Der sehr tödliche Herr Streeck

Westfälische Nachrichten als Plattform für Querdenker?

Man mag es ja schon gar nicht mehr hören. Trotzdem bleibt der Blick hängen an dem Artikel in den Westfälischen Nachrichten (14.1.2021). Die Überschrift ist ein Zitat, „Kein Grund, in Panik zu geraten“. Schön, wirklich schön ist es, endlich wieder einmal Beruhigendes zur Corona-Pandemie zu erfahren! Und dann noch von einem echten Virologen! Ein großes Foto von Herrn Streeck ist der Aufmacher, Streeck persönlich im münsterschen Dom, und Streeck verkündet Heilsbotschaften. Es ist ein Interview, nach den Regeln der journalistischen Kunst also ein Text, der von Streeck persönlich gegengelesen und freigegeben ist.

Im Interview eiert Herr Streeck herum, anders lässt es sich nicht zusammenfassen. Auf die Frage nach harten Maßnahmen und einer Verlängerung des Lockdown verweigert er die Antwort. Ein Virologe ohne Meinung. Er ist nur „skeptisch“, ob die Infektionszahlen in diesem Winter sinken werden. Dafür hat der Mann so lange studiert! Nein, Vorschläge zur Eingrenzung der Pandemie hat er nicht zu bieten.

Stattdessen legt Herr Streeck eine interessante Fährte. Er spießt den „Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100000 Einwohner“ auf. Kritischer Wert oder Schwellenwert heißt er in den Medien auch, und genaue Wissenschaftler erklären noch, dass es sich um die Zahl der Infektionen pro Woche handelt. So genau formuliert Herr Streeck erst gar nicht, denn er weiß: Die Politiker sind schuld. Die 50 sind ein „von der Politik definierter Grenzwert“, der „ein völlig falsches Bild“ vermittelt. Man muss sich diese Äußerung auf der Zunge zergehen lassen. Das ist doch alles Quatsch, versteht man als unbefangener Leser, das haben doch nur „die Politiker“ erfunden!

Streeck liefert die Pseudobegründung gleich mit. Alle Zahlen seien unsicher, dazu seien es auch die falschen Zahlen, nur bedingt aussagekräftig. Bleibt die Frage, welche Datengrundlage – und welche Maßnahmen – Herr Streeck vorschlägt? Er hat keine Antwort.

Die von den Medien berichteten Mutationen des Corona-Virus muss man ernst nehmen, sagt Streeck, aber er wiegelt gleich ab: Die Infektiosität habe nicht die Dimension von Masern, kein Grund zur Panik. Masern? Das hatten wir doch als Kinder, das musste man einfach durchmachen, das ist heute doch kaum noch ein Problem (immer die mit ihrer Impfpflicht)? Also Corona = Masern = alles ganz harmlos? Ja, so ist das wohl gemeint. Streeck sagt es ganz offen: „Dieses Virus ist Gott sei Dank für den Großteil der Bevölkerung ungefährlich.“ Eine kleine Einschränkung fügt Streeck dann aber doch hinzu, „für einige aber sehr tödlich“. Nicht einfach tödlich, sondern sehr tödlich, sozusagen toter als tot.

Soll also die alte Regel für den Transport von Schüttgütern gelten, ein bisschen Verlust ist immer? Nein, so weit mag Streeck nicht gehen, schließlich hat er ja auch im Dom gesprochen. Sehr tödlich ist Corona nur für die Älteren, für die Immunschwachen in den Heimen, sagt er, und an dieser Stelle wechselt Streeck in den pluralis maiestatis: „wir haben gefordert“, nämlich „umfangreiches Testen, Besucherauflagen, Schleusen und andere Maßnahmen“. Sperrt sie weg, die Alten! Und sperrt mit ihnen weg: Die Ärzte, die Pflegekräfte, die Hausmeister, die Lieferanten von Lebensmitteln und Pflegematerial, die Müllabfuhr, die Beerdigungsunternehmer, also alle, die irgendwie Kontakt mit ihnen haben. Alle? Auch deren Familienangehörige, Nachbarn und Freunde? Jeder weiß, dass das unmöglich ist. Niemand ist eine Insel, das hat auch das Meyer-Suhrheinrich-Haus in Hiltrup erfahren müssen. Auch wenn man die Pflegekräfte von ihren Familien trennt und im Hotel kaserniert, schafft es das Virus hinein und tötet.

Streeck will uns weis machen, Corona sei harmlos. Er ignoriert die schweren Verläufe auch bei Jüngeren. Er lässt jede Solidarität mit den Älteren vermissen. Das ist verantwortungslos.

Eine Frage nur zum Schluss: Warum bieten die Westfälischen Nachrichten einem solchen Querdenker unter dem Deckmantel des Professorentitels die Bühne zur Verbreitung dieser Sprüche?