die Kindergefangenen hatten den Kriegsgefangenen das gebastelte Spielzeug abgeguckt, bauten selbst Holzflugzeuge und tauschten sie gegen Essbares ein. Manche Männer seien geschickt beim Besohlen der Schuhe gewesen. Mehrheitlich aber hielt sich die Bevölkerung entsprechend den Nazibestimmungen zurück. Nadeshda M. berichtet jedoch: “Die auf dem Lagerplatz gebliebenen Arbeiter wurden von Privatleuten abgeholt. Meinen Bruder nahm eine deutsche Frau zu sich. Er bat die Frau, auch mich mitzunehmen. Als wir zu der Frau kamen, stellte sich heraus, dass sie keine Arbeiter brauchte, sie nutzte nur die Gelegenheit, uns zu essen zu geben und gab uns die Möglichkeit, uns von dem Lagerleben zu erholen. Und dieser Tag war herrlich lustig und sonnig.
Ich erinnere mich noch: In dem Wald hinter dem Lager baute man Häuser für die Deutschen. Das haben die russischen Zwangsarbeiter gebaut. Da waren auch meine Mutter und ich beteiligt. Der Bauleiter war sehr streng, aber die Leute gingen gerne zu ihm arbeiten, nicht weil die Baustelle in der Nähe war, sondern weil er den Arbeitern Mittagessen gegeben hat. Er war ein MENSCH !”

Seit dem 3. April hatten Jungen des Lagers Amerikaner durch Hiltrup fahren sehen. Die Deutschen hatten längst das Lager verlassen und die Insassen sich selbst überlassen. Die alliierten Soldaten jedoch hatten das Lager noch nicht wahrgenommen. Inzwischen hatte Nikolai am Bahnhof einen offenen Waggon mit Fleisch entdeckt und alle liefen hin, um sich große Teile zu holen. Sie kochten und brieten es – und manch einer bekam fürchterliche Bauchschmerzen, weil er das Fleisch nicht mehr vertrug. Nikolai wurde von seiner Großmutter ermahnt, alles ganz langsam zu kauen und nur kleine Bissen zu nehmen.

Nach kurzer Zeit wurden sie alle in die nun verlassene Luftwaffenkaserne (heutige York-Kaserne) am Albersloher Weg verlegt, wo die Amerikaner alle Familien, die Frauen und Kinder sammelten, versorgten, kleideten und für die Kinder eine Schule einrichteten, denn die Nazis hatten ja für die Sklavenkinder keine Schulen vorgesehen. Manche glaubten den Versprechungen der sowjetischen Offiziere nicht und wanderten lieber in andere europäische Länder oder in die USA aus. Im August 1945 begann dann die Repatriierung in die Sowjetunion. Doch zuvor mussten alle durch die Filtrationslager in der sowjetische besetzten Zone, wo sie vom NKWD verhört wurden.

Die meisten Männer, ob Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter, auch viele Frauen, die in der Rüstung arbeiten mussten, fuhren in den Zügen gleich weiter in die Gulags, denn Stalin hatte alle, die in deutsche Hände gefallen waren, zu” Verrätern des Vaterlandes” erklärt. Den Jugendlichen wurde ein Studium verboten. Valentina, die in Münster geboren wurde, musste sich in ihrem Studium in jedem Semester rechtfertigen, weil sie den Geburtsort Münster hatte. Die meisten Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen kamen 1945 vom Regen in die Traufe. Sie litten in zwei totalitären Regimen. Erst unter Gorbatschow wurden sie rehabilitiert. Da waren die meisten schon nach einem elenden Leben gestorben.

(Text: Dr. Gisela Schwarze, Historikerin, Münster)

Werner Lindemann und Dr. Gisela Schwarze:

Im Jahr 1999 nahmen Werner Lindemann und Dr. Gisela Schwarze Kontakt zu Menschen in Belarus auf, die während des II. Weltkriegs im Hiltruper Lager „Waldfrieden“ festgehalten worden waren und Zwangsarbeit leisten mussten. Hier einige Ausschnitte aus den Antwortschreiben (Dr. Gisela Schwarze, Wir waren gefangen in Münster, Autobiografische Berichte von ZwangsarbeiterInnen, ohne Ort 1999):

1) Genja Antonowna Jadoroznaja, geboren 2.10.24

Guten Tag, sehr geehrte Olga Alexandrowna!

Es schreibt an Sie ein ehemaliger Häftling Sadoroznaja Genja Autonouna. Ich lebe alleine. Mein Mann, auch ein ehemaliger Häftling, ist am 03.08.1999 verstorben. Meine Rente ist nicht hoch – ich bekomme 11 Min. Rbl., bin schon 75. Habe ein kleines Häuschen. Bekomme keine Hilfe. Auch keine Vergünstigungen. Aus der Rente muß ich den Strom und Gas bezahlen, auch das Brennholz, dazu kommt auch das Geld für das Pachten vom Grundstück. Bin sehr oft krank, in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Als Beilage schicke ich Ihnen eine Bescheinigung über meinen gesundheitlichen Zustand.

Als 1941 der Krieg ausbrach, hat man in unserem Dorf eine unterstützende Wirtschaftseinheit organisiert. Ein Deutscher wurde zu uns geschickt, um die Führung der Wirtschaft (Vieh, Obst-, Gartenanlagen) zu übernehmen. Ich erinnere mich noch an seinen Namen – Plätner. Er brachte einen Russen mit. Der Russe arbeitete mit Plätner zusammen. Wir haben auch in diesen Wirtschaftseinrichtungen gearbeitet.

1943, nach der Ernte, brachten wir die in den Speicher. Der vom Plätner mitgebrachte Russe tötete den Plätner und legte Feuer im Speicher an. Am nächsten Morgen kamen die Deutschen, jagten alle Einwohner des Dorfes zur Brandstätte, nackt oder barfuß, so wie es gerade kam, zum Erschießen. Der Dorfälteste mit einem deutschen Offizier zusammen fragten uns, wer den Mord begangen hat. Aber wir kannten den Russen nicht, das war ja ein Fremder aus einem anderen Dorf. Der Offizier sagte, daß er an Hitler telegraphieren wird und ihn fragen wird, was mit uns weiter zu machen sei. Die Erschießung hat man durch Verbannung nach Deutschland ersetzt. Am Abend verfrachtete man uns in die Waggons. Zu der Zeit war ich schwanger. Wie ich beim Transport gelitten habe! Als wir nach Deutschland kamen, setzten die Wehen ein. Man brachte mich aus dem Waggon und führte mich in eine Baracke. Da, in der Ecke, brachte ich meinen Sohn zur Welt. Ein fremder alter Mann übernahm die Hebammenrolle. Wir hatten gar nichts, um das Kind vor der Kälte zu schützen. Mein Mann zog sein Hemd aus und wickelte das Kind ein. Zwei Stunden später brachte man uns wieder zum Zug und wir fuhren weiter. Nachdem wir zwei Stationen passierten, hielt der Zug an. Ich bat einen Mann, mir eine Munitionskiste zu besorgen und ein wenig Wasser, ich wollte den Jungen im Zug waschen. Der weinte schon. Eine Russin erschien am Waggon, mit ihrer deutschen Wirtin. Die Deutsche wollte meinen Sohn kaufen, weil sie kinderlos war. Die hat den Wächter (Aufseher Schütze) um Erlaubnis gebeten, das Kind an sich nehmen zu dürfen und es zu baden. Aber lange hatte sie es nicht in den Armen gehabt. Ich weinte und kletterte über die Absperrung, um meinen Sohn zu holen und der Aufseher Schütze wollte mich erschießen. Erst dann haben sie mir den Sohn zurückgegeben.

Und wir fuhren weiter, nach Münster, wurden da ins Lager gebracht, das außerhalb der Stadt im Walde lag. Man hat uns in die Baracken einquartiert. Unser Chef hieß Müller. Wir wurden täglich von Landwirten (Bauern ist gemeint) abgeholt und mit Arbeit versorgt. Ich habe auch mit allen einen ganzen Monat lang gearbeitet, obwohl ich einen Säugling hatte. Dann ließ man mich im Lager arbeiten, das war die wahre Hölle. 2x täglich bekamen wir was zu essen. Wir aßen Steckrüben mit Spinat, dazu zerkleinertes Getreide. Brot…, heute noch weiß ich nicht, was für „Brot“ das war. Wir bekamen 1 kleines Laib für 5 Personen. In den Baracken war es kalt. Mein Sohn bekam pro Tag nur ein kleines Tässchen Milch. Wie wir es geschafft haben, kann ich mir bis heute nicht erklären, hungrig und nackt waren wir. Für’s Baby hatte ich auch nichts – keinen Fetzen um es einzuwickeln. Meine Suppenration teilte ich mit dem Kind. Die Kartoffeln löffelte ich raus und pürierte die in Milch, das kriegte er dann. Mein Söhnchen war Haut und Knochen. Ich selber war sehr geschwächt, konnte nicht bis zur Küche gehen, fiel immer wieder um. Wie überlebten wir nur, wieviel Leid wir ertragen haben!

Natürlich kann ich mich jetzt nicht mehr an alles erinnern, weil es so viele Jahre zurückliegt. Schon am Ende des Krieges befreiten uns die Amerikaner. Wenn nicht der Lagerchef gewesen wäre, würde man uns alle erschossen haben. Er versteckte uns im Bunker und blieb bei uns. Ich weiß nicht, warum er das gemacht hat. Vielleicht lag es daran, daß auch deutsche Familien sich bei uns versteckten. Am frühen Morgen kamen die Amerikaner und warnten uns vor dem Rausgehen. Im Freien könnten die besiegten Deutschen uns erschießen, sagten sie. Ich war sehr schwach und wurde sofort ins Spital gebracht. Ich wog ganze 46 kg. Zwei Monate behielten sie mich da, weil der Arzt sagte, daß ich sonst nicht den Weg nach Hause schaffe. Und dann kam ein Oberst aus Moskau, der hieß Asapov. Der sollte für unsere Heimkehr sorgen. Mein Söhnchen, das in Deutschland zur Welt kam, Sadoroznij Walerij Nikolaewich, starb am 20.07.1986. Er wurde in Minsk bestattet. Er hinterließ 2 Söhne – Wladimir und Igor und seine Witwe, die die Söhne allein großzog. Ich kann auch weiter erzählen, da gibt es noch vieles, aber das Gedächtnis läßt nach und die Gesundheit – die habe ich nicht mehr.

Ich habe noch drei Kinder, die sind alle ausgezogen.

Das wäre es also. Vielen Dank für Ihren Brief. Danke, daß Sie uns nicht vergessen haben. Wir Kriegsgefangene haben im Krieg so viel Leid ertragen müssen.

Hochachtungsvoll, ehemaliger Häftling – Jadoroznaja Genja Antonowna

2) Alexander Nikolaewitch Kolossowskij, geboren 23.12.26

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich lebe zur Zeit mit meiner alten kranken Frau allein. Das Dorf, wo ich wohne, hat so zu sagen aufgehört zu existieren. Ich und meine alte Frau sind die einzigen Einwohner. Rund herum ist nur Unkraut, telefonische Verbindung gibt es nicht, ich habe auch keine Mittel, sie einrichten zu können. Das selbe hat auch unsere „Dorfhaupt“ gesagt: „Es wäre zu teuer für dich, ein Telefon einzurichten und es ist auch unmöglich.“ So lebe ich in 4 km Entfernung vom nächsten Dorf. Leben tue ich wie auf einem Pulverfaß – die Lebensbedingungen sind unmenschlich. In solchen Lebenszuständen kann man nur dahinvegetieren.

Wie meine Erinnerungen über die Kriegszeiten sind? Gute, teuere Erinnerungen hatte ich überhaupt nicht. Im Lager herrschten unwürdige, unmenschliche Bedingungen, ich möchte mich an die Jahre des Lagerlebens nicht erinnern. Man hat uns ungeheuer schrecklich behandelt. Wir wurden gezwungen, eine Arbeit zu leisten, für die die Kräfte bei weitem nicht ausreichten. Als man uns nach Münster gebracht hat, wurden 18 Personen zur Seite gerufen, es ging anscheinend nach dem Wunsch des Chefs – wie ihm die Person gerade gefiel. Man sollte in die Quarantäne, für eine Woche, da hat man uns allerzeit untersucht, danach hat man uns mit Arbeit versorgt. Ich hatte Pech und sollte beim Aufbau eines Bunkers mitmachen, das heißt, ich sollte 50 kg schwere Zementsäcke tragen. Was weiter kam, will ich nicht sagen, ich kann’s nicht beschreiben, all‘ die Einzelheiten, das will ich nicht. Mein Chef hat mich streng bestraft, aber Deutsche, die auf dem Bau arbeiteten, nahmen mich in Schutz, es gab also auch welche, die ein Gewissen besaßen. Ach, wie soll ich denn weiter erzählen, das kann man gar nicht mit Worten beschreiben, das ist auch eine lange Geschichte, alles was passierte zu schildern, nimmt so viel Zeit in Anspruch. Gerne möchte ich den Münsteranern begegnen, wenn mein Gesundheitszustand das zuläßt – im Moment habe ich eine ganze Palette von Krankheiten.

Auf Wiedersehen sehr geehrte Olga Alexandrovna, verzeihen Sie meine Orthographie. Kolossowskij Alexander Nikolaewitch

3) Weniamin Michajlowitch Rajehjonok, geboren 15.5.27

Sehr geehrter Herr Werner Lindemann!

Ich bin Ihnen für Ihr von Herzen kommendes Mitgefühl uns ehemaligen Kriegsgefangenen gegenüber dankbar. Natürlich haben wir unschuldig gelitten in diesem unverschämten Krieg, der Hilterokkupation von Weißrußland. Das Haus wurde verbrannt, das Vieh nahmen die mit. Wir wurden zur Bahnstation gejagt und von da aus in Viehwaggons (mit verschlossenen Türen) verfrachtet und nach Deutschland gebracht. Es war am 14. Oktober 1943. Von Münster aus hat man uns nach Hiltrup ins Lager gebracht. Wir mußten sofort mit dem Arbeiten anfangen, man trieb uns in die Stadt, um Trümmerarbeiten durchzuführen nach amerikanischen Bombenangriffen. Andere Arbeiten haben wir auch verrichtet. Wir haben Häuser gebaut usw., haben dafür 100 g Brot und einen Teller Suppe mit faulem Gemüse bekommen. Aber ich bin sehr dankbar für alles, was die deutschen Frauen uns getan haben, für ihre Warmherzigkeit, für das Brot und Kartoffeln, so haben wir überlebt und dank ihnen konnte ich nach Hause zurückkehren, in meine Heimat, konnte meine unendlich schönen Heimatlandschaften wiedersehen.

So sind meine Erinnerungen an Deutschland und Münster.

4) M. Kuznecov, geboren 26.1.32

Aus den Erinnerungen eines minderjährigen Gefangenen der faschistischen Sklaverei

Im Laufe der Zeit, ich bin jetzt etwa 70 Jahre alt, läßt das Gedächtnis nach, aber es verschärft sich das Begreifen des Durchlebten, vor allem der Periode der Schreckensjahre des Krieges, der mich meiner Kindheit beraubt hat. Jedoch bei aller Tragik der Tatsache quält mich doch der Gedanke: Was wäre, wenn 1941 nicht das passiert wäre, was passiert ist, wie hätte mein Lebensweg ausgesehen und wäre ich jetzt der, der ich bin – besser oder schlechter?

Im Jahre 1941 schickten mich meine Eltern in das Pionierlager „Drozdy“ (3 km von Minsk), und dort erfaßte mich der Krieg. Als am 22. Juni die Eltern der Kinder unterrichtet wurden, sagte man ihnen, damit sie im Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn nicht in Panik gerieten, daß der Feind bald auf sein Territorium zurückgeschlagen würde, und daß die Kinder, falls erforderlich, organisiert ins Hinterland gebracht würden. Das geschah nicht: Die Kinder wurden nicht weggebracht. Die verbrecherische Nachlässigkeit der Regierung und der Lagerleitung hat uns, mehr als 100 Kinder, schon am sechsten Tag des Krieges (nach Einmarsch der Deutschen) zu Obhutlosen werden lassen, in einem zu Hunger und Kälte verdammten Lager, das ein Kinderheim geworden war. Im Frühjahr 1944 wurden alle, die 12 Jahre und älter waren, gewaltsam und mit Betrug zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. So wurde ich zu einem von sechs kleinen Sklaven in einem Lager hinter Stacheldraht, in dem noch 200 erwachsene Ukrainer, und zur anderen Hälfte Polen, Holländer und andere untergebracht waren.

Ich wurde als Hilfsarbeiter in der Tischlerwerkstatt eines Sägewerks eingesetzt. In unserer Zimmermannsbrigade arbeiteten 4 Polen, 2 kriegsgefangene Franzosen, 3 Jugendliche (13-15 Jahre) aus der Hitlerjugend und ich als der jüngste. Wir fertigten kleine Holzhäuser für Soldaten, die verwundet oder als Invaliden aus dem Krieg zurückkehrten und deren Häuser durch Bombardierung zerstört worden waren. Diese Häuschen wurden in Vorortgebieten aufgestellt. Die Lebensbedingungen zu dieser Zeit waren für mich, wie auch für die anderen Ostarbeiter, überaus schwer. Wecken um 6 Uhr, von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends in der Fabrik. Es gab 30 Minuten Mittagspause, aber in der Fabrik gab es kein organisiertes Mittagessen; alle, außer mir, packten ihre Butterbrote aus, und ich zog mich zurück in den Trockenraum zum Schlafen, oder ich ging mit hungrigem Blick neben der Fabrikleitung auf und ab. Manchmal geschah es, daß mich der ältliche Buchhalter aus seinem Fenster bemerkte und, wenn ich stehenblieb und (mit hungrigem Blick) zusah, wie er sein Mittagessen verzehrte, mich mit seinem Finger heranwinkte, die Außentür ein wenig öffnete, und mir gleichsam verstohlen ein Stück Butterbrot abgab. Es war mir fürchterlich peinlich, auf diese Weise etwas zu erbitten, aber der Hunger war manchmal unerträglich. Dieser ältere Herr, der offensichtlich Mitleid mit mir hatte, war für mich wie ein Sonnenstrahl in der dunklen Welt kräftezehrender Arbeit und Hungers. Wenn wir nach der Arbeit ins Lager zurückkamen, gab es für unser Zimmer mit 8 Leuten einen Topf mit Steckrübensuppe ohne Gewürze, einen Laib Brot für 4, später dann für 6-8 Leute, und ein winziges Stückchen Margarine. Das war Mittag- und Abendessen zugleich; es war ratsam, etwas von der Brotration zum Frühstück aufzubewahren, wozu es noch einen Topf mit Kaffee-Ersatz gab.

Uns Kindern war es gestattet, in der Freizeit das Lager zu verlassen und vor dem Hungertod haben uns die französischen Kriegsgefangenen bewahrt, deren Lager sich einen Kilometer von unserem entfernt befand. Durch den Stacheldraht gaben sie uns von ihren Pellkartoffeln (wir bekamen so etwas nur am Sonntag), ihrem Zwieback, Trockenmilch und Eipulver ab, d.h. jeder soviel er konnte, denn sie bekamen Pakete von Zuhause und vom Roten Kreuz, was den Ostarbeitern verwehrt war. Und sonntags gingen wir noch in die Stadt, um alleinstehenden Frauen zu helfen – wir hackten und stapelten Brennholz für sie, wir räumten den Hof und die umliegenden Grundstücke auf usw. Dafür bekamen wir etwas zu essen. Außerdem gingen wir auf die Abfallhalden des Schlachthofs, sammelten Rinderhufe, flammten sie ab, zerschlugen die Hornschicht und kochten daraus Sülze – das war für uns das köstlichste Mahl. Und so haben wir also den Hunger überlebt.

Es gab menschliche Deutsche, aber wir mußten auch Grausamkeit erfahren. So ließ mich mein Fabrikchef, ein Nazi, der ein Hakenkreuz am Ärmel trug, schwerfällig und alt, oft samstags zur Arbeit auf seinen Hof kommen. Dabei fuhr er von der Fabrik mit dem Fahrrad, und ich lief in meinen Holzsandalen dröhnend über das Pflaster hinterher und erweckte so die Aufmerksamkeit von Passanten und Kindern, die mich manchmal als „Russenschwein“ beschimpften. Es gab bei ihm viel Arbeit, aber eine vollständige Mahlzeit gab es nie, im besten Falle gab mir Frau Alfermann ein kleines Butterbrot. Und als ich einmal im Obstgarten absichtlich ein paar Äpfel vom Baum geschüttelt hatte – Fallobst durfte ich mir nehmen – bin ich vom Chef selbst mit der Peitsche geschlagen worden.

Zum Glück gab es mehr Deutsche, die Mitgefühl und Erbarmen zeigten, als solche, wie mein Faschistenchef einer war. In den letzten Kriegstagen wurden wir bombardiert – offenbar mit betrunkenen Augen und berauscht vom Sieg beschlossen die Amerikaner, das Lager hinter dem Stacheldraht zu bombardieren und zu beschießen; waren sie sich nicht darüber im klaren, daß sich darin Opfer des Faschismus befanden? Ich wurde von einem Splitter am Kopf verwundet, den ganzen Sommer wurde ich in Hospitälern behandelt und erst am 3. September, am ersten Tag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, kehrte ich ins heimatliche Minsk zurück. Noch am selben Tag traf ich auf der Straße meine Eltern wieder, die mich nicht auf den ersten Blick erkannten – 4 Jahre und 2 Monate der Trennung ohne Hoffnung, einander lebend wiederzusehen, und dann welch eine Freude, welch ein Glück.

Das hat mich in meinem folgenden Schicksal geprägt: Im Gegensatz zu manchen meiner Altersgenossen, denen es nicht vergönnt war, etwas aus ihrem Leben zu machen, habe ich doch etwas erreicht: Mit 21 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, danach die Medizinische Hochschule, habe den Doktortitel erworben und arbeite bis jetzt als Hochschullehrer an der Universität Mogilev. Ich denke, daß die tragischen Erfahrungen meiner Kindertage in meinem insgesamt erfolgreichen Schicksal nach dem Krieg durchaus eine Rolle gespielt haben. Ich kenne und verstehe das Leben, ich habe die Politik Hitlers und Stalins bewußt erfahren, und ich habe den Menschen über diese Erfahrung etwas zu sagen – wie die tragischen Schicksale der Völker bestimmt werden und das Schicksal jedes einzelnen Menschen. Daher freue ich mich, daß wir uns mit den Deutschen in gemeinsamer Übereinstimmung und Verständnis befinden.

Zum Abschluß und um eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen, habe ich nur eine einzige „Kinder“-Frage an die beiden Diktatoren, die in den Krieg eingetreten sind:
Was ist das für eine Politik, bei der und wegen der es möglich war, dem heimtückischen Feind die eigenen Kinder auszuliefern, die sich 3 Kilometer von der Hauptstadt Weißrußlands zur Erholung aufhielten?
Was ist das für eine „neue Ordnung“ für Europa, bei der es zulässig ist, Kinder in ungelernte Arbeitssklaven zu verwandeln? (ganz zu schweigen von den übrigen Verbrechen des einen wie des anderen Diktators).

O weh, in Vergleichen liegt die Quelle der Erkenntnis und des Sammelns von Erfahrungen. Aber nicht um diesen Preis sollte man leben und erkennen! Und wie lange dauert es, bis die Ernüchterung einsetzt, und dies nicht in vollem Umfang und nicht bei allen. Wir haben über einiges zu reden…

Ein ehemaliger minderjähriger Gefangener des Nazismus

M. Kuznecov 08.11.1999

Zwangsarbeiter-Lager in ganz Hiltrup verteilt:

Schon 1938 wurden in Hiltrup Zwangsarbeiter eingesetzt: Für die Kanalarbeiten zum Bau der II. Fahrt des Hiltruper Bogens wurden auch jüdische Zwangsarbeiter als billige Arbeitskräfte eingesetzt, es gab eine jüdische Kolonne (Grottendieck, Die billigen Arbeitskräfte der jüdischen Kolonne, WN 8.11.2021). Am 7.3.1941 wurde der Einsatz aller deutschen Juden zur Zwangsarbeit beschlossen.

Später waren um 200 Zwangsarbeiterlager und -unterkünfte in Münster und im Landkreis verteilt (siehe Karte). Allein im Bereich des heutigen Stadtbezirks Hiltrup gab es eine ganze Reihe von Lagern für Kriegsgefangene und Fremdarbeiter (nach: Marcus Weidner, Nur Gräber als Spuren: Das Leben und Sterben von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern in Münster in den Jahren 1939-1945; Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte Beitrag 1981-1017; WN vom 18.11.2000):
  • Lager Gremmendorf (Loddenheide, bis 600 Personen),
  • A. 19 Sandgrube (nördlich der Eisenbahn/Berg Fidel),
  • A.21 Lager Berg Fidel (nahe der Straße Am Berg Fidel),
  • Gaststätte „Bernard Vogt“ (Kriegsgefangenenlager 817: 90 Personen für Glasurit)
  • Gaststätte „Josef Elfering“ (Bahnhofstraße, heute: Marktallee; Organisation Todt, 130 Italiener),
  • Hof „Stertmann Hackenesch“: Ab 1943 30 ukrainische Zwangsarbeiter als Flakhelfer, 1945 300 Russen, Italiener und Polen,
  • „Paterkloster“,
  • alte Mädchenschule an der Burchardstraße (heute: An der Alten Kirche) und Jungenschule an der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße): Im Jahr 1945 100 Niederländer zur Reparatur zerbombter Gleisanlagen,
  • Gaststätte „Freitag“,
  • B.17 Gaststätte „Hof zur Geist“ der Organisation Todt: 130 Zwangsarbeiter für die Tiefbaufirma Reckmann aus Cottbus,
  • Lager „Waldfrieden“ (bis 480 Personen); Eigentum der Stadt Münster, bis 31.8.1943 vermietet an Bauhilfe der D.A.F. („als Durchgangslager für die uns zu überweisenden Ostarbeiter“ und zur „Zusammenfassung der bisher an mehreren Stellen gelagerten Baumaterialien, Kraftfahrzeuge und Baumaschinen zur Erhöhung der jederzeitigen Einsatzfähigkeit und Schlagkraft“),
  • „Kantine für Kanalarbeiter [der stillgelegten Kanalbaustelle] / Frau Rabe“: Von 1942 bis 1945 50 französische Zivilarbeiter,
  • dazu die Lager auf Firmengelände („Gemeinschaftslager“ auf dem Werksgelände der Hoesch Röhrenwerke von 1942 bis 1945: 2 Baracken, 110 Personen)
  • sowie Gleisbauzüge und Kanalschiffe.
    Im Hiltruper „Handwerkerlager“ Waldfrieden waren bis zum 31.8.1943 rund 80 Franzosen des Kriegsgefangenen-Dachdecker-Bataillons X untergebracht (Dr. Gisela Schwarze und Marcus Weidner). Zu den im Hiltruper Lager “Waldfrieden” untergebrachten “Ostarbeitern” zitiert Weidner Quellen dahingehend, es sei oft vorgekommen, dass sich die (halb verhungerten) Russen nur noch gegenseitig schleppen und stützen konnten und, da es nur langsam vorwärts ging, mit Gewehrkolben vorwärts getrieben wurden. Besonders schlimm solle dies beim Lager „An den Loddenbüschen“ gewesen sein, das vermutlich ein Konzentrationslager für Ausländer gewesen sei.

Einen Eindruck von den Lebensumständen der Zwangsarbeiter in Hiltrup gibt auch die Liste der Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter oder Angehörigen von Fremdarbeitern, die im 2. Weltkrieg in Hiltrup gestorben sind (zusammengestellt von Karl Schmidt). Danach kamen allein im Gemeinschaftslager des Röhrenwerks drei Kleinkinder um, Zweifel an der medizinischen Versorgung sind angebracht. Soweit im Übrigen der Ort des Todes angegeben ist, ist es entweder in der Nähe des Bahnhofs bzw. im Gleisbauzug oder „in der Nähe des Gehöftes XY“ – die Zwangsarbeiter durften bei Bomben- bzw. Tieffliegerangriffen nicht mit den Deutschen in die Bunker.

Arbeitskarte des "Ostarbeiters" Chmilewski, 1943 eingesetzt in der Hiltruper Gärtnerei Gebrüder Hanses (11.12.1943; Hiltruper Museum, Bearbeitung: Henning Klare)

Arbeitskarte des "Ostarbeiters" Chmilewski, 1943 eingesetzt in der Hiltruper Gärtnerei Gebrüder Hanses (11.12.1943; Hiltruper Museum)

In der Hiltruper Gärtnerei Gebrüder Hanses waren etwa 40 Russinnen und Russen eingesetzt, darunter der „Ostarbeiter“ Nikolai Chmilewski. Er stammte aus Mykolajiw (russisch: Nikolajew) in der Ukraine und war offensichtlich 1943 im Alter von 46 Jahren nach Deutschland verschleppt worden. Eine Zeitzeugin erinnert sich (WN vom 18.11.2000): „Es war furchtbar. Die russischen Frauen hatten ihre Babys am Rand des Feldes auf die Erde gelegt. Wie Skelette sahen sie aus. Und die Frauen hatten die Babys in Säcke gepackt, um sie ein bisschen gegen die herbstliche Kälte zu schützen.“

In der Mühle Wentrup in Hiltrup arbeiteten vier Kriegsgefangene, zwei Franzosen, ein Russe und ein Pole. Frau M., die im Krieg als junges Mädchen bei Wentrup im Büro angefangen hatte, berichtet, dass sie über die Gefangenen monatlich dem Stalag Bocholt eine Meldung schicken musste. Die Gefangenen kochten für sich, und Wentrup sorgte dafür, dass sie genügend zu essen bekamen. Wegen der zunehmenden Bombardements auf den Industrie- und Kanalbereich bauten die vier einen stabilen Bunker, und es war selbstverständlich, dass die vier bei Angriffen mit hineingingen. Ein eifriger Nationalsozialist von den Hiltruper Röhrenwerken nebenan [Direktor Schorr?] protestierte heftig, da ja allen Ausländern verboten war, Luftschutzräume der Deutschen aufzusuchen. Wentrup bestand aber darauf, dass die vier Gefangenen den Bunker, den sie gebaut hatten, auch nutzen konnten (G. Schwarze: „Gefangen in Münster“ S. 54-55).

Weitere Informationen bietet zum Beispiel die Internetseite des Stadtarchivs Münster und das Buch von Dr. Gisela Schwarze, Gefangen in Münster, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiterinnen 1939 bis 1945, Verlag Klartext, Essen 1999 (1.Aufl., Kl. Schriften aus dem Stadtarchiv Münster Band 4). Nikolai Karpow wurde 1943 als Kind aus Russland zur Zwangsarbeit in das Hiltruper Lager „Waldfrieden“ verschleppt, er schildert seine Erlebnisse in dem Buch Nikolai Karpow, Der kleine Ostarbeiter, Ardey-Verlag Münster 2013.

Auch niederländische Zwangsarbeiter berichten über ihre Zeit in Hiltrup 1945. Die niederländischen Zwangsarbeiter waren in der alten Mädchenschule an der Burchardstraße (heute: An der Alten Kirche) und in der alten Clemensschule an der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße) untergebracht; die Clemensschule war am 30.9.1944 durch eine Bombe beschädigt und ab 6.11.1944 von der Organisation Todt mit Zwangsarbeitern belegt worden.

Jakob Giesbert Treur und Jan Borsten haben ihre Erlebnisse bei späteren Besuchen in Hiltrup geschildert (Jan und Geis aus Rotterdam). Sie kampierten 1945 in der alten Mädchenschule in der Nähe von Alt St. Clemens. Andere hausten dichtgedrängt unter elenden Bedingungen in der beschädigten alten Clemensschule, davon berichtet Jan van Ingen.

Nach 1945: Nach Kriegsende standen die alliierten Truppen vor der Aufgabe, die Zwangsarbeiter und Zwangsverschleppten, deren Heimatgebiete vornehmlich in Osteuropa lagen, unter Kontrolle zu halten und in ihre Heimatländer zurückzuführen. Dazu wurden In Münster und Umgebung zunächst die vom NS-Regime hinterlassenen Lager als „Assembly Centres“ zur Zusammenfassung der Displaced Persons (DPs) genutzt. In und um Münster gab es im Juni 1945 noch 3 Lager in Hiltrup, 4 in Münster, 2 in Warendorf, 3 in Telgte, 2 in Rheine und weitere in Handorf, Tilbeck, Nottuln, Reckenfeld, Greven, Roxel, Borghorst und im weiteren Umkreis. Einige Lager wurden nach der Repatriierung der Zwangsarbeiter aus den westlichen Nachbarländern (Franzosen, Belgier, Niederländer) bereits im Frühsommer 1945 geschlossen. Nachdem im August 1945 die russischen DPs zwangsweise repatriiert und die italienischen ehemaligen Militärinternierten ebenfalls in ihr Heimatland zurückgebracht worden waren, gab es im Raum Münster im Januar 1946 nur noch wenige Lager, u. a. in Münster (Stalag VI), Greven, Reckenfeld und Borghorst. In Münster wurden die DPs 1946 neben den Bürgern zur Trümmer-Großräumung eingesetzt (Stefan Schröder, Trümmerräumung durch Displaced Persons in Münster 1946/47, Westfälische Zeitschrift 1997, Bd. 147 S. 221 ff).

Nikolai Karpow aus dem Hiltruper Lager Waldfrieden („Der kleine Ostarbeiter“) begann am 9.8.1945 seine Rückreise in die Heimat. Es ist davon auszugehen, dass die Baracken des Hiltruper Lagers Waldfrieden spätestens Ende 1945 leer standen. Sie wurden anschließend als Behelfsheime genutzt. Wie in Münster war auch in Hiltrup Wohnraum zerstört oder beschädigt und damit knapp, auch Hiltrup musste zusätzlich viele Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufnehmen. Die Westfälischen Nachrichten erwähnen am 9.1.1959 einen Sterbefall mit der Adresse „Hiltrup, Waldfrieden, Behelfsheim“ (im Gegensatz zu allen anderen Namen ohne Altersangabe). Als die Gemeinde Hiltrup 1962 das Gelände von der Stadt Münster kaufte, übernahm sie zwei Pachtverträge mit Privatpersonen; diese hatten nach 1945 zwei „Wehrmachtsbaracken im früheren D.A.F. Lager Waldfrieden erworben“, die auf Grundmauern standen, über Licht- und Wasseranschlüsse sowie Kanalisation verfügten. Das oben gezeigte Foto der Baracke, die bis 1945 als Lagerkommandantur und danach als Wohnung diente, ist auf 1965 datiert. Die letzten Baracken sind wahrscheinlich in den 1970er Jahren beseitigt worden.

Gedenkstein zur Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Lagers Waldfrieden in Hiltrup (Einweihung am 9.7.2010; Foto: Henning Klare)

Gedenkstein zur Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Lagers Waldfrieden in Hiltrup (Einweihung am 9.7.2010; Foto: Henning Klare)

Eine Stele und Gedenktafeln erinnern seit 2010 an die ZwangsarbeiterInnen des Lagers Waldfrieden. Hiltrup tat sich schwer damit. Die CDU mochte ihnen ursprünglich kein Denkmal setzen, der Vorstoß eines Geschichtslehrers in der CDU fand keine Mehrheit. 2007 und 2008 lehnten dann CDU und FDP in der Bezirksvertretung Hiltrup einen neuen Anlauf ab. 2009 drohte eine erneute Initiative an den Kosten zu scheitern. 3.000 Euro waren veranschlagt, ihnen standen Zuschüsse des Kulturamtes (500 Euro) und der Bezirksvertretung Hiltrup (1.000 Euro) sowie kleinere Beträge von der evangelischen und der Kirchengemeinde St. Clemens gegenüber. Die SPD Hiltrup-Berg Fidel sicherte dann die Finanzierung durch eine Spendenaktion, die sie 2010 nochmals aufstockte (auf 890 Euro).

(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 05.11.2024.)