Zwei Häftlinge der Organisation Todt in Hiltrup 1944/1945
Jakob Giesbert (genannt Geis) Treur (*1926) und Jan Borsten (*1922) wurden am 10. November 1944 bei einer Razzia in der Stadt Rotterdam durch die SS von der Straße weg abgeführt. Sie trugen nichts bei sich außer einem Ausweis in der Hosentasche.
Gemeinsam mit 30.000 weiteren Männern im Alter von 17-40 Jahren mussten sie in ein Camp marschieren, bewacht von bewaffneten SS-Leuten, die rücksichtslos schossen, wenn jemand es wagte zu fliehen. Die Eltern erhielten keine Nachricht, wo die jungen Zwangsinternierten waren. Erst im Dezember durften sie mit der Bitte um Kleidung Nachricht nach zu Hause geben.
Geis und Jan mit ihren Kameraden, die sie aus der Nachbarschaft und Schule zum großen Teil kannten, wurden der Organisation Todt unterstellt und nach Lingen-Holthausen gebracht, wo sie Panzerfallen zu bauen hatten.
Im bitterkalten Januar 1945 wurde die Truppe nach Hiltrup versetzt, wo die beiden mit 30 – 40 Leuten in einem Klassenraum der alten Mädchenschule untergebracht wurden. Der größte Teil der Truppe kampierte in der Jungenschule an der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße), davon berichtet Jan van Ingen.
Im Klassenraum der alten Mädchenschule lag nur Stroh auf der Erde, voller Läuse und Flöhe; die Toiletten völlig verstopft; die Latrinen auf dem Schulhof übervoll. Fließendes Wasser gab es nicht, sie wuschen sich mit Schnee. Der Hunger war entsetzlich, die Brotportionen winzig und die Suppe oder der Eintopf wurde von außerhalb Hiltrups ca. eine Stunde zu Fuß entfernt mit dem Bollerwagen herangeholt.
Die Gefangenen der Organisation Todt wurden in Hiltrup eingesetzt zum Wiederaufbau und Bau von Eisenbahnschienen am Dortmund-Ems-Kanal, heute ein Abstellgleis neben dem Hundetrainingsplatz „Im Dahl“. Hier war eine Eisenbahnflakeinheit stationiert, die gezielt bombardiert wurde.
Die Arbeit war schwer und meistens umsonst, denn dieser Bereich wurde in dieser Zeit mehrfach bombardiert.
Die Todt-Gefangenen durften keine Bunker oder Unterstände aufsuchen. Sie krochen höchstens unter die Eisenbahnwaggons. Geis berichtet: „Die Bomben schlugen rund um uns ein, eine höchstens 10 Meter von mir entfernt. Ich höre mich noch laut zum Himmel schreien! Es war schrecklich.“
In dem Wäldchen neben den Gleisen sind mehrere Russen beim Angriff im Februar ums Leben gekommen. Die Bombentrichter sind zum Teil heute noch erkennbar. Diese Russen waren in einem Lager neben der Flakstellung „Vogelmann“ bei Hackenesch untergebracht. Auch der Hof Hackenesch wurde schwer beschädigt.
Bei einem Bombenangriff wurde Geis im Gesicht und am Rücken verwundet. Zwei Kameraden wollten ihn zum Lager in der Mädchenschule schleppen.
Auf dem Weg dorthin kamen sie am Haus der Familie B. an der Münsterstraße (heute: Hohe Geest) vorbei. „Da stand Maria B. draußen, sah mich, sagte: Armer Mann zu mir und hat mir Äpfel geschenkt. Diese Äpfel vergesse ich nie,“ berichtet Geis.
In Hiltrup wurden die Gefangenen nur wenig bewacht. Das Risiko auszureißen war dennoch zu groß. Einige Kameraden haben Fluchtversuche mit dem Leben bezahlt. Einmal erzählte man ihnen im Lager, eine Firma Schumann leite die Baumaßnahmen. Sie zahlte ein einziges Mal 10 Reichsmark an die Gefangenen.
Abends gingen die inhaftierten Männer zu den Bauern der Umgebung und bettelten um Essen. „Wir haben immer etwas bekommen“, wissen die beiden noch heute.
Der Turm von Alt-St. Clemens diente als Luftschutzbunker, aber die Todt-Leute aus dem Hause gegenüber durften ihn nicht betreten. Schließlich wurde ihnen erlaubt, bei Alarm den Luftschutzkeller der Hiltruper-Missionsschwestern aufzusuchen.
In der obersten Etage des Hauses befand sich eine Krankenstation, in der Säuglinge und Kinder untergebracht waren. Bei Alarm wurden sie in den Luftschutzkeller getragen. Dabei halfen Geis und Jan selbstverständlich – jeweils zwei Kinder im Arm -, sie die vielen Stufen in den Keller zu tragen, wo Notbetten für sie standen.
Hocherfreut waren sie, als anschließend in einem Raum „mit Teller und Besteck ein leckeres Essen“ für sie bereitstand. „Für uns etwas, was wir nicht mehr kannten“.
An die Zustände im Keller erinnern sich die beiden genau. Ein Radio gab ständig Nachrichten über die Anflüge der englischen Bomber von der Zuiderzee (Ijsselmeer) auf die Stadt Münster durch. Je näher diese tödliche Fracht auf die Stadt zuflog, desto lauter wurden die Gebete der Frauen und Kinder, die voller Angst den Himmel geradezu anschrien und den Herrgott um Hilfe in dieser tiefsten Not anflehten.
Geis berichtet: „Ungefähr eine Woche vor Ostern erhielten wir den Befehl, nach Magdeburg zu marschieren. Wir sind aber nicht mitgegangen, weil sich alles in Auflösung befand. Die Bewachung ließ nach. Da sind wir abgehauen und haben uns in der Nähe des Burgwalls in einer alten Scheune drei Tage versteckt. Oben unterm Dach war Heu, unten stand ein Pferd drin. Wenn wir etwas hörten, dann krochen wir unters Heu. Aber der Hunger trieb uns hinaus. Die Bauern verscheuchten uns, ebenso die Soldaten, die wir trafen.
Einmal hörten wir durch zwei Nonnen, die im Krankenhaus (heute; Alter Pfarrhof) tätig waren, dass auf dem Bahngleis nach Münster ein ganzer Waggon mit Schweinefleisch festlag. Ganz Hiltrup war auf den Beinen mit Schiebekarren, Eimern und Bollerwagen. Wie sollten wir an einen Bollerwagen kommen? „Wir fragen auf der Ecke bei den drei Mädchen“, schlug Jan vor. Familie B. war gemeint. Vater B. war sofort bereit.
„Aber wiederbringen!“ Das taten wir, und die Familie fragte uns, wo wir eigentlich wohnten. Als wir von unserem Versteck erzählten, entschied Vater B. „Ihr bleibt hier!“ Und so erlebten wir von der Münsterstraße aus den Einmarsch der Amerikaner am 2. April 1945 – am 1. Ostertag.
Wir waren noch etwa drei Wochen in Hiltrup. Auf der heutigen Marktallee mussten wir uns melden und wurden von den Amerikanern registriert. Dann kam ein großer Soldat mit einer Sprühdose mit DDT-Puder und entlauste uns. Ich sah die Läuse weglaufen.
Wir wurden dann am 5. Mai 1945 mit Kraftwagen nach Holland in ein Lager gefahren. Jetzt bekamen wir gute amerikanische Verpflegung. Man ließ uns nicht nach Rotterdam, weil es dort nichts zu essen gab. Erst Mitte Juni sah ich meine Eltern in Rotterdam wieder.
Geis besuchte alle paar Jahre seine „deutsche Mutti“, wie er sagt. Während seiner Hiltruper Zeit trug er immer einen kleinen eisernen Kochtopf bei sich. Als er 1956 zum ersten Male Familie B. wieder besuchte, stand er im Hühnerstall und diente als Futternapf. „Kiek, dienen ollen Pott!“ dachte er nur. Es war das letzte Erinnerungsstück an die schreckliche Zeit.
Der alte Verschiebebahnhof hat heute keine Funktion mehr, die Gleise sind nicht mehr mit dem Eisenbahnnetz verbunden. Wer diesen verlassenen Ort zwischen Kanal und Bahnstrecke Münster-Hamm besuchen will, kann der Straße Im Dahl nach Osten folgen.
Östlich der Bahnlinie führt das Sträßchen im Bogen auf ein Wäldchen zu.
Hier hat sich die Natur die alte Bahnabstellanlage zurückgeholt. Die rostigen Gleise sind völlig überwuchert.
Parallel zum Kanal verlaufen die Gleise nach Norden bis zum Hundeübungsplatz.
Hier enden die fünf Parallelgleise an Prellböcken. Die Bahnstrecke Münster-Hamm ging an dieser Stelle früher weiter bis zum Hauptbahnhof.
(Quelle: Hiltruper Museum, um 1960, ohne Angabe des Verfassers/der Verfasserin; zuletzt aktualisiert am 01.11.2024.)