Der Vorleseclub Hiltrup zelebriert das Lob der Langsamkeit
Die Lesung des Vorleseclubs Hiltrup am Nachmittag des 29. Juni im Café Marie auf der Marktallee mit dem Titel „Lob der Langsamkeit“ hat zahlreiche Besucher angelockt – die Plätze sind fast alle besetzt.
Und das mit Recht, denn der Vorleseclub stellt eine kleine Besonderheit im Kulturleben der Stadt Münster dar: Wer sich hier engagiert, tut das aus reiner Leidenschaft für Literatur – alle arbeiten ehrenamtlich. Und dies ist in der Tat keine kleine Leistung, hält man sich vor Augen, dass für jeden Monat des Jahres und noch darüber hinaus Lesungen geplant sind und stattfinden. Nicht zu vergessen der kreative Prozess, der im Vorfeld stattfindet: Jede Veranstaltung hat ihren thematischen Schwerpunkt. Ist dieser gefunden und abgestimmt, beginnt die Suche nach einem phantasievollen Titel und im letzten Schritt dann die Recherche nach passenden Texten für die geplante Aufführung. Was sagen die Vorleser/innen zu ihrer Motivation? Reiz ist gerade das, was anderen als Mühe erschiene: Streifzüge durch die Literaturlandschaft. Intensive und persönliche Auseinandersetzung mit Texten. Entdeckung von Neuem und Wieder-Entdeckung von Bekanntem. Und natürlich das Ereignis, die Lesung, der Kontakt mit dem Publikum. Konfrontiert mit einem Satz Franz Kafkas, der seiner Verlobten in einem Brief aus dem Jahre 1912 mitteilte: „Liebste, ich lese nämlich höllisch gern vor …“, gibt es seitens der Vortragenden volle Zustimmung. Nur die Fortsetzung des provokanten Zitats – „… in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl“ – erntet belustigte Gegenrede.
Ganz und gar ohne Gebrüll, aber mit allen Facetten der Vorlesekunst versehen, treten die heute sieben Vortragenden vor ihr Publikum. Mit Cees Noteboom erzählen sie von der überraschenden Gunst einer verspäteten Flugreise, die den Protagonisten auf einen Spaziergang schickt. Die unfreiwillige Pause lässt ihn den auf gefühlte 100 Jahre gedehnten Augenblick erleben. In der „Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny macht John Franklin mit seinem verzögerten Erlebnissinn die Erfahrung des feierlichen Erscheinens und Verschwindens der Landschaft. Im bekannten Märchen vom „Hasen und Igel“ (Ludwig Bechstein) siegt die Langsamkeit, gepaart mit Pfiffigkeit, über den bornierten Schnellrenner Hase. Hier schaltet sich das Publikum ein. Bei der gattungstypischen Formel „Und wenn sie nicht gestorben sind“ – ergänzt die Zuhörerschaft: „… so leben sie noch heute.“ Weiter im Programm tritt Momo aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ auf und löst ein Rätsel der Zeit. Der Vortrag wird mit Bravo-Rufen belohnt. Das Finale der wohlkomponierten Lesung ist das Gedicht „Mählich durchbrechende Sonne“ von Arno Holz. Ein klangvoller und durch Pausen im Vortrag fast meditativer Ausklang der Veranstaltung.
Langsam macht schnell glücklich… Dieser Nachmittag des 29. Juni war die Probe auf’s Exempel und – gemessen am eindrücklichen Applaus des Publikums – der Beleg dafür, dass die Formel stimmt.
(Text: Astrid Dehe)