Fälschung und Nachricht
Der Journalist Holger Möhle firmiert mal als Korrespondent der Rheinischen Post aus Berlin, mal als Verteidigungs-Experte des „Magazins für politische Kultur“ Cicero. Wer fragt, was Cicero ist, stößt auf interessante Meinungsäußerungen, dass Cicero zum Beispiel AfD-Gedankengut so elegant verpackt, dass es beim ersten Hinhören gutbürgerlich klingt. Und Möhle schreibt schneidig. Das geht schon mal knapp an der Wirklichkeit vorbei, wenn er zum Beispiel Marie-Agnes Strack-Zimmermann die Kunst bescheinigt, moderat im Ton zu bleiben. So muss man näher hinsehen, wenn dieser Möhle als einer von zwei Autoren eines Beitrags in den Westfälischen Nachrichten auftaucht.
Es ist ein fast halbseitiger Artikel auf Seite 4 der WN vom 29.6.2024. Diese Seite 4 trägt im Seitenkopf das Wort „Nachrichten“. An dieser Stelle wechseln sich gewöhnlich Lobhudeleien auf CDU-Politiker und scharfe Angriffe auf Nicht-CDU-Politiker ab. „Nachrichten“ setzt in einigem Kontrast zu dieser Praxis eigentlich einen journalistischen Standard: Die Nachricht ist einer der wichtigsten Informationstexte aus objektiver Perspektive. Angereichert mit weiteren Informationen kommt sie auch als (längerer) Bericht daher. Die handwerklichen Regeln für so einen Text sind öffentlich nachzulesen als sieben W-Fragen: WER / WAS / WANN / WO / WIE / WARUM / WOHER stammt die Information? (So beschreiben auch die seriösen öffentlich-rechtlichen Medien die Anforderungen.)
Coautor von Möhle ist Andreas Fier, den die WN als Chef von Dienst Newsdesk führen. Im ersten Anlauf stolpert der Leser, Chef vom Dienst heißt das anderswo, aber die Rechtschreibung mag ja in Westfalen ihre Eigenheiten haben. Fier schreibt Artikel wie SPD will Mindestlohn erhöhen: Ein Dammbruch, auch das setzt schon einmal einen schönen Grundton für den Artikel am 29.6.2024 „Annalena Baerbock gerät in Erklärungsnot“.
Aufmacher für Annalenas angebliche Erklärungsnot ist ein großes Foto. Es zeigt eine sehr nachdenkliche Ministerin, den rechten Zeigefinger vor dem Mund, als ob sie sich selbst den Mund zuhält, bloß nichts sagen, bloß nichts zugeben. Die diffuse Bildunterschrift – immerhin – verrät dann allerdings den Trick? „Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag. …“ lässt ahnen, dass dies Foto möglicherweise in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt des Artikels steht. Es ist nur im Bundestag aufgenommen. Die Auswahl des Fotos entspricht einem gern genutzten Verfahren der Seite 4: Optimistische Wohlfühl-Fotos bleiben den CDU-Politikern vorbehalten. Die andern müssen sich abfinden mit Fotos, die in Familie und Freundeskreis sofort nach der Aufnahme gelöscht worden wären.
Inhaltlich geht es um, ja worum eigentlich? Einreise von Afghanen, doch vergeblich sucht man die „objektive Perspektive“ der sieben W-Fragen. Der Anfang des Textes spekuliert über schlechtes Gewissen der Ministerin – „aus triftigem Grund“ schaut sie angeblich auf Pakistan – und über Gedankenspiele von Staatsanwaltschaften. Dummerweise enthält der gesamte Text nicht die Spur einer Nachricht vom Stand staatsanwaltlicher Ermittlungen – die Autoren wissen nicht zu berichten, was passiert ist. Sie legen nur eine Verdachtsspur.
Nach einigen blumigen Umwegen wird der Text brachial zugespitzt auf den „Verdacht der Urkundenfälschung“. Das sitzt. Und noch schlimmer: „Nun steigt auch der Druck auf Baerbock persönlich“ – aber wer drückt denn eigentlich? Nachrichtentexte über steigenden Druck auf irgendwelche Politiker haben, wenn sie journalistisch regelrecht geschrieben sind, einen Fakten-Hintergrund. Da fordern mächtige seriöse Akteure öffentlich Aufklärung, Konsequenzen, Rücktritt oder dergleichen und machen Druck, über diese Forderungen wird berichtet. Möhle und Fier berichten nichts dergleichen. Sie wollen selber Druck machen – Missbrauch der journalistischen Textsorte „Nachricht“.
Urkundenfälschung ist ein schwerer Vorwurf, erst recht wenn er gegen die Ministerin als Letztverantwortliche für ihren Geschäftsbereich erhoben wird. Sorgfalt ist gefordert beim Gebrauch dieses Wortes, moralische und strafrechtliche Verurteilung stehen im Raum. Man muss genau hinsehen: Stammt diese Urkunde in dieser Fassung von dem, der sie angeblich erstellt hat? Ist die Urkunde authentisch? Anders gesagt: Solange der Inhalt der Urkunde von dem stammt, der als Aussteller erscheint, ist sie nicht gefälscht – da kann der Inhalt der Urkunde ruhig unsinnig oder falsch sein.
Die Urkunden, über deren angebliche Fälschung Möhle und Fier spekulieren, sind Identitätsdokumente von Afghanen. Es geht um Menschen, die in Afghanistan für Deutschland gearbeitet haben oder die aus anderen humanitären Gründen nach Deutschland einwandern dürfen. Ganz legal, vor Ort von der deutschen Botschaft nach allen Regeln geprüft. Sie brauchen ein Visum in ihrem Reisedokument. Wenn ihr afghanischer Pass nicht in Ordnung ist, bekommen sie von der deutschen Botschaft einen „Reiseausweis für Ausländer“. Und in weniger als zwei Dutzend Fällen hat die deutsche Botschaft das Visum in das falsche – nicht gefälschte! – Reisedokument eingeklebt. Anders gesagt: Die Afghanen durften so oder so nach Deutschland, aber die deutsche Botschaft hätte ihnen andere Reisedokumente ausstellen müssen.
Der Sachverhalt ist so weit klar. Am Tag vor Möhles und Fiers Text hat Baerbocks Pressesprecher in der Regierungspressekonferenz die Einzelheiten erklärt. Von „Urkundenfälschung“ keine Rede.
Möhle und Fier vermengen ihren abwegigen Vorwurf der Dokumentenfälschung mit einem weiteren Vorwurf. Da sie keine der sieben W-Fragen mit Fakten beantworten können, formulieren sie den Vorwurf als Frage: Ob das Ministerium die Botschaft „aus ideologischen Gründen“ angewiesen habe, trotz aller Bedenken die Visa auszustellen. Nur „beispielsweise“ berufen Möhle und Fier sich auf einen AfD-Abgeordneten mit der weiteren Frage, ob die Ministerin das gebilligt habe.
Das ist starker Tobak. Und zwar gleich aus mehreren Gründen: Die aggressive, bei Licht besehen ehrabschneidende Anfrage eines AfD-Abgeordneten hat keinerlei Faktenbasis; Fakten erwarten die WN-Leser in einem Nachrichtentext, und Möhle / Fier liefern keine Fakten. Stattdessen machen sie sich zum Sprachrohr einer parteipolitischen Attacke vom rechtsradikalen Rand.
Starker Tobak ist daneben, wie hier zwei Sachverhalte vermengt werden. Denn die geschilderten falsch eingeklebten Visa haben nichts zu tun mit einem älteren Einzelfall der ganz besonderen Art. Da war das Ministerium durch ein deutsches Gericht verpflichtet worden, einen ganz bestimmten Menschen aus Afghanistan nach Deutschland einreisen zu lassen. Deutsche Botschaft in Pakistan und Ministeriumssachbearbeiter in Berlin standen sich gegenüber: Die Botschaft hatte Bedenken; der Berliner Sachbearbeiter hatte das Gericht im Nacken und löste den Konflikt durch Weisung im Einzelfall. Diese Weisung prüft seit einem Jahr eine Staatsanwaltschaft. Falsch eingeklebte Visa spielten in diesem Fall gar keine Rolle.
Ein ärmlich zusammengeschusterter Text ist das, den die WN uns da zugemutet haben.
Bis zum Ende sind sich die Autoren treu geblieben. Zwei Gerüchte vom Hörensagen liefern sie zum Abschluss. „Angeblich“ soll die Bundespolizei das Ermittlungsverfahren gegen mehrere Menschen in Gang gesetzt haben – ja, was denn nun? Wer war’s? Oder ist’s nur eine Parole auf den Fluren der AfD? Und „angeblich“ sollen drei Kilo Akten bei der AfD gelandet sein – ja, wie denn, wo denn, wann denn, wer hat’s gesehen, wer hat’s behauptet? Was steht denn drin in den angeblichen drei Kilo: Kompromittierendes? Geheimes? Alte Spesenabrechnungen und Urlaubszettel? Oder geht es hier nur darum, sich mit substanzlosen Gerüchten wichtig zu machen? Die AfD hat es sicher gefreut, dass sie ihre Parolen auf diesem Wege in den WN streuen konnte.
PS: Seriöse Berichterstattung über diesen Sachverhalt war in der Süddeutschen Zeitung vom 29.6.2024 (Seite 6) zu lesen.