O.T. Lager, Clemensstraße Schule Hiltrup

"Auf Befehl der Deutschen Wehrmacht müssen sich alle Männer im Alter zwischen 17 und 40 Jahren für den Arbeitseinsatz anmelden." (Aushang in Rotterdam am 9./10.11.1944)
"Auf Befehl der Deutschen Wehrmacht müssen sich alle Männer im Alter zwischen 17 und 40 Jahren für den Arbeitseinsatz anmelden." (Aushang in Rotterdam am 9./10.11.1944)

1945: Niederländische Zwangsarbeiter in Hiltrup

Im II. Weltkrieg waren viele deutsche Männer als Soldaten eingezogen und fehlten zu Hause als Arbeitskräfte. Diese Lücken waren durch Werbeaktionen und Zwangsverpflichtungen in den Nachbarländern nicht auszugleichen.

Razzia van Rotterdam: Abmarsch von Gefangenen (10.11.1944; Foto: Nationaal Archief, Den Haag, inventarisnummer 31017, bestanddeelnummer 31017_057)

Razzia van Rotterdam: Abmarsch von Gefangenen (10.11.1944; Foto: Nationaal Archief, Den Haag, inventarisnummer 31017, bestanddeelnummer 31017_057)

Im November 1944 transportierte die deutsche Besatzungsmacht in der Razzia von Rotterdam ungefähr 50.000 niederländische Männer aus Rotterdam zwangsweise zum Arbeitseinsatz in den Osten der Niederlande und nach Deutschland ab.

Einige von ihnen waren Anfang 1945 auch in Hiltrup eingesetzt. Jakob Giesbert Treur und Jan Borsten haben ihre Erlebnisse bei späteren Besuchen in Hiltrup geschildert (Jan und Geis aus Rotterdam). Sie waren 1945 in der alten Mädchenschule untergebracht in der Nähe von Alt St. Clemens.

Die Gefangenen der Organisation Todt wurden in Hiltrup eingesetzt zum Wiederaufbau und Bau von Eisenbahnschienen am Dortmund-Ems-Kanal, heute ein Abstellgleis neben dem Hundetrainingsplatz „Im Dahl“.

Unzählige Bombentrichter im Bereich von Bahn und Kanal im Norden von HIltrup (21.3.1945, Foto: http://ncap.org.uk/frame/24-1-52-5-387)

Unzählige Bombentrichter im Bereich von Bahn und Kanal im Norden von HIltrup (21.3.1945, Foto: http://ncap.org.uk/frame/24-1-52-5-387)

Die Arbeit war schwer und meistens umsonst, denn die Strecke Münster-Hiltrup wurde in dieser Zeit mehrfach bombardiert.

Die Todt-Gefangenen durften keine Bunker oder Unterstände aufsuchen. Sie krochen höchstens unter die Eisenbahnwaggons. Geis berichtet: „Die Bomben schlugen rund um uns ein, eine höchstens 10 Meter von mir entfernt. Ich höre mich noch laut zum Himmel schreien! Es war schrecklich.“

Hiltrup: Die Bombenkrater im Wäldchen neben den Gleisen sind noch nach 80 Jahren zu sehen (9.3.2024; Foto: Henning Klare)

Hiltrup: Die Bombenkrater im Wäldchen neben den Gleisen sind noch nach 80 Jahren zu sehen (9.3.2024; Foto: Henning Klare)

In dem Wäldchen neben den Gleisen kamen mehrere Russen beim Angriff im Februar ums Leben. Die Bombentrichter sind zum Teil heute noch erkennbar. Diese Russen waren in einem Lager neben der Flakstellung bei Hackenesch untergebracht. Auch der Hof Hackenesch wurde schwer beschädigt.

Jan van Ingen aus Rotterdam (Foto: Familienbesitz)

Jan van Ingen aus Rotterdam

Im Jahr 2023 wurde der Enkel eines der Rotterdamer Zwangsarbeiter auf den Bericht von Jan und Geis aufmerksam. Sein Großvater Jan van Ingen war – 28 Jahre alt – im November 1944 im Zuge der Razzia von Rotterdam zunächst in ein Lager in der Nähe von Bremen und im Januar 1945 nach Hiltrup weiter transportiert worden.

Hiltrup: Die alte Clemensschule im Jahr 1935 (Foto: Hiltruper Museum)

Hiltrup: Die alte Clemensschule im Jahr 1935 (Foto: Hiltruper Museum)

Die niederländischen Zwangsarbeiter waren auch in der alten Clemensschule an der Clemensstraße (heute: Patronatsstraße) untergebracht.

"Hiltrup - Altes Dorf": In der Mitte die alte Clemensschule, dahinter Alt-St. Clemens (1943; historische Postkarte, Hiltruper Museum)

"Hiltrup - Altes Dorf": In der Mitte die alte Clemensschule, dahinter Alt-St. Clemens (1943; historische Postkarte, Hiltruper Museum)

Die Clemensschule war am 30.9.1944 durch eine Bombe beschädigt und ab 6.11.1944 von der Organisation Todt mit Zwangsarbeitern belegt worden.

Hiltrup, Clemensstraße: Trauerzug für den Gastwirt Franz Aulenkamp (9.8.1947; Foto: Hiltruper Museum)

Hiltrup, Clemensstraße: Trauerzug für den Gastwirt Franz Aulenkamp, rechts im Hintergrund die Clemensschule mit neuem Dach (9.8.1947; Foto: Hiltruper Museum)

Erst nach Kriegsende erhielt die Clemensschule ein neues Dach, wie das Foto eines Trauerzugs von 1947 dokumentiert.

Aus der erbärmlichen Unterbringung in der alten Clemensschule hatte Jan van Ingen Briefe an seine Frau geschrieben, die noch erhalten sind.

Seine Tochter und sein Enkel besuchten im Jahr 2024 die Orte, an denen er sich 1945 aufgehalten hatte. Einen der Briefe, die er in dieser Zeit aus Hiltrup nach Hause geschickt hatte, hat die Familie freundlicherweise zur (teilweisen) Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Er ist ein erschütterndes Zeitzeugnis und spricht für sich:

Hiltrup 23. Januar 1945

Liebste Frau und Kinder,

Mit dieser Nachricht lasse ich Euch wissen, dass ich zum Glück noch bei guter Gesundheit bin und hoffe von Herzen, dass es Euch und den Kindern auch noch gut gehen möge. Ja, mein Schatz, ich habe schon viele Briefe geschickt, aber vielleicht hast Du noch nichts von mir erhalten, denn die Post kommt schlecht durch.

Nur wenn die Leute nach Holland gehen und Briefe mitnehmen, sie dann hinter der Grenze zur Post geben und auch umgekehrt von Holland nach Deutschland, gibt es eine Chance, voneinander zu hören. Sonst geht es nicht so gut weiter. Dies ist ein anderer Fall. Dieser Brief wird von jemandem überbracht, der im selben Zimmer wie ich gelegen hat und immer noch in demselben Schulgebäude ist. Ja, meine Liebe, du wirst überrascht sein, wenn dieser Mann (meinen Brief) bringt.

Wir sind hier mit ein paar hundert Mann in einer Schule in einer kleinen Stadt bei Münster untergebracht und müssen dort arbeiten. Aber kaum jemand geht zur Arbeit, weil die meisten hier keine Schuhe und Kleidung mehr haben. Nun hat die Firma gesagt, dass Leute nach Holland fahren sollen, um Pakete mit Kleidung und Schuhwerk abzuholen. Und Liebling, es gab eine Verlosung, wer gehen sollte, aber ich war nicht unter den Glücklichen, 1 von 10 Männern durfte fahren. Aber unter der Bedingung, dass drei Männer dafür büßen müssen, wenn einer nicht zurückkommt. Wir können also nur hoffen, dass diese Männer zuverlässig sind und mit den Paketen zurückkommen.

(…) Auch ich wäre gerne nach Hause gekommen und hätte dich wiedergesehen, aber so sollte es nicht sein. (…) Aber ja, es lässt sich nicht mehr ändern. Wir müssen einfach den Mut behalten. Vielleicht sind wir bald wieder zusammen. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich abgefahren bin und dann die ganze Zeit nichts von dir gehört habe, das ist einfach furchtbar, selbst wenn ich nur eine Nachricht im Monat bekäme, wäre es noch gegangen. Aber jetzt habe ich noch nichts gehört. Ich weiß nicht, wie es dir geht und wie es den Kindern geht. (…) Schreib mir einfach alles, und leg einen großen Brief in das Paket. Denn ich habe schon so lange nichts mehr von dir gehört und ich habe solche Sehnsucht nach dir. Ich hätte nie gedacht, dass es so kommen würde. Du weißt ja, dass wir zuerst eine Woche in einem Lager in Wezep verbracht haben, von dort habe ich sofort geschrieben und Kontakt mit der Familie in Zwolle aufgenommen. Schon am nächsten Tag erhielt ich einen Brief und ein Päckchen von Tante X, mit Brot, Wurst, Butter und Tabak. Und dann noch ein Päckchen von Onkel X und Tante X. Du verstehst, dass ich mich darüber sehr gefreut habe, und wenn ich dort geblieben wäre, hätte es mir an nichts gefehlt. Aber ja, es ist nicht passiert. Am Sonntag, den 19. November um 9 Uhr morgens stiegen wir in den Zug und fuhren nach Deutschland. Ich habe dann schnell einen Zettel geschrieben und ihn aus dem Zug geworfen. Ein Fräulein hob ihn auf und würde ihn in den Bus legen.

Montagmorgen waren wir in Deutschland, fuhren Richtung Bremen und hielten dann hinter Bremen, wo wir ausstiegen und in ein Lager gebracht wurden. Dort haben wir sieben Wochen verbracht. Und jetzt bin ich nach Hiltrup gebracht worden, das ist eine Stadt 5 km von Münster und etwa 50 km von der Grenze entfernt. Nun meine Liebe, in Bremen hatten wir gutes Essen, aber jetzt ist es nicht gut. Aber ja, bei euch wird es auch mit dem Essen eng werden. Ich habe schon gehört, dass ihr kein Gas und kein Licht mehr habt. Ich frage mich, wie es euch geht. Ich dachte, du wärst bei Mutter, ihr solltet zusammen sein, das ist immer noch gemütlich, nicht wahr? Unter anderem habe ich ein Eisenbahnunglück mitgemacht, aber wir sind zum Glück heil davongekommen. Das zeigt nur, dass man überall verschont werden kann. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns gesund wiedersehen werden. Und vielleicht schon sehr bald. (…)

Wie geht es meiner Mutter und meinen Schwestern? Sie hat mir schnell noch eine Tüte Kekse und ein Stück Käse gebracht, als ich auf dem Schiff war, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich habe dann noch nach dir gesucht, aber du bist nicht gekommen. Das war auch besser so, sonst wäre mir der Abschied noch schwerer gefallen. Jetzt fange ich mit den Dingen an, die ich hier gerne hätte, angefangen mit einer guten Arbeitshose. Wenn du sie nicht finden kannst, dann die Hose meines blauen Abendanzugs, denn ich habe keine Hose mehr auf dem Leib, ein paar Oberhemden, ein Unterhemd, 1 Paar Socken, eine Packung Rasierklingen, 1 Stück Seife, einen Kamm (der steckt in meinem Anzug), Garn und Stopfwolle für meine Socken. Und am besten etwas Tabak, den kann ich hier gegen Brot eintauschen und das hoffe ich auch. Aber bloß keine Unkosten, denn das geht nicht. Ich kann dir nichts schicken, weil ich hier nicht mehr als ein Taschengeld bekomme. Man sagt hier, dass für die Frauen gesorgt wird. Obwohl ich das nicht wirklich glaube. Wie auch immer, ich höre von dir.

Vor allem vergiss nicht, dem Paket ein paar Fotos von dir und den Kindern beizulegen. Denn ich konnte mir immer noch nicht verzeihen, dass ich sie vergessen habe. Es ging auch alles so eilig zu, nicht wahr? Ich hatte keine Zeit, mich richtig von dir zu verabschieden. X war anfangs auch bei uns, aber jetzt ist er woanders hingekommen und ist in der Nähe von Bremen. Sonst habe ich niemanden mehr von der Straße gesehen. Wir sind alle zerstreut. Ich bin immer noch hier mit X und X und wir hoffen, dass wir zusammenbleiben können.

Meine Adresse ist O.T. Lager, Clemensstrasse Schule Hiltrup

[Anmerkung zur Adresse: O.T. ist die Abkürzung für Organisation Todt.]

(Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 17.10.2024.)