Hiltrups Rückseite, zu Fuß
Ab und zu muss man Hiltrup aus der Nähe betrachten: Nicht das Vereinsfest in der Lokalzeitung, sondern einfach los laufen und die Augen offen halten. Am besten am Sonntag; weder Rushhour noch Einkaufsrummel verstellen das Bild. Hiltrups Rückseite, das ist der perfekte Kontrast.
Die Rückseite von Hiltrup, das muss man leider zugeben, fängt schon an der Westfalenstraße an. Das Gelände um die Stadthalle liegt öde und leer. Ein Banner an der Front spricht von einer Aktivität, aber der Zustand von Platz und Gebäude spricht eine ganz andere Sprache: Hier ist nichts los, geh nicht hier hin! Da helfen auch all die Statistikzahlen nicht, die von interessierter Seite regelmäßig verbreitet werden; der ganze Komplex fragt unaufhörlich „Wofür bin ich eigentlich da?“. Die von der grün-schwarzen Ratsmehrheit beschlossenen Reparaturen werden darauf keine Antwort geben können, das dringend benötigte Betriebskonzept fehlt nach wie vor.
Geht man einige Meter die Westfalenstraße entlang, lockt die Sonne in den Park des ehemaligen Paterklosters. Im Sommer ist das Gelände durch das Laub der Bäume optisch abgeschirmt, jetzt leuchten auch hier die Blüten der Zierkirschen. Dem alten Kloster ist auf den ersten Blick nicht anzusehen, dass wir auch hier eine Problem-Immobilie vor uns haben. Am Eingang gibt es nur eine riesige, namenlose Klingeltafel, und es ist auch für Fremde nicht schwer, ins Gebäude zu gelangen; Immer wieder hört man von unschönen Verhältnissen
Vor mehr als 100 Jahren hat der Kanal eine scharfe Grenze zwischen Hiltrup und dem Umland gezogen. Das Farbenwerk Glasurit (bzw. BASF) hat sich hier am Kanal entlang immer weiter ausgedehnt. Das Centro Español Hiltrup war 1967 ein großer Schritt zur Integration von „Gastarbeitern“, es ist seit über 50 Jahren Zeuge von Einwanderung. Heute wirkt es optisch geradezu verloren, eingequetscht zwischen dem Lager von BASF und dem Kanal.
Auf der anderen Seite des Kanals sieht man den früheren Bauernhof Peperhowe liegen, er wirkt wie eine Erinnerung an die vergangenen Zeiten des Bauerndorfs Hiltrup, eingegrenzt von Kanal und Eisenbahn.
Die Industrieanlagen von BASF liegen gegenüber, sie bilden einen kräftigen Kontrast und haben mit ihren Farben und Formen ihre eigene Ästhetik.
Besprühte Brücken-Widerlager auf der einen Seite – auf der anderen Seite sitzt völlig unbeeindruckt von dem Industrieszenarium ein Angler.
Wenn er den Blick hebt, kann er sich wie in fernen Ländern fühlen: Hiltrup hat hoch aufragende Sandberge. Wenn es auch nur das Lager der Firma BLR ist, hat der Kegel doch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Reiseprospekt.
Die Prinzbrücke einige Gehminuten weiter entwickelt sich nach und nach zu einer Sehenswürdigkeit der besonderen Art. Die vor Jahren angebrachten Verstärkungsbleche setzten Rost an wie die gesamte übrige Brücke. Unterhalb der Brücke ist ein ständig wachsendes Netzwerk von Verstrebungen angebracht, damit sie die Baustoff-Laster tragen kann. Überall machen sich Graffiti breit.
Der lachende Totenkopf schaut genau auf die kritische Stelle, wo Radverkehr und LKW-Schwerlastverkehr sich kreuzen und begegnen. Eine Verbesserung dieser gefährlichen Situation durch den Bau des „Ohrs“ für den motorisierten Verkehr und den Neubau einer Brücke nur für Fußgänger und Radfahrer ist lange überfällig. Dagegen stehen in der öffentlichen Diskussion allein die Grünen mit ihrer fatalistischen Haltung, es sei ja bislang noch kein Unfall passiert.
Auf der anderen Seite der Bahn müht sich am Sonntag ein Bäcker, ein wenig Leben in die futuristische Fläche zwischen Bahnhof und Supermarkt zu bringen.
Die dicken Lüftungsrohre wirken in der Sonntagsruhe, wenn die Flächen im Übrigen fast leer sind, sehr fremdartig, wie Duckdalben im Seehafen; nur, welche Schiffe werden hier anlegen?
Aus der Nähe betrachtet fühlt man sich eher in ein Industriegebiet versetzt, ein Eindruck, der durch die bedrohlich überhängende Fassade noch verstärkt wird.
So gut die Einzelhandelsflächen am Bahnhof in der Woche funktionieren mögen: Am Sonntag ist man heilfroh, wenn man die gute alte Marktallee wieder erreicht hat. Vielleicht findet ja nicht jeder den Anblick der Schnuller und des Bärchens im Fenster der Zahnarztpraxis schön, und das alte Haus mit seinen nur zwei Geschossen signalisiert nicht gerade, dass hier die städtische Moderne zu Hause ist: Aber der kleine Maßstab mit den kleinen Nettigkeiten hat eine sehr menschliche Note.