VorLeseClub zu „30 Jahre Tschernobyl“
Herzlicher Händedruck im Hiltruper Museum: das Symbol der Verbundenheit, der friedliche Handschlag stand als Zeichen des Brückenschlags über der Lesung des Hiltruper VorLeseClubs am 7.7.2017 im Hiltruper Museum. 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bot der VorLeseClub mit beeindruckenden Texten den Rahmen für die Präsentation des Buchs „Der Tschernobyl-Weg“ durch den Koautor Burkhard Homeyer, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl“. An dem Programm des Abends waren auch Jugendliche aus Belarus (Weißrussland) beteiligt, die bis zum 16. Juli auf Einladung der Hiltruper Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ einen Ferienaufenthalt bei Gasteltern in Hiltrup und Amelsbüren verbringen.
Hans Muschinski als Hausherr des Hiltruper Museums ließ es sich nicht nehmen, das Publikum an diesem Abend persönlich zu begrüßen, bevor er sich wegen eines weiteren Termins vorübergehend entschuldigen musste.
Die Textauswahl durch den VorLeseClub war getragen von dem Gedanken, die von der Katastrophe unmittelbar betroffenen Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. In der Generalprobe vor der Veranstaltung hatte sich herausgestellt: schon für die Vorleser waren die geballten Texte aus Belarus und aus der Ukraine ohne einen begleitenden Rahmen und ohne Kommentar schwer zu ertragen, zu nah sind sie an existentieller Herausforderung. Die positive Brücke in die Gegenwart bauten die Berichte von Burkhard Homeyer aus seiner langjährigen Arbeit für bürgerschaftliche Selbsthilfe und Solidarität, die neben den Tschernobyl-Gruppen in Deutschland mit ihrem Ferienprogramm für Kinder und Jugendliche aus Belarus auch vielfältige Inititiativen der Menschen in Belarus selbst unterstützen half. Und dann wollte es der Zufall, dass gerade zum Zeitpunkt der schon länger geplanten Lesung die Gruppe aus Belarus in Hiltrup war; sie konnte die Verbindung zur Gegenwart herstellen.
Tschernobyl Baby (Merle Hilbk), vorgetragen von Heide Kraft, ist eins der Bücher, die die vom Unglück Geschlagenen erzählen lassen: von Strahlenkrankheit, unsinnigen Befehlen, fehlender Hilfe, Armut und Krankheit. Hier steht das Elend im Vordergrund, mit den Folgen allein zu sein.
Der von Gunthild und Henning Klare vorgetragene Text „Monolog über Opfer und Opferpriester“ aus Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch) geht einen Schritt weiter. Die Erschütterung durch den Unfall, die Erfahrung des nicht-vorbereitet-Seins brechen den Alltag des Aufbaus nach dem II. Weltkrieg und des sich Arrangierens; die Menschen fragen sich nach ihrer eigenen Rolle und nach ihrem eigenen Stellenwert. Selbstreflexion ist das Thema, die Menschen fragen sich, was Tschernobyl aus ihnen gemacht hat und für sie bedeutet.
Swetlana Alexijewitsch lässt im Abschnitt „Kinderchor“ auch die Kinder zu Wort kommen. Einige dieser Kurztexte wurden von Aliaksandra Hramyka und Tatsiana Smirnova vorgetragen.
Burkhard Homeyer, ehemaliger Studentenpfarrer in Münster, stellte das Verbindende in den Mittelpunkt seines kurzen Beitrags. Das Buch Der Tschernobyl-Weg von Alexander Tamkowitsch, an dem er mitgearbeitet hat, ist das Ergebnis einer inzwischen jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit der weißrussischen Zivilgesellschaft. Aus dem Kontakt zu der Germanistik-Fakultät einer weißrussischen Universität entstand ein intensiver Austausch; die ungefähr 300 deutschen Initiativen „Den Kindern von Tschernobyl“, die jährlich Ferienaufenthalte von Kindern und Jugendlichen in deutschen Familien organisieren, haben ihren Namen übernommen von der ursprünglich in Belarus gegründeten Bewegung.
Baba Dunjas letzte Liebe von Alina Bronsky, vorgetragen von Heide Michels-Heyne und Anne Sandfort, war der Kontrapunkt zu den vorhergehenden Texten: eine alte Frau widersetzt sich ganz entschieden allen Warnungen. Sie will den Verlust der Heimat, den Verlust des ländlichen Lebens in dem alten verstrahlten Haus nicht hinnehmen – ein Motiv, das auch von Swetlana Alexijewitsch beschrieben wird. Baba Dunja kehrt zurück, rodet den verwilderten Garten und richtet sich in der Natur und in dem zeitweise aufgegebenen Haus wieder ein: was soll mir noch passieren, sagt sie ihrer Tochter und den Messtrupps in den Strahlenschutzanzügen ins Gesicht.
Heinz-Ludwig Leding las den sarkastischen Abschluss „Statt eines Epilogs“ von Swetlana Alexijewitsch: „Ein Kiewer Reisebüro bietet Touristenreisen nach Tschernobyl an … Besuchen Sie das atomare Mekka … Zu gemäßigten Preisen …“ – eine Einladung, sich nicht im Gaffen zu verlieren.
Farbenprächtige Blumen überreichte Gerda Hegel den Jugendlichen aus Belarus als kleinen Dank für ihre Mitwirkung. Nach ihrem elften Besuch in Hiltrup kehren sie am kommenden Wochenende in ihre Heimat zurück, mit dem Abschluss ihrer Schulzeit geht für sie das organisierte Ferienprogramm der Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ zu Ende. Sie gehen jetzt in eine Berufsausbildung oder ins Studium. Die Verbindung zu den Gasteltern in Hiltrup und Amelsbüren wird sicher nicht abreißen.