Fénétrange in Lothringen
Still und malerisch liegt der Étang du Stock in Rhodes vor den Reisenden, aber Lothringen hat noch mehr zu bieten. In Fénétrange, wenige Kilometer vom See entfernt, hatten sie auf der Hinfahrt ein Hinweisschild auf den historischen Ortskern gesehen, und auch der Michelin-Karte war der Ort einen Stern wert.
Die Straße führt vom See erst durch Wald, dann über zahlreiche Hügelchen mit vielen Kurven auf eine öde Kreuzung. Eine unansehnliche Gasse zweigt davon ab, ihr pompöser Name „Rue Porte de France“ steht in groteskem Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild. Die Häuser sind grau in grau vernachlässigt und zeigen kaum Leben, der Überrest eines Stadttors (??) macht einen eher traurigen als trutzigen Eindruck. Das Restaurant hat bemerkenswert kurze Öffnungszeiten, und die Kirchturmuhr ist stehen geblieben.
Die Porte de France leitet die Besucher zu einem markanten Haus mit einem dicken Erker-Turm. Auf dem Schornstein ein Storchennest, an der schäbigen Fassade ein neuzeitliches Banner mit einem historischen Motiv, das wohl Teil einer als PR-Aktion gedachten Schnitzeljagd ist. Mit einem Blick erfassen die Besucher den jämmerlichen Zustand der historischen Leiche: Ein Ort mit Geschichte, voll von bemerkenswerten Gebäuden in beklagenswertem Zustand.
1755 steht als Baujahr über der Tür, daneben sind die steinernen Fenstereinfassungen schon einmal erneuert worden, aber dann ist das arme Haus sich selbst überlassen worden.
Auch die metallene Gedenktafel für den Amtmann Moscherosch, der im 17. Jahrhundert hier tätig war, hat schon bessere Tage gesehen. Gegenüber weist eine Tafel zum Château und Touristenbüro.
Tritt man durch die dunkle Einfahrt, steht man plötzlich in einem ansprechenden Innenhof. Die Wirtschaftsgebäude gegenüber dem Schlossportal schließen den kleinen Vorplatz im Halbkreis harmonisch ab; die zum Platz öffnenden Tore haben schlichte Glasfenster und –türen bekommen, hinter denen Anfänge eines Heimatmuseums zu erkennen sind.
Das Schloss, das man mitten in dem kleinen Ort überhaupt nicht erwartet, ist zumindest außen restauriert. Das Touristenbüro ist in der Nachsaison in der Woche nicht besetzt, alle Türen sind verschlossen.
Aber die Blumen! So tot dies Gemäuer auch wirkt, hier wie an anderen Stellen des Ortes kämpfen leuchtende Blumen gegen die allgemeine Stimmung des Verfalls.
Graue Katzen laufen den Besuchern über den Weg, und auf ihrem Rundgang fotografieren sie auch den Katzenteller – was sonst soll ein geblümter Essteller sein, der vor einem brüchigen Gebäude auf dem Gehweg steht?
Gegenüber der Kirche – auch sie ist verschlossen – steht das Fachwerkhaus des Imkers. Unter einer riesigen Plastikbiene an der Hauswand wirbt ein Schild für Tannenhonig; später finden die Besucher den Honig dieser Firma im Supermarkt im nahen Saarbourg.
An der grauen Fassade der Kirche fällt eine Gedenktafel für eine Verstorbene ins Auge. Anrührend wirkt die schlichte Kreuzigungsdarstellung mit dem Herzchen im Text der Tafel.
Und auch hier: Blumen!
Das Maison du Patrimoine am Kirchplatz wirkt genauso tot wie die meisten Häuser, es ist nur in der Saison und nur am Wochenende geöffnet. An der Fassade erinnert das Wappen mit dem weißen Stern auf rotem Grund (im Original: Gold auf Rot) an Diane de Dommartin (20.09.1552-14.10.1625); der Stern im Wappen besteht aus den zwei ineinander verschränkten griechischen Buchstaben „Delta“ für ihre Initialen. Wenige Meter weiter weist das Straßenschild „Rue des Juifs“ auf die frühere jüdische Gemeinde hin.
Am Rand des kleinen Ortskerns fällt ein Restaurierungsobjekt ins Auge.
1599 ist als Jahreszahl eingemeißelt, die Fassade ist anspruchsvoll gestaltet.
Das Gebäude gegenüber ist jünger, es wurde „erst“ Anfang des 18. Jahrhunderts gebaut, aber hier hat sich noch kein Investor gefunden.
In den Straßen finden sich einige wenige liebevoll restaurierte alte Häuser.
Die Mehrzahl der Häuser aber ist schon auf der Intensivstation angelangt. Viele Fenster sind leer, Fensterscheiben zerbrochen, Reparaturen auf das allernötigste beschränkt.
Umso mehr freut man sich, auf ein frisch restauriertes Gebäude zu stoßen. Im Weitergehen aber bleibt die Frage nach der Nutzung: Was soll aus einem alten Haus werden, wenn es zwar aufgehübscht ist, aber kein Leben hat?
Ein Solitär steht an der Rue de la Justice zwischen all dem ganz alten Gemäuer, reizvoll im Kontrast. Aber auch hier zeigt ein genauerer Blick: Die Gardinen in zwei Etagen kaschieren nur die Ratlosigkeit; oben sind die Fenster nackt und die Zimmer dahinter offensichtlich nicht bewohnt.
Nachdenklich kehren die Besucher zu ihrem Kirchlein am Étang du Stock zurück. Wie soll historisches Erbe erhalten werden, wenn die Bewohner ihren Ort aufgegeben haben und nach und nach verlassen?
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 28.12.2020.)