Das tut weh

Erlebter Pflegenotstand

Personalmangel im Krankenhaus nimmt man als Meldung in den Medien wahr – und vergisst das Thema. Ja, die müssen dort schon schuften, aber berührt mich nicht wirklich. Bis man das „Gesundheitssystem“ selbst ausprobiert. Ein Routineeingriff in einer Fachklinik steht an (St. Josef-Stift Sendenhorst), wenige Tage stationär, dann ab in die Rehabilitation. So heißt es, so denkt man.

Die Routine entgleist am dritten Tag. Dem Patienten geht es schlecht. Er hat durch eine Nachblutung viel Blut verloren (HB 5,3 g/dl). Er telefoniert mit einer externen Ärztin, kann sich aber nicht mehr richtig artikulieren; reicht das Telefon an die Pflegekraft weiter, die gerade den Patienten im Nachbarbett versorgt. Die externe Ärztin fordert die Pflegekraft auf, einen Arzt zu holen – die Pflegekraft sträubt sich. Die externe Ärztin droht, die 112 anzurufen und den Notarzt ins Krankenhaus zu schicken – die Pflegekraft bleibt stur. Die externe Ärztin ruft die Pforte des Krankenhauses an, diese ist nicht besetzt. Auf anderem Wege erreicht sie schließlich telefonisch das Krankenhaus, dann geht es ganz schnell. Mehrere Ärzte erscheinen beim Patienten, Verlegung auf die Beobachtungsstation, die ersten zwei (von insgesamt sechs) Blutübertragungen zum Ausgleich der Nachblutung. Nachoperation zur Revision der Operationswunde, vergebliche Suche nach der Ursache der Blutung.

Was tut hier weh? Sicher nicht das medizinische Problem. Es kommt bei diesen Routineeingriffen höchst selten vor, aber shit happens. Weh tun die Mängel in der Pflege. Welche Qualifikation hatte die Pflegekraft, welche Erfahrung, warum hat sie nicht reagiert? Man mag ihr nicht böse sein, weil man ihren Hintergrund nicht kennt, ihre Arbeitsbedingungen auch nicht.

Die so drastisch entgleiste Routine verlässt an Tag 14 noch einmal den Pfad der Tugenden. Der Patient liegt jetzt schon 10 Tage länger im Krankenhaus als ursprünglich geplant. Er hat einen angenehmen Tag hinter sich, ein Ausflug mit dem Rollstuhl in den Park, einige kleine Gehstrecken auf eigenen Füßen. Nachts um 5 Uhr kommt der Schmerz. Er ist brutal, egal wie der Patient sich bettet und krümmt. Er klingelt, die junge Nachtschwester kommt. Sie weiß noch nicht, worum es geht, hat die Lösung aber schon in der Hand, ein Schmerzmittel. Nimmt das Stöhnen „Ich habe solche Schmerzen“ noch gerade eben zur Kenntnis, übergibt das Schmerzmittel und ist ganz schnell draußen. Das Schmerzmittel ist eingepackt, sie hat mit der Schere ein Stück von einer Blisterverpackung abgeschnitten. Der Patient windet sich vor Schmerz, braucht eine Weile, bis er begriffen hat, wie er die Pille aus der Verpackung bekommt. Der Schmerz bleibt. Der Patient windet sich weiter, hält sich mit einer Hand am Galgen über ihm, es hilft nicht. Er klingelt nach einer Viertelstunde wieder, wird belehrt, dass er warten müsse, und raus. Nach einer weiteren Viertelstunde klingelt er nochmals, bekommt zwei Novalgintabletten, und raus. Der Schmerz bleibt. Gegen 6 Uhr klingelt der Patient wieder, er kann es nicht aushalten. Jetzt sei gleich Übergabe, bekommt er zu hören, und man habe ihm alles gegeben was möglich ist. Gegen 6.10 Uhr erneuter Kontakt mit der Pflegekraft, sie verspricht, den diensthabenden Arzt zu holen. Und dann passiert gar nichts mehr. Gegen 7.30 Uhr kommt nach dem Schichtwechsel eine Pflegekraft der Frühschicht und fragt, ob der Arzt da gewesen sei; erfährt vom Patienten, dass der Arzt nicht da war; kündigt an, nochmals einen Arzt zu holen. Der Arzt kommt ungefähr eine Viertelstunde später, nach ungefähr 2,5 Stunden heftiger Schmerzen des Patienten. Er ist freundlich und kompetent, gibt ein Schmerzmittel, erhöht die allgemeine Schmerzmedikation. Der Schmerz geht.

Was hier weh tut? Zunächst die Empathielosigkeit, das Desinteresse der Nachtschwester: Wenn Du klingelst, hast du sicher Schmerzen, hier hast du eine Pille, und weg. Kein Gedanke, dass ein Mensch mit heftigem Schmerz sich schwer tun könnte, auch noch die Verpackung aufzufummeln.

Im weiteren Verlauf: Natürlich braucht das Schmerzmittel eine Weile, bis es wirkt. Nach einer halben Stunde heftiger Schmerzen wäre aber vielleicht nachzudenken gewesen, ob Novalgintabletten noch die richtige Antwort sind? Nach einer Stunde heftiger Schmerzen erst den Arzt zu rufen, war – jedenfalls aus Sicht des gequälten Patienten – zu spät. Was aber gar nicht akzeptabel ist: Die beteiligten Pflegekräfte haben sich nicht darum gekümmert, ob der angerufene Arzt überhaupt kommt. Sie haben mit dem Anruf – wenn der erste denn überhaupt erfolgt ist – das Problem „Schmerzpatient“ an einen toten Briefkasten delegiert. Anders gesagt, sie haben sich mit einem Anruf für unzuständig erklärt, die Sache war für sie erledigt.

Weh tut hier das Rollenbild einer Pflegekraft. Patienten können erwarten, dass die Pflege sich als Anwalt des Patienten versteht, als Kümmerer; Verantwortung übernimmt für gute Behandlung. Dazu gehört auch aktiver Einsatz: Nachschauen, ob der Arzt gekommen ist, ob das Problem gelöst ist. Oder lag es nicht am Rollenbild, sondern an fehlendem Personal vielleicht? War die junge Nachtschwester für mehrere Stationen zuständig, ununterbrochen am Rennen, am Ende ihrer Kräfte? Hatte sie am unteren Ende der Krankenhaus-Hierarchie keine Möglichkeit, den diensthabenden Arzt „auf Trab zu bringen“? Und war der diensthabende Arzt genauso überfordert?

Es ist ein renommiertes Haus, hierhin geht man mit Problemen bestimmter Art. Aber sind wir gut beraten, sowohl bei den Pflegekräften als auch bei den diensthabenden Ärzten das Thema Pflegenotstand weiter zu ignorieren? Nicht jede(n) erwischt es auf die geschilderte Weise, aber das Risiko steigt. Der Chefarzt sagt ganz trocken dazu, der diensthabende Arzt müsse eben eine Triage durchführen, wem er zuerst hilft. Triage ist ein belasteter Begriff. Jeder Notarzt fürchtet sich vor der Entscheidung, welchen Verletzten er zuerst versorgt und wen er unversorgt liegen (sterben) lässt. Wenn dieser Begriff nur dazu benutzt wird, den Personalmangel im Regelbetrieb eines Hauses zu umschreiben, nützt das weder den Patienten noch dem Renommee.