Von der Schwierigkeit des Gedenkens

Der Urgroßvater wurde vom deutschen Kaiser und seinem Heerführer Hindenburg in Uniform gesteckt und auf den Hartmannsweiler Kopf geschickt. Dort entkam er knapp dem Tod. Am 2.3.1920 bekam er als entlassener Kriegsgefangener im Heimkehrlager Rennbahn in Münster einen Entlassungsanzug, „complett erhalten“, und 50 Mark Entlassungsgeld.

Die Urgroßmutter schlug sich sechs Jahre mit zwei Kindern und ohne Unterstützung durch.

Ein Onkel wurde in diesem Krieg von einer Granate zerrissen. Eine Blechmarke blieb von ihm über.

Ein Onkel kam aus dem Krieg zurück und sammelte seine jüngeren Geschwister wieder ein, die bei anderen Leuten verteilt worden waren.

Ein Großvater wurde als Junge gefangen und ins KZ gebracht.

Ein Onkel kam mit zerschossenem Arm aus dem Krieg zurück. Als Schmied konnte er nicht mehr arbeiten.

Ein Großvater musste sechs Jahre in den Krieg. In Belarus musste er Partisanen bekämpfen. Nachts träumte er später Schreckliches und rief um Hilfe.

Ein Industrieller in Münster machte sich gern einen Spaß: Wenn er Gäste hatte, warf er „seinen Russen“ ein paar Kartoffeln über den Zaun. Dann lachten sie, wenn die ausgehungerten Russen sich um die Kartoffeln balgten.

Ein Onkel kam mit zerschossenem Arm aus dem Krieg zurück, er konnte zurück in seinen Beruf.

Ein Großvater war Kind, als er in der Ukraine gefangen wurde und nach Hiltrup ins Lager Waldfrieden kam.

Ein Kind aus Belarus stand im Stadtmuseum Münster vor den KZ-Fotos. Zum Erschrecken seiner Gastgeber sagte es: „Da war mein Großvater.“

In dem Land, in dem der Urgroßvater sechs Jahre gefangen war, kommen die Alten immer wieder mit Uniformen und Schärpen zu ihren Siegesdenkmalen. In der Mitte steht ein Denkmal, drum herum dicke Granatenhülsen.

In dem Land, in dem der Großvater als Junge gefangen wurde, stehen überall Denkmäler und große Fotos der siegreichen Generäle.

All diese Länder haben furchtbare Erinnerungen, alle beklagen Opfer. Opfer hat es auf allen Seiten gegeben. Die Gewalt wirkt fort. Einmal im Jahr versammeln sich die Überlebenden und ihre Nachfahren. Sie halten die Erinnerung an die Schrecken wach, um neue Schrecken zu verhindern. Sie wollen nicht gegeneinander aufwiegen, wer die größeren Schrecken erlebt hat, wer sie verschuldet hat, wen sie vor den neuen Schrecken bewahren wollen.

Hiltrup tut sich schwer damit. Den Zwangsarbeitern des Lagers Waldfrieden in Hiltrup mochte die CDU ursprünglich kein Denkmal setzen, der Vorstoß eines Geschichtslehrers in der CDU fand keine Mehrheit. 2007 und 2008 lehnten dann CDU und FDP in der Bezirksvertretung Hiltrup einen neuen Anlauf ab. 2009 ermöglichte erst eine Spendenaktion der SPD Hiltrup-Berg Fidel, die letzte Finanzierungslücke zu schließen.

„Schlimm genug“ kommentiert ein CDU-Vertreter im Jahr 2021 die Beteiligung der Kirchen an dem ökumenischen Gedenken in der Pfarrkirche St. Clemens (Westfälische Nachrichten 13.11.2021).

Gibt es denn immer noch die richtigen und die falschen Toten? Die richtigen und die falschen Trauernden?

Was es jedenfalls noch gibt, das sind die falschen Töne. Im Ton vergriffen hat sich sicherlich die CDU. Falsche Töne kommen aber auch von Seiten des VVN-BdA, wenn in einem Youtube-Video vom 13.11.2021 Filmszenen auf dem Hiltruper alten Friedhof gezeigt werden mit dem Untertitel „Volkstrauertag – Gedenken an den Gräbern von Zwangsarbeiter:innen am 15. November 2021 auf dem alten Friedhof in Münster-Hiltrup“.