BAföG in Münster: Kein Geld für bedürftige Studenten

Behörden-Pingpong und Beamten-Mikado

Die Praxis von BAföG aus der Nähe besichtigen heißt den Glauben aufgeben: Den Glauben an Bildungsoffensive, Begabtenförderung und all diese schönen Versprechen. An einem konkreten Fall wird das deutlich.

Fünf volle Monate nach Beantragung von BAföG liegt im konkreten Fall immer noch kein Bescheid vor. Die Studentin, um die es geht, ist mittellos und lebt seit Monaten von einem Verwandten-Darlehen; wenn es das nicht im entscheidenden Moment gegeben hätte, hätte sie ihr Studium nicht aufnehmen können.

Die Misere in der Ausbildungsförderung für die wirklich bedürftigen Studienanfänger beginnt beim Jobcenter. Schon hier läuft es schief. Die allein erziehende Mutter der Studentin ist in Ausbildung und lebt von Leistungen des Jobcenters. Als die Studienanfängerin im August 2018 die Nachricht erhält, dass sie einen Studienplatz in Münster hat, streicht das Jobcenter sofort, aber wirklich sofort die Leistungen für sie. Von jetzt an ist sie absolut mittellos. Das ist wohl rechtswidrig, aber gelebte Behördenpraxis. Kundige sagen, dass das die ganz normale Praxis der Jobcenter ist – entgegen der gesetzlichen Regelung: Das Jobcenter muss so lange zahlen, bis BAföG bewilligt ist, und kann sich seine Vorleistung von BAföG zurückholen. Tatsächlich zahlt das Jobcenter nicht; dem Jobcenter ist es offensichtlich egal, ob dadurch die Aufnahme des Studiums sabotiert wird.

Die Eisenbahnfahrt nach Münster, die Anmietung einer Studentenbude und die Zahlung der Semestergebühren im September klappen nur, weil Verwandte mit einem Darlehen einspringen. Aber dann wird es ja BAföG geben, meinen die Studentin und ihre Verwandten. Im September stellt sie ihren BAföG-Antrag. Danach passiert nichts mehr, nur die Verwandten zahlen, die Darlehenssumme steigt.

Ende Januar 2019 sind die Abschlussklausuren geschrieben, das Semester ist zu Ende. Der Semesterbeitrag für das Sommersemester 2019 wird fällig. Nur BAföG rührt sich nicht.

Nun wird es den Verwandten, die fleißig weiter in Vorlage zahlen, doch zu bunt. Gemeinsam mit der Studentin besuchen sie im Februar 2019 das BAföG-Amt im Studierendenwerk Münster und machen sich vor Ort ein Bild. Das ist wenig erfreulich.

Ja wo ist denn die Akte? Dies beliebte Spiel aus grauen Behördenvorzeiten wird hier gespielt. Offensichtlich gibt es kein IT-System zur Überwachung der Vorgänge, aus dem digitalisierte Unterlagen, Erledigungsstände, aktuelle Bearbeiter und der Standort der Akte ersichtlich sind. Die Sachbearbeiterin macht sich auf die Aktensuche. Zuerst sucht sie in ihrem Zimmer im Regal. Dann schaut sie in ihren Schrank, ergebnislos. Dann nimmt sie die Besucher mit, gemeinsam geht man eine Etage höher und sucht die Akte bei der Mitarbeiterin, die für die Geltendmachung von Unterhaltsforderungen gegen säumige Väter zuständig ist. Dort ist die Akte nicht bekannt. Dann nimmt sie den Zweitschlüssel und öffnet das Büro der abwesenden Gruppenleiterin. Schau an, hier liegt die Akte in einem Schrank, angeblich „zur Unterschrift der Vorlage“.

Nun übernimmt die Sachbearbeiterin für die Unterhaltsansprüche die Akte. Ihr ist der Vorgang unbekannt, sie überfliegt kurz die Akte und bittet dann die Besucher herein. Ihr wird erklärt, dass die Verwandten zurzeit darlehensweise für den Lebensunterhalt und die Studienkosten der Studentin aufkommen; dass sie dazu nicht verpflichtet sind und ihr Geld langsam zurück bekommen möchten. Dazu werden sie erst einmal belehrt, dass kein BAföG-Bedarf bestehe, wenn es sich bei ihren Zahlungen um eine Schenkung handele – sie nehmen diese Belehrung leicht konsterniert zur Kenntnis und bestehen darauf, ihr Darlehen zurück zu bekommen.

Nun wird vom Amt ausgiebig erläutert, dass BAföG keinen Vorschuss auf Unterhaltsleistungen säumiger Väter vorsehe. Erst müsse der unterhaltspflichtige Vater angeschrieben und um Stellungnahme gebeten werden, danach könne das Amt gegen ihn klagen oder vollstrecken. So weit ist dieser Fall aber noch gar nicht gediehen, das Schreiben an den Vater ist noch nicht geschrieben geschweige denn abgeschickt. Die Studentin hört sich’s mit Interesse an; ein rechtskräftiger Unterhaltstitel existiert längst, der Gerichtsvollzieher hat erfolglos zu vollstrecken versucht und gibt es gerade auf. Sie hat nur ein ganz kleines Problem, nämlich kein Geld.

Die Zeit läuft. Die Vertreter des Amtes sind in Verteidigungsposition. Erst Vater anschreiben, das dauere zwei Monate. Vorleistungen gibt es nicht, hier: Lesen Sie, hier steht es im Gesetz. Der Besuch mag aber nicht aus dem Stand Gesetze lesen und sich in Rechtsanwendung üben. Langsam entspannt sich dann die Gesprächssituation, der BAföG-Antrag wird unter die Lupe genommen, der Sachverhalt im Einzelnen durchgesprochen. Über das Darlehen wird auf die Schnelle ein Beleg von den Verwandten erstellt. Gemeinsam wird überlegt, wie es denn weitergehen könnte: Zwei Monate dauert es normalerweise, den säumigen Vater anzuschreiben und seine Stellungnahme (ob er denn nun zahlen will oder nicht) abzuwarten. Zwei weitere Monate sind eine lange Zeit, wenn man mittellos ist und Zimmer und Lebensunterhalt finanzieren muss.

Ja und dann: Ein Wunder. Eine BAföG-Abschlagszahlung sei möglich, heißt es plötzlich! Nicht der volle Bedarfssatz, und auch nicht schnell, denn das IT-System fürs Geld ist schwerfällig, mehr als zwei Wochen werde es dauern, aber immerhin.

Die Situation entspannt sich, und es bleibt Zeit für eine ungewaschene Frage der Besucher. Wo liegt in diesem Fall das Problem, warum hat es so lange gedauert (und wird weiter dauern bis zur endgültigen Entscheidung)? Am Amt hat es nicht gelegen, bekommt der Besuch zur Antwort, er hat keine andere Antwort erwartet. Das sei nun einmal so: Der normale BAföG-Antrag braucht im Durchschnitt zwei Monate bis zur Entscheidung, säumige Väter kosten standardmäßig zwei weitere Monate Bearbeitungszeit; kein Wort dazu, warum noch nicht einmal diese Standard-Bearbeitungszeiten in diesem Fall eingehalten sind. Und dass das Jobcenter sofort nach Studienplatzvergabe das Geld sperrt, das komme leider sehr häufig vor.

Die Studentin und ihre Verwandten verlassen das Amt mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits sind sie froh, dass sich endlich etwas tut, dass wenigstens ein Abschlag auf’s BAföG angekündigt ist. Andererseits ist ihnen klar geworden:

Die aktuellen gesetzlichen Regelungen und die Verwaltungspraxis der Behörden schließen mittellose Studienanfänger vom Studium aus. BAföG ignoriert die Wirklichkeit.

Natürlich fragt man sich nach solchen Erfahrungen, wie es besser gehen könnte.

Fängt man bei der Entscheidungspraxis der Jobcenter an, dann kann man gleich verzweifeln: Nie wird es klappen, flächendeckend in ganz Deutschland alle Jobcenter auf Vordermann zu bringen. Deshalb die Frage: Warum verlagert man nicht die Zuständigkeit für die Studienanfänger ab Zuteilung des Studienplatzes auf die BAföG-Ämter? Die sind viel näher dran, sie könnten bedarfsnah in Vorleistung gehen.

Studienanfänger brauchen sofort nach Zuteilung des Studienplatzes Geld: Für Fahrten zum Studienort, für ein Zimmer, für Studiengebühren, für’s schlichte Überleben. Deshalb die Frage: Warum kein Starthilfepaket als Pauschalzahlung für die Erstis? Warum keine Vorschusspflicht des BAföG-Amtes auf die laufende BAföG-Zahlung, wenn der BAföG-Antrag nach einem Monat noch nicht entschieden ist? Der Staat hat die breiteren Schultern, er kann auch das Risiko tragen, dass in dem einen oder anderen Fall Leistungen zu Unrecht gezahlt werden – die mittellosen Studienanfänger können die Bearbeitungszeiten der Behörden nicht vorfinanzieren.

Alles Utopie? Den Studis geht’s sowieso zu gut? Wer sich die Sache aus der Nähe ansieht, denkt anders darüber.

Nachtrag, Stand 23.3.2019: Das Amt hat Wort gehalten, die arme Studentin hat Ende Februar eine Abschlagszahlung bekommen. Voll Schrecken hat sie ihre Verwandten angerufen: Was, davon soll ich leben? 2076,80 Euro sind bei ihr als Abschlagszahlung auf die zu erwartende BAföG-Leistung angekommen, und sie hat das schnell umgerechnet. Oktober 2018 bis Februar 2019, das sind fünf Monate; 2076,80 Euro geteilt durch fünf, das macht 415,36 Euro pro Monat – soll das ernst gemeint sein oder ist das ein Scherz vom Amt? Zimmer sind knapp und teuer in Münster, jeden Monat werden 340 Euro fällig, und im Februar mussten schon die Studiengebühren für das Sommersemester überwiesen werden, weitere 294,74 Euro? Was ist mit März, im März muss sie für ihr Studium ein Praktikum machen? Und dann, nächstes Semester, wovon soll sie ab April leben? Gibt es den nächsten BAföG-Abschlag als Weihnachtsgeschenk 2019? Viele Fragen, wenig Antworten.

Zweiter Nachtrag, Stand 5.5.2019: Es geschieht noch ein Wunder. Sieben Monate nach Antragstellung gibt es einen BAföG-Bescheid. Im achten Monat nach Antragstellung kommt die erste laufende Zahlung – aber noch keine Nachzahlung. Der Differenzbetrag zwischen der Abschlagszahlung im Februar und der (höheren) endgültigen BAFöG-Bewilligung schlummert noch weiter auf dem Behördenkonto. So arme Studenten, die haben doch Übung im Hungern, können das ruhig noch etwas länger tun?

(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 6.5.2019.)