Jahre mit Günter Rohkämper-Hegel (30.1.1933 – 22.4.2022)
„Ich stamme aus Gelsenkirchen-Horst. Dort im Ruhrgebiet wird ein grausames Deutsch gesprochen, meinten meine Deutschlehrer. Bei Schultheater und Gedichtvorträgen bin ich immer disqualifiziert worden.“
Günter Rohkämper-Hegels Stimme ist vielen Menschen bekannt. Allein über 800 Blinden-Hörbücher hat er gesprochen und sehr viele Lesungen gehalten. Unzählige Menschen mit Sprechberufen wie Lehrer, Prediger, Schauspieler, Radio- und Fernsehmoderatoren profitierten durch die Ausbildung des Dozenten für Sprecherziehung und Vortragskunst, Rezitators, Mediensprechers in Funk und Fernsehen, Begleiters von Mediensprechern.
In Münster kennen ihn Viele aus den öffentlichen Lesungen des Hiltruper VorLeseClubs. Er war zusammen mit seiner Frau Gerda Hegel (+ 2018) das Zentrum. Sein Wirken in diesem Kreis soll hier ansatzweise skizziert werden.
Gerda Hegel (Deutschlehrerin, im folgenden: Gerda), Günter Rohkämper-Hegel (im folgenden: Günter), Magdalene Faber (Stadtteilbücherei Hiltrup) und Margret Enting (Hiltruper Buchhandlung) laden im Februar 2006 mit einem Aufruf in den Westfälischen Nachrichten ein. Sie sprechen Menschen an, die gerne lesen und vorlesen. Das Ziel: einen Vorleseclub mit gründen.
25 Damen und Herren nehmen im März 2006 an einem 9-stündigen Workshop teil. Sie erhalten Informationen und Training zu effektivem Vorlesen. Im selben Jahr beginnen die ersten öffentlichen Lesungen, unter den Vorleserinnen der ersten Stunde auch Renate Geisenheyer, Anne Sandfort, Lucia Wünsch.
Anne Sandfort: Wie ich Günter kennengelernt habe? Ganz einfach, durch die Zeitung. Ich fühlte mich angesprochen von dem Zeitungsartikel, in dem Günter und Gerda zu einem Vorlese-Workshop einluden – Freitag und Samstag im Pfarrzentrum. Es waren vielleicht 15 weitere Interessierte anwesend. Es ging los mit „Frau Trude“, einem gruseligen Märchen der Brüder Grimm. An dieser Geschichte baute Günter die Orientierungshilfen fürs Vorlesen auf. Texte suchen, zu proben und vorzutragen, an der Seite dieses Profis haben mir sehr gut getan.
Winfried Geisenheyner: Mit dem Vorleseclub ist ja bei Renate [Geisenheyner] ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen!! Sie hat schon als Kind mit Ihrer Mutter zusammen rezitiert, hatte dann aber keine Gelegenheit mehr, das fortzusetzen. Als Lyrik- und Literaturbesessene wollte sie immer mal Vorlesen und hat dies dann auch hier in Münster im Lebenshaus-Hospiz ziemlich regelmäßig gemacht. Als Gerda und Günter dann den Vorleseclub gründeten, hat sie voller Freude und Engagement mitgemacht. Sie fand es auch sehr gut, dass jeder Vorleser seine eigenen Texte heraussuchen durfte; damit war er authentischer. Was Sie geliebt hat, war die Möglichkeit, den Zuschauer über den Text direkt anzusprechen und dadurch eine Verbindung herzustellen.
Ein zweiter und dritter Workshop folgen (November 2006 und April 2007), weitere VorleserInnen stoßen dazu.
Gunthild Klare: Eine Nachbarin war aktiv im VorLeseClub und schlug mir 2007 vor, am zweiten Seminar von Gerda und Günter Rohkämper-Hegel teilzunehmen. Ich ging darauf ein in der Annahme, recht gut vorzulesen, musste jedoch einige Kritik einstecken. Das Training und der Zuspruch von Gerda und Günter machten mir Mut, dem VorLeseClub beizutreten. Interessant ist bis heute der Anreiz, sich mit Literatur zu beschäftigen, sich beim Vorlesen der Kritik zu stellen und damit sein eigenes Vorlesen zu verbessern. Die Zuhörer „einzufangen“ und sie für das zu begeistern, was mich selbst anspricht, ist ein wunderbares Erlebnis. Das Lampenfieber vor dem Auftritt nehme ich dafür in Kauf: Schließlich hatte auch Günter regelmäßig Lampenfieber, wie er sagte.
Im Juni 2010 ein weiterer Workshop in Dessau.
Neben einem vergnüglichen Besichtigungsprogramm wird ernsthaft gearbeitet.
Henning Klare: Ich bin seit Ende 2011 dabei. Gerda suchte VorleserInnen, die afrikanische Märchen in der Hiltruper Realschule vorlesen. Da ich unseren Kindern vorgelesen hatte, traute ich mich und sagte zu. Das Vorlesen in zwei Klassen machte Spaß. Danach las ich probeweise mit dem VorLeseClub im Café Klostermann vor. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt dafür geeignet war. Nach der Lesung fragte ich Günter, ob ich weitermachen solle, und erhielt eine freundliche Rückmeldung. Was mich am Vorlesen reizt: Zu einem immer neuen, recht allgemein gehaltenen Thema sich selber einen Text suchen und vorbereiten; den Text in der Probe verteidigen und Hilfen zum guten Vortrag bekommen; das freundliche und respektvolle miteinander Umgehen in der Runde, und natürlich die Reaktionen des Publikums.
Günter und Gerda sind die Initiatoren und Mittelpunkt des VorLeseClubs. In ihrem Wohnzimmer versammelt sich regelmäßig die Runde der VorleserInnen zur Probe, sie geben die Anstöße.
Für eine Rückschau nach Günters Tod sind hier Fotos aus den Jahren ab 2015 ausgewählt. Sie können nur einen kleinen Teil von Günters Persönlichkeit beschreiben. Vielleicht können sie Ankerpunkte sein für die vielen Erinnerungen derjenigen, die ihn kennen.
14.8.2015 Der VorLeseClub feiert sein Zehnjähriges
Gerda und Günter Rohkämper-Hegel laden ein zum zehnjährigen Bestehen des VorLeseClubs. Im MSC-Welthaus werden Schauspieler- und SprecherInnen-Kollegen erwartet, auch der Bezirksbürgermeister kommt.
Vor dem Haus erwarten Renate Geisenheyner und Günter die Gäste.
Wie all die Jahre moderiert Gerda den Abend, …
…, Günter an ihrer Seite.
Es ist ein Abend des Gesprächs:
Mit alten Freunden und Bekannten, …
…, mit einem Schmunzeln, …
…, nachdenklich, …
…, skeptisch-lebhaft, …
… und zugewandt.
Natürlich liest auch er an diesem Abend…
… und wechselt wieder in die Rolle des Zuhörers.
Carsten Bender ist als ehemaliger Schüler und Partner mit dabei, …
… und wie häufig nach den Lesungen sitzt „hinterher“ eine fröhliche Runde zusammen, hier Dr. Heinz Ludwig Leding, Barbara Kemmler, Magdalena Faber, Günter, Anne Sandfort.
25.9.2015 Fremde Kulturen: Vom Kulturbahnhof in die weite Welt
Der Kulturbahnhof bietet das passende Umfeld für diese Lesung.
Das Publikum ist voller Erwartung, Günter sitzt mit anderen VorleserInnen in der ersten Reihe.
26.8.2016 Heimat-Flucht-Heimat und dazwischen das Meer
Flucht und Vertreibung bringen viele Menschen aus anderen Ländern auf den Weg nach Deutschland, im Hiltruper Museum liest auch Günter einen Text dazu.
Martin Adolf und Jochen Schwenken, „unsere“ Musiker aus Billerbeck, begleiten und ergänzen die Lesung. Über lange Jahre sind sie eng verbunden mit Gerda und Günter, ein Stück ihrer CD „Notes From The Heart“ widmen sie Gerda („Deinetwegen“).
25.10.2016 Drachen, Feen, Riesen
Der vertraute Anblick im Café Klostermann: Die VorleserInnen haben ihre Bücher vor sich auf dem Tisch, ein letzter Schluck Wasser, dahinter wartet das Publikum.
Entspannt, neugierig und gelassen: Im Café Klostermann lässt der VorLeseClub am Nachmittag Drachen, Feen und Riesen hören.
28.4.2017 Literatur und Kunst
Mit dem Programm „Literatur und Kunst“ betritt der VorLeseClub Neuland: Die VorleserInnen wählen nicht nur „ihre“ Texte aus, sondern jeweils auch ein Bild, das während ihres Auftritts auf eine Leinwand projiziert wird. Monika Nessau liest aus „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“, und Günter schaut: konzentriert.
Günter als kritischer Zuhörer: Der auf den ersten Blick grimmige Gesichtsausdruck kann unvorbereitete VorleserInnen schon ernsthaft verunsichern. Wer aber dies Gesicht kennt, weiß, dass es nur Ausdruck von konzentriertem Zuhören ist. Dies Bild zeigt Günter, während Gerda vorliest!
Aber er kann durchaus auch anders!
Die Abendlesungen begleitet oft das Team von Solidario mit seinem Getränke- und Knabberangebot.
19.5.2017 Leezen-Gedenken – 200 Jahre auf 2 Rädern
Mit der Leeze zum Hiltruper Museum, der VorLeseClub ist beweglich! Im Bild: Günter, Gerda, Heide Michels-Heyne, Heide Kraft, Karin Honermann, Anne Sandfort, Eva Höppner.
20.6.2017 Wilhelm Busch: Aus Tagebüchern und Briefen
7.7.2017 30 Jahre Tschernobyl – 5 Jahre Fukushima
Vertreter der Kindergruppe aus Belarus, die von der Hiltruper Tschernobyl-Initiative zum Ferienaufenthalt in Hiltruper Familien eingeladen ist, gestalten das Programm der Lesung im Hiltruper Museum mit.
15.8.2017 100 Jahre Heinrich Böll
Heinrich Böll vor der gelben Wand im Café Klostermann – und Günter hört konzentriert Gerda zu.
10.10.2017 1917 Oktoberrevolution. Der letzte Tanz der russischen Aristokratie
Revolution im Café Klostermann und ein bekanntes Duo.
15.12.2017 Vor-Weihnachtliche Klänge der Freude in Literatur und Musik
Das MSC-Welthaus bietet den Rahmen für die Adventslesung.
2018
Günter Rohkämper-Hegel bei Lesungen im Januar und November 2018.
Hans Muschinski begrüßt am 16.11.2018 seine Gäste im Hiltruper Museum: Das Hiltruper Museum ist oft unser Gastgeber für die längeren Abendlesungen.
Am 16.11.2018 im Hiltruper Museum mit dem Programm „Zirkus / Bühne – die Welt des bunten Scheins“
2019 Noch einmal ein volles Jahr:
Günter mit Monika Leuer-Rose in der Stadtbücherei.
„Volles Haus“ im Café Klostermann mit „Unsere englischen Nachbarn“, …
…, in sommerlicher Hitze heißt es im Speicher von Haus Heidhorn „Der Wolf – er ist wieder da“, …
…, und im Hiltruper Museum lesen wir am 6.9.2019 „Ein weites Feld – Theodor Fontane 200. Geburtstag“.
4.10.2019 Tausendundeine Nacht – Erzählungen, Musik und Tanz aus dem alten Orient
Eine beeindruckende Vorstellung der alten Erzählungen aus 1001 Nacht, arabische Musik und Bauchtänzerin Sidra. Der Kulturbahnhof ist voll, das Publikum begeistert.
8.11.2019 „Es ist November! Geschichten am Kamin“
Wieder einmal im MSC-Welthaus zu Gast bei den Schwestern, mit denen Gerda und Günter so lange verbunden sind.
13.12.2019 Und sie folgten einem Stern
Alt-St. Clemens in Hiltrup mit Henk Plas an der Orgel …
… ist bis auf den letzten Platz voll.
3.3.2020 Mir ist so unheimlich! Mythen, Geister, Spukgeschichten
Es ist die letzte Lesung vor Publikum, bevor Corona für eine lange Zwangspause sorgt.
Frühjahr 2020 geht der VorLeseClub ins Internet. Gelesen wird zu Hause vor dem Mikrofon, Günter beurteilt die fertigen Aufnahmen und sorgt wenn nötig für Verbesserungen. Bis zum Sommer 2021 produzieren wir im Monatstakt neue Lesungen und stellen sie ins Internet zum Download und Streaming.
Günter geht Ende 2020 ins Krankenhaus und in stationäre Pflege, aber es geht weiter! Im Sommer 2021 ebbt die Corona-Welle ab, am 28.7.2021 starten wir wieder mit Günter im MSC-Welthaus „Vom Reisen – Startpunkt Bahnhof“. Das Publikum ist klein, die Menschen trauen sich noch nicht wieder in Gesellschaft.
Ab Dezember 2021 lesen wir wieder nur online, Corona ist zurück. Drei Produktionen gehen im Dezember ins Internet. Den „Bergkristall“ proben wir noch gründlich mit Günter in der Pflegeeinrichtung, nach dem Abendessen dürfen wir mit ihm in einen großen Besprechungsraum.
Im Januar 2022 versammelt sich der VorLeseClub zu seinem Jahrestreffen. Günter gestaltet mit der fröhlichen Runde noch einmal – wie in all den Jahren zuvor – das Jahresprogramm des VorLeseClubs mit der Planung vieler Lesungen bis weit ins Jahr 2023.
Erst im März 2022 gibt es einen neuen Anlauf für öffentliche Lesungen vor kleinem Publikum im Café Marie. Günter kann nicht mehr mitlesen, Carsten Bender vertritt ihn in den Proben. Wir warten auf Günters Genesung. Am 22.4.2022 stirbt er in den Armen von Gerdas Patenkind.
Der VorLeseClub, Günters „Kind“, trauert – und liest weiter.