„Das Amt“ – Desinteresse und Schlendrian
Der BAFöG-„Fall“, um den es hier geht, hat eine lange Vorgeschichte. Es ist die Geschichte von sozialer Not, schnarchlangsamer Verwaltung und Webfehlern im System.
Die Ausgangsbasis ist nicht schön, aber absolut nicht selten. Eltern in einfachen Verhältnissen lassen sich scheiden. Trotz aller Schwierigkeiten kämpft sich das Kind zum Abitur durch und beginnt ein Studium. Ein Elternteil kann dafür nicht zahlen, der andere Elternteil hat auch nur wenig und will nicht zahlen.
BAföG, denkt sich das Kind, wird mir helfen. BAföG hilft nicht beim Studienstart. Es dauert unendlich lange, bis wenigstens eine Abschlagszahlung ankommt. Ohne die Aufnahme eines Darlehens – wer leiht eigentlich mittellosen Studenten Geld? – wäre das Studium sofort zu Ende gewesen.
Diese Misere, diese unendlich schleppende Bearbeitung durch das Studierendenwerk Münster zieht sich ununterbrochen durch die nächsten Semester. Der Folgeantrag für den Förderzeitraum von September 2021 bis August 2022 wird Mitte Juni gestellt. Der Antrag wird vollständig und richtig ausgefüllt. Brav wird angegeben, dass das Kindergeld übergeleitet ist auf das Kind, sonst hat es keinerlei Einkommen. Beigefügt ist ein ärztliches Attest, dass wegen einer Erkrankung zurzeit eine Einschränkung der Studierfähigkeit auf 60% vorliegt. Das Kind fragt die BAföG-Sachbearbeiterin, ob das ein Problem sei; nein, heißt es mündlich, das sei sogar ein Vorteil.
Im September lebt das Kind von einer kleinen Rücklage, die es sich vom BAföG abgespart hat. Noch kann es die Miete bezahlen und hat zu essen. Ende September wird es kritisch: Die Oktobermiete muss bezahlt werden, nur noch etwas Nudeln und Reis sind im Schrank. Jetzt beginnt das Spiel, das einen Bürokratie hassen lässt. Das Kind ruft beim Studierendenwerk an und bekommt die „Wochenauskunft“: In einer Woche gebe es einen Bescheid und Geld, spätestens in eineinhalb Wochen. Das Kind muss Miete zahlen, es stellt einen Antrag auf Hartz-Leistungen; der Antrag wird sofort abgelehnt, für Studenten gebe es kein Hartz. Das Kind nimmt ein neues Darlehen auf.
Die „Wochenauskünfte“ reihen sich jetzt aneinander. Mal ist es Frau Sachbearbeiterin, mal ist es ein Mann, immer stehen Bescheid und Geld unmittelbar bevor. Mal ist die Akte gerade nicht da, mal liegt sie woanders, mal liegt sie auf dem Schreibtisch. Das Kind erklärt wahrheitsgemäß, dass es jetzt schon einige Tage gehungert hat. Dem Amt ist das egal.
Das Kind bekommt Besuch von einer Freundin: Die bringt etwas zu essen mit, so kommt es übers Wochenende. Danach wird wieder gefastet, das soll ja auch gesund sein.
Das Studierendenwerk fordert neue Unterlagen an. Noch einmal muss das Kind erklären, dass es außer dem übergeleiteten Kindergeld kein Einkommen hat. Warum eigentlich, die wissen das doch schon? Und jetzt soll das Kind ein neues ärztliches Attest zur Studierfähigkeit vorlegen. Warum eigentlich, da liegt doch schon eins in der Akte, unterschrieben vor vier Monaten vom Klinik-Chefarzt? Langsam wächst der Verdacht, dass man unbedingt einen Grund für eine Ablehnung finden möchte. Aber das Kind ist geduldig, brav füllt es noch einmal die „Zusatzerklärunq zum Formblatt 8“ aus und bittet den niedergelassenen Arzt um ein weiteres Attest. Der Arzt attestiert „eingeschränkte Studierfähigkeit“, am selben Tag geht das Attest an das Studierendenwerk.
Mitte November ist es jetzt, der Vermieter wird ungemütlich wegen der ausstehenden Miete, der Magen knurrt. Mitte November muss das Darlehen weiter aufgestockt werden, damit wenigstens die November-Miete gezahlt werden kann. Am Wochenende des Volkstrauertages kommt wieder die Freundin zu Besuch und bringt etwas zu essen mit.
Das Kind ruft wenige Tage später beim Studierendenwerk an. Jetzt liegen doch alle geforderten Unterlagen vor, wann kommen Bescheid und Geld? Und wieder gibt es eine dieser ganz besonders hilfreichen Auskünfte: Mit dem Vorgesetzten sei der Fall besprochen worden, dem reiche das Attest nicht aus. Auf die Nachfrage, was denn in einem Attest drinstehen müsse, gibt es nur Ratlosigkeit zur Antwort. Auf die weitere Nachfrage, ob vielleicht wieder ein Prozentsatz der Studierfähigkeit vom Arzt attestiert werden müsse, kommt Zustimmung – aber wie es weitergehen soll oder kann, dazu gibt es wieder einmal keine konkrete Auskunft.
Nun läuft das Kind wieder zum Arzt, holt ein weiteres Attest mit einer Prozent-Aussage ab, schickt das Attest an das Studierendenwerk und bittet: Endlich entweder einen konkreten Hinweis, wie weiter zu verfahren ist, oder einen Bescheid. Und oh Wunder das Attest ist angekommen, am selben Tag noch bis zum Vorgesetzten gewandert und am selben Tag – geht doch! – von diesem abgenickt. Ende November soll es Geld geben. Fünfeinhalb Monate hat das dann gedauert, davon zwei Monate ohne Geld und ohne jede Unterstützung.
Warum das alles so schrecklich läuft? Eine naheliegende Ursache ist nicht zu übersehen, die Arbeitsabläufe beim Studierendenwerk Münster sind katastrophal schlecht organisiert. Telefon und Email als Kommunikationsmittel nutzt das Studierendenwerk nicht: Der Behörde ist bekannt, dass das Kind mittellos ist, dass es deshalb aktuell schon gehungert hat und dass keine andere Behörde einspringt. Der Behörde ist bekannt, dass jede weitere Verzögerung im Falle einer Ablehnung des BAföG-Antrags den Schaden bei Dritten vergrößert, die als Kreditgeber einspringen. Warum ruft die Sachbearbeiterin – oder besser: der Vorgesetzte, dem das Attest nicht reicht – das Kind nicht an, damit es kurzfristig zu einer Klärung kommt?
Kundenorientierung ist hier nicht festzustellen. Die BAföG-Empfänger sind Kunden, sie haben einen Anspruch auf eine sachkundige und schnelle Bedienung. Wie die Behörde das in ihrem Inneren abwickelt, wie viele Paragrafen gewälzt und wie viele Papiere beschrieben werden, ist für die Kunden völlig irrelevant. Entscheidend ist das Ergebnis: Mit Steuergeld soll Studium ermöglicht werden für Arme, mit diesem Ziel muss zielführend beraten und schnell gearbeitet werden. Im hier beschriebenen Fall wird dies Ziel chronisch verfehlt.
Die zweite Ursache liegt in einem Webfehler des BAföG-Systems. In diesem Fall wird BAföG als Vorausleistung abgewickelt, eine Art Sozialhilfe für Studis. Bevor das Studierendenwerk zahlt, fragt es erst einmal die Eltern. Die haben nicht immer Lust, dem Studierendenwerk zu antworten, die sind vielleicht auch mal ein wenig unsortiert. Das zieht sich dann wie Kaugummi. Surreal wird dieser Ablauf, wenn man die praktischen Ergebnisse betrachtet. Da wird mit einem irrsinnigen Verwaltungsaufwand schließlich festgestellt, dass der unwillige Elternteil monatlich 11,59 Euro zum Unterhalt des Kindes beitragen muss. Diese 11,59 Euro wird das Amt irgendwann gegen den unwilligen Elternteil zu vollstrecken versuchen.
Die Prozedur ist also höchst kompliziert, wird mit beamtenhafter Gemütlichkeit abgewickelt und verzögert die BAföG-Bewilligung gewaltig. In diesem konkreten Fall wartet das Kind jetzt schon fünf Monate auf den endgültigen schriftlichen Bescheid. Die Prozedur ist teuer für das Kind. Denn wenn das Kind „normales BAföG“ bekommen würde, dürfte es das übergeleitete Kindergeld zusätzlich zur BAföG-Förderung behalten; davon könnte es ein Polster ansparen zum Beispiel für Computer-Reparaturen oder um zweimal im Jahr den Semesterbeitrag zu bezahlen mit je 300 Euro, vielleicht auch mal für eine neue Hose. Über 200 Euro verliert das Kind monatlich durch die Anrechnung des Kindergeldes auf die Vorausleistung.
Diese Malaise betrifft nicht nur das studierende Kind. Inzwischen sind auch Dritte mit im Spiel, nämlich die Kreditgeber. Zwei Monatsmieten haben sie bis heute schon vorfinanziert plus Bargeld für den Lebensunterhalt. Wenn – der Himmel bewahre – das Studierendenwerk irgendwann zu dem Ergebnis kommen sollte, aus irgendeinem Grund doch kein BAföG mehr zu bewilligen, dann haben sie den Schaden. Denn dies Geld bekommen sie nicht mehr zurück: Mit dem ablehnenden Bescheid des Studierendenwerks müsste sich das Kind exmatrikulieren und kann erst dann zum Jobcenter gehen, erst von diesem Zeitpunkt an würde das Jobcenter zahlen. Für die Zwischenzeit hieße es: Durch den Rost gefallen. Auf dem Schaden würden gutmeinende Dritte sitzenbleiben, nur weil das Studierendenwerk nicht aus dem Quark gekommen ist.
Warum eigentlich, fragt man sich, kann das Kind nicht eine fiktive Unterhaltszahlung des zahlungsunwilligen Elternteils angeben, BAföG im Normalverfahren beantragen statt als Vorleistung, und damit 200 Euro monatlich gewinnen? Die Rechnung ist einfach: Wenn das Kind 20 Euro Unterhaltszahlung monatlich „erfinden“, also auf 20 Euro BAföG verzichten würde, könnte es das Kindergeld abzüglich der 20 Euro behalten, also monatlich 200 Euro mehr in der Tasche haben. Geht das? Wahrscheinlich nicht. Also kann der zahlungsunwillige Elternteil weiterhin mit der Verweigerung der 11,59 Euro monatlich einen Schaden von über 200 Euro für sein Kind anrichten. Falls es aber doch gehen sollte: Warum hat niemand das Kind in diese Richtung beraten?
Man kann verzweifeln oder zornig werden bei solchen Abläufen. Und erinnert sich an tönende Wahlkampf-Versprechen einer noch geschäftsführenden Bildungsministerin, wie viele schöne BAföG-Verbesserungen sie sich vorstellen könne.
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 17.11.2021.)