Lothringer Landschaft
Lothringer Landschaft muss man erfahren. Erfahren mit dem Auto, wenn man keine Super-Kondition für das Fahrrad hat. Das Ufer des Étang du Stock ist flach, aber schon der Wald ringsum steht auf Hügeln, und dahinter kommen immer mehr Hügel; mal ist es weites Grünland – im Augenblick nach der langen Trockenheit, die auch die Seen schrumpfen ließ, eher Gelbland – mit Mutterkühen oder Schafen, mal ist es wieder Wald, und die schmalen und ruhigen Nebenstraßen schlängeln sich über die Hügel. Jetzt im Spätsommer steht die Sonne tief und lässt diese Landschaft leuchten und noch plastischer erscheinen. Wenn man nicht Bauer ist und keine Tiere von dem vertrockneten Land satt bekommen muss, ist es malerisch schön.
Viele kleine Dörfer durchfährt man auf solcher Reise, überall sieht man wie in Rhodes diese kleinen alten Bauernhäuser an der Straße, zu mehreren in Reihe aneinander gebaut: Zweistöckig, eine Einfahrt, daneben ein oder zwei Fenster. Nur leben hier keine Bauern mehr; die letzten Bauernhöfe sind vereinzelte, geradezu industrielle Großbetriebe mit riesigen Hallen.
Die Vogesen im Osten mit dem 1000 Meter hohen Donon sind nah. Auf dem Weg dahin steht ein kleiner Zwischenstopp in Hermelange an.
Die rote und die weiße Saar fließen hier zusammen, vom Parkplatz am Ortsrand sind es angeblich nur 200 Meter auf einem Wanderweg.
Nach einem doch etwas längeren Spaziergang gelangt man in den verwunschenen Wald, wo zwei Rinnsale sich im Halbdunkel vereinigen. Aber weder ist die rote Saar rot – nicht im geringsten! – noch ist die weiße wenigstens etwas durchsichtig; die Trockenheit hat aus der ehemals vielleicht weißen Saar ein recht dunkel-undurchsichtiges Gewässer gemacht.
Aber die paar Schritte in die Natur tun gut, und am Ufer blühen die Balsaminen, die Knackbeeren und der Hopfen.
Die Straße steigt nun kräftig an, aber bis auf den Donon wollen die Besucher nicht, sie biegen vorher von der D44 ab und fahren nach St. Quirin. In der Kirche von St. Quirin wird der gleichnamige Heilige verehrt, und schon im Eingang verkündet eine große Tafel, „compétente pour soixante maladies et maux“ sei der Heilige. Ein christlicher Märtyrer des 2. Jahrhunderts mit Kompetenz für 60 verschiedene Krankheiten und Übel, und das in einem abgelegenen Tal der Vogesen, das ist schon was! In Zeiten moderner Medizin hat seine Anziehungskraft etwas gelitten, die Besucher sind allein mit dem Heiligen. Die Barockkirche kann nicht begeistern, in den benachbarten ehemaligen Klostergebäuden ist jetzt eine Schule untergebracht, und im Heilkräutergarten wachsen Gummistiefel; selbst die source miraculeuse, die wundertätige Quelle unterhalb der Kirche ist versiegt, und eine Alte muss ihr Blumengießwasser aus dem Bach darunter schöpfen.
Oben auf dem Hang oberhalb des Heiligen steht an markanter Stelle ein Kapellchen, der Weg hinauf ist steil mit Kopfsteinpflaster.
Es ist ein beeindruckender kleiner Raum. Ein schlichtes romanisches Kirchenschiff mit einem gotischen Chor-Anbau, und was hängt da hinter dem Altar? Die Himmelsleiter! Ganz nüchtern aus Aluminium ist sie der senkrechte Aufstieg in den kleinen Turm, und die Baumeister haben sicher bei dieser Lösung geschmunzelt…
Die bunten Fenster aus dem 19. Jahrhundert bebildern die Legende vom Heiligen Quirin – es sei ihnen verziehen, immerhin zaubern sie einige farbige Lichter in den Raum.
La Rose rouge, mit dieser Bezeichnung ist dies ehrwürdige Bauwerk eingebunden in ein Netzwerk von Stationen des Pilgerns.
Auf schmalen Sträßchen geht es zurück nach Rhodes, vorher steht aber noch ein Zwischenstopp an in Réchicourt-le-Château. Auf der Hinfahrt war das Straßenschild haften geblieben: Wenn das Schloss schon im Ortsnamen enthalten ist, sollte man es anschauen. Die Rue du Château ist so unscheinbar, dass man zunächst daran vorbei fährt, aber es gibt sogar einen Parkplatz für Château und Église. Links liegt ein eher bescheidenes, aber gut erhaltenes Herrenhaus, vielleicht aus dem 18. Jahrhundert, soll es das sein? Muss wohl, denn ein kleines Schildchen „Fondation Patrimoine“ ist an der Mauer angebracht. Aber daneben steht noch ein Bau, erkennbar deutlich älter und eher archaisch in der Gestaltung. Da sind Öffnungen vernagelt, Scheiben fehlen, das Dach zeigt eine gewisse Transparenz, und einige Schritte weiter erfährt man die ganze Wahrheit. Eine Außenwand ist eingestürzt, man hat den Veteranen seinem Schicksal überlassen und sich daneben etwas Neues gebaut.
Etwas ernüchtert wendet man sich zurück. Man könnte noch wenige Kilometer weiter ein ganzes Dorf als Industrieruine besichtigen – die Schuhfirma Bata hatte hier eine Fabrik hingestellt mit Häusern für die Arbeiter, Bataville, und nach der Schließung der Fabrik das Dorf verlassen; nun kümmern sich Idealisten um Leben in den Ruinen. Aber den Besuchern reicht eine Ruine an diesem Abend, sie kehren zu „ihrem“ idyllischen Étang du Stock zurück.
(Wer mag, kann diese Landschaft auch mit dem Rad erkunden: Reisebericht: Rad-Reisen Lothringen.)
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(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 27.8.2021.)