Ende diesen Monats wird das Europaparlament gewählt, was sieht man davon in Hiltrup?
Vor dem Supermarkt an der Hohen Geest grüßen die Kandidatinnen auf Halbmast.
Selbst die Spitzenkandidatin liegt am Boden, und zwei Häuser weiter sieht sie auch nicht viel besser aus: Wen will sie auf der Hunde-Augenhöhe ansprechen?
Es ist Zeit für einen Rundgang über Hiltrups Flaniermeile, wo Wahlplakate und Informationsstände noch die höchste Aufmerksamkeit bekommen. Beim flüchtigen Hinblicken, im Vorbeigehen auf Einkaufstour, war in den vergangenen Wochen schon aufgefallen: Die Marktallee war fest in der Hand der AfD. An jedem Pfahl hing ein AfD-Plakat, gefühlt tausendfach schrie den Passanten die Botschaft entgegen: Wir hassen Europa. Wer die sehr begrenzten Wahlkampfbudgets der großen Parteien kennt, konnte sich nur wundern. Woher kam das Geld, um so eine Plakatflut zu finanzieren, wer bezahlte die Logistik, um die vielen Plakate zu verteilen und aufzuhängen? Die Berichte der letzten Monate über illegale Parteispenden an die AfD, über das Tricksen und Täuschen, über Hinter- und Strohmänner dieser Partei kamen natürlich sofort in den Sinn. Führte die Spur nicht zu deutschen Industriellen am äußersten rechten Rand der Konservativen, und hat es nicht auch Berichte gegeben, dass sowohl die französische Rechte als auch die englischen Brexit-Agitatoren Geld von Putin genommen haben? Jede Schwächung der europäischen Demokratien eine Chance für Putin?
Der Wahl-Beobachter-Rundgang über die Marktallee beginnt enttäuschend. Es ist Samstagvormittag, da sitzen die Hiltruper vermutlich noch am Frühstückstisch, oder sie sind schon zum Shoppen und Bummeln in die Stadt gefahren. Auch Wahlplakate sind nicht zu sehen.
Aber hoppla – hingen hier nicht noch vor Tagen Unmengen von AfD-Plakaten? Ein Blick nicht zum Himmel, sondern hoch zum Laternenpfahl: Ein helles Schwänzchen ist zu sehen, ein liederlich festgemachter und nicht gekürzter Kabelbinder. Sonst nichts. Kein Plakat, kein gar nichts.
Das gleiche Bild ein paar Pfähle weiter. Dann endlich das erste Plakat.
„Macht Europa sozial“, den Slogan und ihr Namensschild hat eine nicht besonders vorteilhaft fotografierte Frau vor Bauch und Brust. Na ja, nicht gerade ein Hingucker, und der Slogan eher verdeckt europafeindlich: Europa sei unsozial, wird hier suggeriert. Die Hintergrundfarbe Blau könnte glatt von der AfD abgekupfert sein. In manchen Dingen treffen sich eben die Rechts- und die Linksaußen.
Einige Pfähle weiter ergibt die Spurensuche erste Hinweise. Ein paar Kabelbinder stehen seitlich ab wie die Stacheln des Stachelschweins und halten ein winziges blaues Fetzchen fest. Hier muss entweder die linke Dame gehangen haben, was eher unwahrscheinlich ist, oder die AfD!
Vor dem Bioladen stehen die aufrechten Wahlkämpfer der Grünen. Über ihren Häuptern verkündet ein Plakat die Botschaft, Klimaschutz kenne keine Grenzen, und zeigt ein paar bunte Vögel – hm, fragt man sich, die Folgen des Klimawandels kennen sicher keine Grenzen, aber der Klimaschutz? Erleben wir nicht seit Jahrzehnten, welche Rolle Grenzen bei diesem Thema spielen, man braucht gar nicht bis zu Trump zu gehen: Lähmt uns nicht gerade die Kleinstaaterei, angefangen bei der bayrischen Grenze? Nun, man muss das Plakat übersetzen. Wir brauchen Europa, um wenigstens ein Mindestmaß an Klimaschutz durchzusetzen. Europa zwingt die Autoindustrie, den Spritverbrauch zu senken, Europa zwingt die Hersteller von Haushaltsgeräten, den Stromverbrauch zu senken, ohne die Europäische Union läuft wenig im Klimaschutz. In Schulnoten: Befriedigend für die gute Absicht der Verfasser, mangelhaft für die Umsetzung als Plakat!
Die Grünen haben noch gar nicht bemerkt, dass ihnen die AfD verloren gegangen ist, plakatmäßig sozusagen, wir schauen weiter.
Wir finden noch ein paar Erinnerungen an verschwundene Plakate, und wir finden noch einmal die Grünen und die Linke.
„Nicht bange machen lassen“ rufen die Grünen uns hier zu. Na schön, das ist allgemeine Lebenshilfe für jedermann, so allgemein, dass man gar nichts mehr damit anfangen kann. Wer hat denen bloß diese Plakate verordnet?
„Mindestlöhne rauf“ heißt es bei den Linken, ein typischer Fall von Trittbrettfahren. Dies Thema wird nun mal, ihr Linken, von einer anderen Partei schon seit langer Zeit gespielt, und zwar mit Erfolg. Die SPD hat den Mindestlohn in Deutschland durchgesetzt, gerade unternimmt sie einen Anlauf, gegen den Widerstand der CDU auch die Paketfahrer wirksam einzubeziehen. Nein, so ein Plakat ist einfach nur ein Plagiat: Setzen, ungenügend!
Schließlich bekommen wir doch noch etwas von der AfD zu sehen. Ein Fetzen Blau, es sieht tatsächlich aus wie bei der Linken, und ein paar ausgefranste Buchstaben. Mehr nicht.
Dafür präsentieren sich die Linken ein paar Meter weiter zusammen mit der ödp. Bei der ödp gibt man sich lässig und trägt Pullover, aber auch sie schwächelt eindeutig bei den Inhalten. „Für ein Europa mit Zukunft“ heißt es hier, wer könnte etwas dagegen haben. Friede, Freude, Eierkuchen und einen schönen Tag noch – bislang hat niemand erklären können, wofür diese Partei eigentlich gebraucht wird und warum man seine Stimme an diese Liste verschenken sollte. Denn im europäischen Parlament etwas bewegen kann die ödp nicht.
Doch bevor uns der ganz große Wahl-Frust anfällt, gehen wir lieber zum Herz von Hiltrup, dem Café Klostermann an der Marktallee. Auf dem Weg dahin erfreut uns ein Stillleben, der Kinderarzt lässt Blumen blühen vor seiner Praxis neben Klostermann.
Ein Stück weiter lockt die Fülle des Lebens, bunter als alle Wahlplakate grüßen die Zeitschriften vor dem Laden.
Was bleibt sonst noch? Natürlich, das Urgestein der Hiltruper FDP! Auch der FDP fehlen die jungen engagierten Wahlkämpfer, die bei Wind und Wetter auf der Straße missionieren, da müssen die Alten ran.
Ich werde gebraucht? Tätowierter (das ist heute unverzichtbar) trifft Ringelpullover, damit sich was ändert. Andere Tätowierung ausprobieren, wenn auf diesem Körper noch was frei ist? Anderen Pullover anziehen? Oder soll sich sonst was ändern? Es ist immer wieder als ein Wunder der besonderen Art zu bestaunen, wie inhaltsleer sich Plakate gestalten lassen.
Da verspricht das letzte Plakat – auch wenn es vielleicht ein bisschen klein ist – auf diesem Rundgang mehr Inhalt.
Was wir heute auf der Marktallee nicht gesehen haben, sind die großen alten Parteien. Das mag zum einen daran liegen, dass die AfD im Sturm alle möglichen Plakat-Standorte besetzt hatte; solange die AfD-Plakate hingen, war kein Platz mehr für die anderen. Aber die Abwesenheit von CDU und SPD sagt auch eine Menge über den Zustand der ehemaligen Volksparteien aus: Sie können das Fußvolk der Parteimitglieder nicht mehr aktivieren, und die Vorsitzenden und ihre Beisitzer mögen nicht mehr auf der Straße stehen und Zettel verteilen. Klar, Facebook, Twitter und Co. sind inzwischen wichtig geworden, aber: Ein wenig physische Präsenz auf der Straße, ist die wirklich verzichtbar geworden?
Nachtrag: Ein Plakat der AfD hat den Bildersturm auf der Marktallee überlebt. So weit oben, dass die Rowdys nicht heran kamen, hängt Meuthen an der Laterne. „Aus Liebe zu Deutschland“ verkündet er, wir kennen den Slogan, Aus Liebe zur Wäsche hieß das mal. 1956 war das, aber das Gestrige hat ja wohl Konjunktur bei dieser Partei. Und „Freiheit statt Brüssel“, man reibt sich die Augen vor so viel Dreistigkeit. Die EU mag ja Fehler haben, aber sie steht für ein Mindestmaß an bürgerlichen Freiheiten. Die EU verteidigt die bürgerlichen Freiheiten gegen Kaczyński, Orbán, Salvini und auch: gegen Meuthen und seine AfD.
(Wie es drei Wochen später mit den Wahlplakaten auf der Marktallee am Tag der Europawahl aussah, können Sie hier nachlesen.)