Von Baccarat nach Bruyères
(Fortsetzung von Rad-Reisen: Lothringen III)
Man gewöhnt sich: Die zweite Nacht im Zelt war schon besser. Der Schlafsack fühlte sich nicht mehr wie eine Zwangsjacke an, und richtig aufgeblasen bietet die Leichtgewichtluftmatratze sogar einen Hauch von Komfort. Plötzlich liegt eine Tüte mit den am Vorabend bestellten Croissants im Zelteingang, der Tag fängt gut an!
Baccarat liegt im Flusstal der Meurthe, also muss man Richtung Rambervillers erst einmal klettern. Auf der D435 ist nicht viel Verkehr, Autofahrer hupen den Radfahrer auf der Steigung an und recken anerkennend den Daumen nach oben. Nach wenigen Kilometern bietet sich die Gelegenheit, die D435 zu verlassen und auf schmalen stillen Sträßchen durch kleine Dörfer zu fahren. Nach einer kurzen Strecke im Wald öffnet sich die Landschaft.
Die Dorfstraße von Bazien zeigt das typische Bild, die kleinen Häuser sind aneinander gebaut, neben dem Torbogen wenige kleine Fenster, Bewohner sind nicht zu sehen.
Das gleiche Bild im nächsten Ort, Nossoncourt hat immerhin eine öffentliche Wasserstelle in Betrieb.
Nossoncourt wirkt in der Rückschau wie ein winziges Spielzeug unter großem Himmel in weiter Landschaft.
Im nächsten Ort Anglemont fällt ein etwas größeres Haus ins Auge. Dieser Bauer hatte mal mehr Besitz als seine Nachbarn, die Bildhauerarbeit mit der leeren Muttergottes-Nische über der Haustür erzählt von vergangenem Wohlstand – jetzt steht das Haus leer und verfällt.
Am Dorfende ist zu entscheiden, wie es weitergehen soll zum Zwischenziel Rambervillers: Zurück auf die D435 oder auf abenteuerlichem Rumpelpfad durch den Wald? Die analoge Karte kennt den Rumpelpfad nicht, Google und Apple schon, einen Versuch ist es wert. Also ab in die Rue de la Chapelle, vorbei an einer kleinen Landwirtschaft mit einem jungen Mann in Mönchskutte, weiter auf einem groben Feldweg. Felsbrocken auf dem Weg zeigen, dass Autos hier gar nicht erwünscht sind, aber mit dem Rad ist auch das große Schlammloch mitten im Wald kein Problem.
Der Weg wird wieder besser und verlässt den Wald, plötzlich weitet sich der Blick.
In den Feldern des flachen Tals liegt ein aktiver Bauernhof, das angedeutete Türmchen zeigt (früheren?) bescheidenen Wohlstand an.
Die Einfahrt nach Rambervillers mutet wie eine Geisterbahn an. Die Häuser an der Straße haben bessere Zeiten gesehen, die meisten Läden im Erdgeschoss sind leer. Die grotesk proportionierte Kirche erzählt, dass man hier einmal Großes vorhatte und nach einer kurzen Bauphase klein aufgehört hat. Die Straßen sind völlig menschenleer; es ist Mittagszeit und heiß, aber diese Leere geht über die normale Mittagsruhe hinaus.
Vor dem Café zur Post mitten in der Hauptstraße steht der Patron, wenigstens kann man hier einen Kaffee bekommen. Die einfache Holzplattform vor dem Café bietet keinen Schatten, hier ist kein Geld für Sonnenschirme. Der Wirt kommt aus dem Elsass und erzählt vom Niedergang des Örtchens: Vor 30 Jahren 4.000 Einwohner, jetzt 2.500 – die Zahlen stehen für sich. (Laut Wikipedia ein Rückgang um 2.000 Einwohner in 50 Jahren.) Eine Wohnung von 120m² sei hier für 500 Euro zu mieten, für 50.000 Euro könne man ein großes Haus mit ein paar Hektar Grund kaufen, die jungen Leute verlassen den Ort; wenn die Spanplattenfabrik als größter Arbeitgeber am Ort zumachte, würden hier die Lichter ausgehen.
In seltsamem Kontrast zu diesem Elend steht wie ein Leuchtturm das schön aufgemachte und gepflegte Geschäftslokal von Patissier Chocolatier Schwartz gegenüber der Kirche. Nach der Pause am Café zur Post hat Schwartz wieder geöffnet und verkauft leckeren Kuchen als Reiseproviant – wie lange wird sich dies Juwel in dieser Umgebung noch behaupten können?
Bruyères südöstlich von Rambervillers ist das Tagesziel, die D50 hat fast keinen Autoverkehr und steigt ganz sanft im flachen Bachtal der Mortagne an.
An der Straße steht ein Tor offen, das ehemalige Kloster des winzigen Ortes Autrey lädt zu einer Rast ein. Im botanischen Garten sitzt jemand auf dem Rasenmäher und telefoniert, ein Tisch und Stühle warten auf Gäste.
Auf dem Tisch liegen die klebrigen Früchte des großen Baumes darüber, der botanische Garten hat eine längere Tradition.
Bruyères liegt ungefähr 200 Meter höher als Rambervillers, also ist auf dem letzten Teil der Strecke dann doch noch eine ordentliche Steigung zu bewältigen. Bruyères präsentiert sich lebendig und gepflegt wie ein Gegenstück zu Rambervillers, und Richtung Herpelmont gibt es einen Campingplatz an einem kleinen See. Google Maps hilft auf den letzten Metern eine weitere Steigung zu vermeiden und führt über einen recht rumpeligen Feldweg direkt zum Campingplatz. 46 Kilometer mit Steigungen und Hitze, für heute reicht es!
Der Campingplatz Domaine des Messires wird von Holländern geführt, die Gäste sind überwiegend Holländer; der Platz ist teuer, 40 Euro kostet die Nacht im Zelt, und der Service ist hundsmiserabel. Der zugewiesene Platz („direkt am See!“) entpuppt sich als eine Art steiniger Parkplatz, ein Zelt kann man hier nicht aufbauen, nur das Auto des holländischen Nachbarn steht darauf.
Es braucht einige Überredung, bis die Platzbetreiber einen freien Grasplatz für die eine Nacht herausrücken – den gibt es nämlich, ruhig am Rand des Campingplatzes gelegen.
Fortsetzung: Von Bruyères bis Le Thillot.