Mit dem Wohnwagen in die unbekannte Nähe: Idar Oberstein
Die Harfenmühle versorgt ihre Gäste mit umfangreichem Prospektmaterial, eine Karte mit den touristischen Highlights der Region macht neugierig. Edelsteine sind das Thema, durch Stollen wurden sie gefördert, in vielen „Schleifen“ werden sie heute noch bearbeitet, Idar-Oberstein ist das Zentrum. Also auf nach Idar-Oberstein! Der Weg führt durch abgelegene Dörfer, wenig ansprechend, und auf das Kommando „Stadtmitte“ führt das Navi zunächst nach Idar. Nicht weit von der Fußgängerzone findet sich ein trister Parkplatz am Firmengelände von Fissler, und trist ist auch der Rest. Eine Fußgängerzone ohne Fußgänger, die üblichen architektonischen Gewalttaten der Sparkasse, ein Platz mit einem merkwürdig deplatzierten Musikpavillon, gegenüber der Brutalbau der Diamanten- und Edelsteinbörse mit großem Banner „Gewerbeflächen zu vermieten“ – hier stimmt rein gar nichts, schnell flieht man diesen Ort, um nach Oberstein zu gelangen. Dort sei die historische Altstadt, die berühmte Felsenkirche, die Burg, man macht sich auf den Weg. Landet auf einer Autorollbahn in dem engen Tal, unter ihr haben die Stadtväter vor Jahren den Fluss einbetoniert. Ein öder Parkplatz, ein ödes Parkhaus unterhalb der Hauptstraße, und als Blickfang auf der Hauptstraße: ein Outlet. Das ist die historische Altstadt? Man schaut nach oben und erstarrt.
Die Dame ohne Unterleib, sonst nur auf dem Jahrmarkt zu sehen, Oberstein hat sie an die Hauptstraße geholt. Dem altehrwürdigen Gebäude hat man das Erdgeschoss weggenommen, stattdessen hat man an dieser Stelle eine Art Betonbunker installiert. Der ist mausetot, steht leer; das Schild, dass dort im Frühjahr 2019 neues Leben einziehen sollte, hat man noch nicht einmal abgehängt. Eine Haus-Leiche.
Nebenan ist eine Platz-Leiche zu besichtigen. Grau in grau, menschenleer, im Hintergrund dräut eine verwegen-abweisende Kirchenkonstruktion, eine Art Turnhalle mit einer langen Treppe davor. Treppen konnten frühere Architekten wunderbar gestalten, hier ist es eine Notlösung mit dem Schild „Aufenthalt auf der Treppe verboten“ – und daneben zum Hohn ein Schild mit der Aufschrift „Städtebauförderung“. Da hilft auch der obligatorische Springbrunnen nicht.
Was hat Oberstein sonst noch zu bieten? Nun, die Stadtväter – das können nur Männer verbrochen haben! – haben ganze Arbeit geleistet. Den Blick von der Hauptstraße auf die angeblich weltberühmte Felsenkirche (wegen Steinschlag geschlossen) haben sie mit ein paar hässlich überdimensionierten 60er-Jahre-Bauten verbaut; wer will schon so eine Kirche sehen? Hier drängen sich die Ramschläden und schreien die Besucher an: „Echte Edelsteinketten, nur 2 Euro“ – billiger Schund, eine Stadt verkauft sich unter Wert.
In der entgegengesetzten Blickrichtung haben die Stadtväter alle vorhandene Bausubstanz grotesk unterminiert.
Was dort noch an alter Bausubstanz steht, hat fast vollständig das Untergeschoss verloren. Man hat Arkaden schaffen wollen und die alten Häuser im Erdgeschoss auf streichholzdünne Stützen gestellt; die Obergeschosse mit all ihrer Masse schweben darüber und wirken, als ob sie gleich auf die Passanten herunterfallen und das scheußlich-gelbe Betonpflaster gnädig bedecken könnten. Hier herrscht König Leerstand; mit Erstaunen bemerkt man, dass das Billig-Klamotten-Geschäft von ernsting’s family beinahe noch den edelsten Eindruck der gesamten Straße macht.
Man flieht. Zu bedrückend ist der Anblick, zu heftig der Eindruck von wirtschaftlichem Niedergang und Inkompetenz der Stadtväter.