Herberge, Poststation, Bahnhof…
Herberge
Unauffällig im Schatten fünfhundertjähriger Kastanien liegt ein schlichtes Fachwerkhaus am Ausgang von Hiltrup in Richtung Süden, gleich nach der Emmerbach-Brücke. Uralt und voller Geschichte ist dieses Haus, das älteste uns bekannte in Hiltrup. Der Volksmund nennt es „Dicke Weib“ und weiß, daß es ehemals ein Gasthaus war.
Wenige Meter von diesem Haus entfernt fließt der Emmerbach. Hier wurde er überquert, um das nördlich gelegene Münster oder südlich Frankfurt oder Köln zu erreichen. Diese Kölner oder Frankfurter Straße führte vom Dom in Münster über die Königsstraße und Hammerstraße weiter nach Werne und Köln; es ist die heutige B 54. Dieser Hellweg ist sehr alt; um 850 wird er schon urkundlich erwähnt. Am Dicken Weib gabelte er sich und führte in südöstlicher Richtung durch die Hohe Ward u.a. nach Albersloh, Hamm, Werl und Frankfurt.
Eine Urkunde aus dem Jahr 1223 erwähnt an dieser Straße neben der Emmerbach-Brücke ein „tugurium ante pontem“. Das war ein Haus, dessen Dach aus Stroh und Rasen bis auf die Erde reichte. Man nimmt an, daß dieses Haus das „Dicke Weib“ war. Vermutlich bewachte der jeweilige Hauswirt die große Landwehr, die nahe am Haus vorbeiführte. Landwehren wurden vom 14. Jahrhundert an angelegt. Es waren dreifache Wallhecken aus viel dornigem Buschwerk mit Wassergräben dazwischen. Sie waren undurchdringlich und boten Schutz vor feindlichen Überfällen. Reste der Landwehr sind noch heute im Trimm-dich-Gelände am Hiltruper See zu erkennen. Der „viwboemer“, später „Bohmer am Dicken Weibe“ (1668), Böhmer oder Bäumer genannte Wirt des Hauses bewachte den Schlagbaum und zog die Zoll- und Weggebühren ein.
Die Herberge liegt am Rande der Hohen Ward, früher ein wildes Gelände mit Heide, Büschen und Bäumen. Sie war eine der größten Marken im Münsterland. Etwa 60 Bauern nutzten sie gemeinsam für Schafe, Kühe, Schweine. Sie stachen Plaggen als Streu für die Ställe, teilten sich Nutz- und Brennholz. Durch dieses Gebiet zog sich der Hellweg. Auf ihm gelangten Fuhren mit Salz, Getreide, Pelzen und anderen Waren nach Münster, die gehandelt wurden.
Der trockene Weg auf dem Kies-Sand-Rücken mußte von den Pferdegespannen eingehalten werden. Sobald die Fuhrwerke vom Weg abirrten, blieben sie hoffnungslos im Morast stecken. Wölfe und Bären lebten hier und erschreckten Bauern und Passanten. Hilfe gab es nur beim Dickenwyve. Dieser Kies-Sand-Rücken ist heute für die Trinkwassergewinnung bedeutungsvoll. Das dort gelegene Pumpwerk pumpt Wasser des Dortmund-Ems-Kanals in die Teiche der Hohen Ward. Dieses Wasserwerk wurde 1906 im Jugendstil erbaut.
Rauchige Hütte
Als Herberge „thom dicken Wyve“ wird das Haus 1563 erwähnt. Es war ein Kuhkotten mit wenig eigenem Land. Er gehörte zum benachbarten Hof Westhues (heute Peperhove). Die Fernstraße, die Hiltrup in alter Zeit durchquerte, war ein unbefestigter Sandweg, ausgefahren, voller Schlaglöcher und in nassen Jahreszeiten kaum passierbar. Die Pferdewagen kamen auf den vom Regen aufgeweichten Hohlwegen nur mühsam voran. ,,Straßenkot, durch welchen zwölf Pferde uns mühsam gezogen, Wirtshäuser, wo Kälte und Rauch einander die Herrschaft streitig machten, Eis, auf welchem der Fuß keinen Halt hatte und tausend andere Genüsse begleiteten uns“, so heißt es in einem Reisebericht aus dem Jahr 1644. Die Herberge „thom dicken Weyve“ war zweifellos so eine rauchige Hütte, in der – wenn kein klösterliches Haus in der Nähe war – auch die hohe Geistlichkeit und der Adel Zuflucht suchten. Vermutlich fanden sich hier auch Richter und Schöffen des nahegelegenen Femegerichtes ein, um nach der Gerichtstagung den Durst zu löschen.
Schnatgang
In bestimmten Jahren, so auch 1654, fanden Schnatgänge statt. Beamte des Fürstbischofs kennzeichneten mit einer Kerbe Bäume oder Pfähle, um die genauen Gerichts- und Kirchspielgrenzen festzulegen. Treffpunkt aller Schnatgänge war das „Dickewief“. Bevor die Gesellschaft sich auf den Weg machte, kreiste die Schnapspulle mit dem selbstgebrannten Korn des Hauses in der versammelten Runde.
Auch fürstbischöfliche Jagden, die am Haus vorbeiführten oder dort endeten, erlebte das Haus. An der Jagd z.B. 1683 nahmen der Fürstbischof Ferdinand von Fürstenberg, die Herren des Domkapitels und die hohen bischöflichen Beamten teil. In den ausgedehnten Waldungen zwischen Wolbeck und Amelsbüren wurden Wildschweine und Hirsche erlegt. Wie oft das Schüsseltreiben am Abend in der guten Stube des Gasthauses stattfand, ist leider nicht überliefert.
In der Nachbarschaft des Hauses lag ein großer Teich, der Sonnenborn. Hier nutzten die Domherren ihre Fischereirechte und angelten Hechte und Forellen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts speiste der Teich die Wassermühle des Hofes Bornemann, dann musste er dem Dortmund-Ems-Kanal weichen.
Festlicher Geleitzug
Reitende Boten ritten am Dicken Weib vorbei und begehrten, den Schlagbaum zu passieren. Ständiges Kommen und Gehen war zu beobachten. 1679 mußten Vorbereitungen getroffen werden, um Seine Hochfürstliche Gnaden Ferdinand von Fürstenberg, neugewählter Fürstbischof Münsters, in seine Residenzstadt zu geleiten. Er hatte das Dorf Hiltrup am 13. November 1679 am Dicken Weib, in einer Karosse von sechs Pferden gezogen, erreicht. Dort erwarteten ihn schon zwei Regimenter zu Pferde. Die gesamte münstersche Ritterschaft hatte sich mit ihren sechsspännigen Karossen eingefunden, begleitet von Dienern in festlichem Livree. Das Dicke Weib war auch bei anderen fürstbischöflichen Festzügen die Adresse, wo man sich einfand, ein Ort, der weit im Lande ein Begriff war.
Wirtshaus
Das Haus, wie es sich heute an der B 54 zeigt, wurde in seinem Kern im Jahre 1712 erbaut. Der Bau zeugt vom früheren Wohlstand der Bewohner. Die zur Straße hin orientierte Seite ist symmetrisch gestaltet. Die nördliche Giebelseite ist in Fachwerk ausgeführt worden. Der leicht vorragende Giebel hat eine Verbreiterung aus Eichenholz. Im Innern ist noch die Deele mit einem Sandstein-Herdfeuer und einer Herdplatte von 1715 erhalten.
Die Familie Bäumer bewirtschaftete zur Zeit des Baus etwa 13 Morgen (gut 3 ha) Land. Aber im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) hatte sie offensichtlich schwere wirtschaftliche Einbußen gehabt. Nur zwei Rinder, eine Kuh, ein Schwein, zwei Gänse, zwei Enten und fünf Hühner wurden gehalten. Schon wenige Jahre darauf verdoppelte sich die Anzahl der Tiere. Außerdem wurden auf der Mertensheide, heute Gelände der Polizeiführungsakademie [Hochschule der Polizei], Schafe gehalten. Bier und Schnaps wurden im Hause selbst gebraut bzw. gebrannt..
Stritten sich die Bauern der Hohen Ward über die Nutzungsrechte an der gemeinsamen Mark, dann versammelten sie sich beim „Dicken Weib“. Am 9. September 1822 fanden sich 56 Bauern und Kötter aus Hiltrup, Albersloh und Rinkerode beim „Dicken Weib“ ein, um für die Teilung der gemeinsamen Mark ihre Rechte anzumelden. Bis 1827 wurde sie durchgeführt. Die großen Bauern erhielten 80 Morgen, die mittleren 40 bis 50 Morgen und die Kötter 20 Morgen. Auch der Wirt Bäumer bekam seinen Anteil. Die Teilungsurkunde unterzeichnete er mit drei Kreuzen. Er hatte das Schreiben nicht gelernt. Ein schlechtes Zeugnis für die damaligen Hiltruper Schulverhältnisse.
Heimlicher Gast
Aus den Jahren um 1840 erzählt man sich in Hiltrup folgende Geschichte: An einem späten Abend klopfte es zaghaft an die Tür. Draußen stand ein Postillion in der Dunkelheit. Um diese Zeit? Was hatte das zu bedeuten? Der Wirt stutzte. Der Postillion flüsterte dem Wirt leise etwas ins Ohr und schob ihm ein blankes Goldstück in die Hand. Der Wirt zündete ein Licht an, weckte seine Frau und gab ihr einige Anweisungen. Sie stieg in die Upkamer, die Kammer über dem Keller. Dort richtete sie eilig einen Strohsack her, suchte eine Wolldecke und führte den Gast ins Zimmer. Der fiel erschöpft auf den Strohsack. Die Wirtin machte ein Schinkenbutterbrot, füllte einen Krug mit Milch und brachte beides dem heimlichen Gast. Er bedankte sich herzlich. Alles geschah so leise wie möglich. Kein Kind, keine Magd, kein Knecht durfte geweckt werden. Bei anbrechendem Morgen verschwand der Gast so schnell wie er gekommen war. Einige Zeit später erzählte der Wirt seinen Kindern: „Bei uns hat ein preußischer Prinz, als Postillion verkleidet, Unterschlupf gefunden, als er sich auf der Flucht befand.“ Dieser geheimnisvolle Gast soll später deutscher Kaiser gewesen sein.
Jedenfalls ist urkundlich belegt, daß Friedrich Wilhelm IV im Jahre 1847 durch Hiltrup kam. Er kam von Hamm. Zu seiner Begrüßung wurde für ihn ein Ehrenbogen am Dicken Weib errichtet. Für den Anstrich erhielt der Tagelöhner Wehselmann 15 Silbergroschen. Sicher waren die Hiltruper neugierig, seine Majestät zu sehen. Ob sie ihm zujubelten, das ist nicht überliefert.
Spaßvogel
Ein spaßiger Zecher des Hauses war Gisbert von Romberg (1839-1897), bekannt als der tolle Bomberg. Ungezählt sind seine verrückten Späße in Münster und im Münsterland. Natürlich kannte er Hiltrup und das beliebte Wirtshaus. Als seine junge Braut ihm nach der Hochzeit sagte: „Ich habe noch nichts von der Welt gesehen“, ließ der Bräutigam vier Apfelschimmel anspannen. „Damit Du siehst, was hier los ist“, fuhr er mit ihr durchs Münsterland. In jeden Dorf überreichte ein Diener der jungen Frau einen Vogel in einem Käfig. Und die piepsende, flatternde Vogelkutsche hielt auch in Hiltrup, vermutlich beim Dicken Weib.
Die heutigen Besitzer wissen zu berichten, daß der tolle Bomberg einmal mit dem Wirt Bäumer gewettet habe, daß sein Pferd einen Bullenkopp, Tonkrug für sechs Liter, voll Bier aussäuft und noch einen Schnaps dazu. Er führte sein Pferd durch die Haustür in die Wirtsstube an die Theke. Und tatsächlich, es hatte großen Durst und soff hier den angebotenen Gerstensaft und das Pinnken Schnaps.
Der tolle Bomberg schenkte dem Wirt als Dank ein Scheunentor, an dem zwei kleine eiserne Pferdeköpfe befestigt waren. Der Wirt mußte sein Geschenk jedoch in Buldern abholen. Schimpfend fuhr er mit Pferd und Wagen dorthin, holte das Scheunentor ab und baute es bei sich ein. Die zwei Pferdeköpfe nahm er ab und schraubte sie zum Andenken an den spendablen Gast an sein Herdfeuer. Leider hat ein Dieb sie 1987 gestohlen. Die Kutsche, mit der Baron Gisbert von Romberg nach Hiltrup kam, steht heute im Mühlenhof in Münster.
Bonjour
Eines Tages sah man in Hiltrup französische Offiziere und Soldaten. Auch Napoleons Zeit hat Spuren in Hiltrup hinterlassen. Da der Emmerbach ein Grenzfluß zwischen dem nördlich gelegenen Kaiserreich Frankreich und dem südlichen Großherzogtum Berg war, befand sich von 1810-1813 die französische Zollstation am Dicken Weib. Der Maire (Bürgermeister) hatte sein Büro im Haus. Hier wurden junge Männer rekrutiert, die mit Napoleon nach Moskau marschieren mußten, von denen viele ihr Leben ließen. Auch die Hiltruper Bauern stöhnten unter der Besetzung; zum Beispiel über die hohen Steuerlasten. Auf dem Nachbarhof Bornemann wurde ein Bildstock aus Dankbarkeit errichtet, weil die Familie die Franzosenzeit einigermaßen gesund und heil überstanden hatte. Der Bildstock befindet sich heute noch dort.
Schlaglöcher
„Die Hiltruper Straßen sind schlecht“, berichtete 1644 Nuntius Fabio Chigi, der päpstliche Gesandte des westfälischen Friedenskongresses, der spätere Papst Alexander VII. Er kannte also den Weg zum Dicken Weib aus eigener Erfahrung. Der holprige Weg wurde wiederholt mühsam mit Faschinen ausgeflickt. Das waren Bündel Weidenzweige von einem Fuß Durchmesser. Die Bauern mußten die Straßen in Ordnung halten, drückten sich aber gern vor dieser Arbeit, weil es eine große Last für sie war. Außerdem lockten gute Straßen Feinde an. Bei trockenem Wetter waren sie voller Furchen, bei Regen morastig. Dennoch gingen die märkischen Kohlenfuhren und die schweren Weintransporte vom Rhein, die Korngespanne und Salzwagen am Dicken Weib vorbei.
Extrapost
Im Jahre 1819 wurde die heutige Westfalenstraße zur Chaussee ausgebaut. Dabei entstand 1822 eine neue Brücke über den Emmerbach. Dazu wurde Sand aus der Hohen Ward geholt. Neben der befestigten Steinbahn war ein Sommerweg, ein Sandweg für Pferde, angelegt. Die Steinbahn wurde mit einer Tragschicht aus Kies oder gebrochenem Stein und einer Deckschicht aus Sand-Lehmgemisch befestigt. Nur auf solchen Straßen konnte die Extrapost verkehren, die sehr viel schneller fuhr als die üblichen Kutschen. Beim Neubau der Straße wurden zu beiden Seiten Bäume gepflanzt. Solche Straßen nannte man Chaussee. Am Schlagbaum Dicke Weib wurde Chausseegeld erhoben. Für jedes Pferd, das passierte, wurden im Jahre 1875 fünf Pfennig erhoben, für einem Maulesel oder Esel zwei Pfennige, je fünf Pfennige für Schweine. Schafe, Kälber oder Ziegen kosteten einen Pfennig. Seit der Jahrhundertwende wurde kein Chausseegeld mehr erhoben. Damit verloren die Wirte des Hauses ihr Amt als Zolleinnehmer.
Dicke-Wieve-Peter
Im Oktober 1829 trafen sich zehn befreundete Männer Münsters und schlossen einen Bund der Freundschaft und Brüderlichkeit unter dem Namen „Dicke Wieve-Petri-Bruderschaft“ oder kurz „Dicke-Wieve-Peter“. Nicht alle von ihnen waren Jäger, aber die „Jagd nach lebendigen und gebratenen Hasen bey’m und am Dicken Wieve“, wie es in ihrer Chronik heißt, war durchaus lebendig. Es waren Kaufleute und Akademiker aus Münster, die sich in diesem Kreis fanden. Der Paragraph 1 ihrer Satzung lautet: „Der Zweck der am 10. Oktober 1829 gestifteten Bruderschaft ist Erholung von den Berufsgeschäften unter bewährten Freunden. Die Anzahl der Brüder wird auf 25 festgesetzt.“
Die Leitung hatte der auf Lebenszeit gewählte „Aldermann“, dem ein jährlich zu wählender „Huster“ als Stütze beistand. Die Kasse führte der „Emonitor“, der auch den „Juliusturm“, einen Fond für festliche Gelegenheiten, verwahrte und verwaltete. Man traf sich jeweils zu fröhlichem Mittagsschmause, anfangs immer im Dicken Weib, und dazu lud man als Gast bisweilen den Hiltruper Pfarrer Theißing [1844-1854] ein. Das Mahl wurde begleitet durch das Singen fröhlicher Lieder. Goldener Humor, geistvolle Freunde und ein guter Wein waren wesentliche Anliegen ihrer Zusammenkünfte.
Sechs Jahre lang traf man sich im Gasthaus „Dicke Wieve“; dann ständig in Münster. Ein silberner Pokal aus dem Jahre 1840 ist immer noch im Besitz der Bruderschaft. In ihm wird dem neu aufgenommenen Bruder der Willkommenstrunk gereicht. Nach alter Tradition treffen sich allmonatlich die 25 Brüder des „Dicke-Wieve-Peter“ in Münster. Es sind Kaufleute, höhere Beamte, Akademiker verschiedener Fachrichtungen und Konfessionen, die sich in fideler Runde zusammenfinden „zur Erholung von den Berufsgeschäften“.
Schützenfest
Im Juli 1851 lud der Wirt Bäumer die Hiltruper zum ersten Male zum Schützenfest am Dicken Weib ein, der Bürgerschützenverein Hiltrup war gegründet von Mitgliedern des Männergesangvereins Hiltrup von 1848. Den ersten Schuss auf den Vogel gab Pfarrer Theißing ab, den ersten Tanz eröffnete er mit seiner Haushälterin (seiner Schwester). Auch für Hochzeiten und Familienfeste war die gute Stube des Wirtes Bäumer im Dicken Weib der geeignete Festsaal.
Bahnstation
Am 26. Mai 1848 war große Aufregung in Hiltrup. Die Bahnstation „Dicke-Wief wurde eröffnet; eine Station für Hiltrup, Wolbeck, Amelsbüren. Der erste Eisenbahnzug machte auf der Strecke Münster-Hamm in der Nähe des Gasthauses Halt. Er wurde mit Böllerschüssen empfangen; der Spielmannszug spielte; alles war festlich geschmückt. Die Hiltruper trauten sich nicht so recht an das fauchende Ungeheuer heran, bei dem ein Erwachsener, wenn er sich reckte, den Schornstein erreichte. Ein Münsteraner erinnerte sich und meinte: „Die Eisenbahn, die fährt so schnell. Wenn du in Münster die Pfeife ansteckst und so richtig am Qualmen hast, dann bist du all in Dicke Wief.“ Der Bahnhof lag 20 Minuten Fußweg vom alten Dorf entfernt, inmitten der Heide. Bei schlechtem Wetter waren die Wege völlig verschlammt, und die Kutschen konnten mitunter nicht rechtzeitig die Züge erreichen. Deshalb wurde 1868 die Bahnstation Dicke Wief aufgegeben und ein Bahnhof an dem jetzigen Standort gebaut.
Preiswertes Bier
Die Gäste des Hauses kamen später zu Fuß, mit Kutschen, per Heuwagen, mit dem Kanaldampfer über den Dortmund-Ems-Kanal oder mit der Eisenbahn von Münster zur Bahnstation Dicke Wief. Die Wirtschaft mit dem guten, preiswerten Bier war besonders bei Schülern und Studenten aus Münster beliebt. Sie wanderten nach Hiltrup, um dort den Durst zu löschen. Viele Studentenverbindungen hielten hier ihren Kommers ab. Auch die Korpsstudenten trafen sich, um ihre Mensuren zu schlagen. Junge und Alte zechten bei fröhlichen Gesängen, Schinkenschnittchen mit Pumpernickel und Bier. Wenn sie zu tief in die Kanne geschaut hatten und den Weg nach Münster nicht zurücklaufen konnten, fanden sie ein geschütztes Plätzchen auf dem Strohbalken, um ihren Rausch auszuschlafen. Vorsichtshalber mußten sie aber vorher ihre Streichhölzer abgeben.
Bardophonia
Auch einige Schüler des Paulinums fanden das abgelegene Gasthaus geeignet, um sich bei preiswertem Gerstensaft einzufinden. Eine besonders sangesfreudige Gruppe unter ihnen gründete im Jahre 1858 die Verbindung Bardophonia, die einzige Schülerverbindung Deutschlands. Ihr Protokollbuch berichtet von vielen feucht-fröhlichen Festen in Haus und Garten.
Auch Augustin Wibbelt kannte das Dicke Weib. Ein Freund machte ihn auf die Gründung der Schülerverbindung Bardophonia in diesem Hause aufmerksam. Diese Anregung verarbeitete er dichterisch in der plattdeutschen Erzählung „De Strunz“ aus dem Jahre 1920. Das Dicke Weib wurde bei ihm zum Fuselkotten, einer Fuhrmannskneipe, unter alten Eichen liegend. Die Atmosphäre, die er beschreibt, ist noch heute in den Räumen zu erkennen.
Korinthenstuten
Der Dortmund-Ems-Kanal wurde 1899 eröffnet, er führte nahe am Haus vorbei. Das brachte neuen Aufschwung. Kräftige Pferde zogen die Pünten mit den verschiedensten Materialien beladen über den Leinpfad am neuen Wasserweg entlang. Die Pferde wurden beim Nachbarhof Peperhove ausgewechselt. Nach einigen Jahren wurden sie durch Dampfkraft ersetzt. Auch ein kleines Personendampfschiff lief in Hiltrup von Stapel. Es war die „Micheline“, genannt nach der Ehefrau von Konsul August Schencking [nach anderer Quelle: „Der kleine Günther“, vorher auf der Werse eingesetzt]. Dank seiner guten Beziehungen zum preußischen Kaiser hatte dieser Kaufmann und Besitzer von Gut Hülsebrock dafür gesorgt, daß der Dortmund-Ems-Kanal an Hiltrup vorbeiführte.
Jetzt fuhren die Münsteraner zum Kaffeetrinken nach Hiltrup per Schiff oder per Bahn. Das „Dicke Weib“ war gerüstet: Die Stallungen im Haupthaus wurden zu einem großen Gastraum umgebaut. Der Garten wurde neu arrangiert, die Wege mit Kies bestreut, die Hecken gestutzt und Blumen gepflanzt. Unter den großen alten Kastanien standen Tische und Stühle. An den Sonn- und Festtagen war Hochbetrieb. Die neue Kegelbahn lud ein.
Zum „Dicken Weib“ gehörten Felder und Wiesen, etwa 30 Morgen (ein Morgen sind 2500 qm). Unter der Woche versorgte der Wirt seine Äcker und sein Pferd, die Kühe, Schweine, Hühner. Besonders am Wochenende kam der Ausflugsbetrieb hinzu. Die Wirtin verarbeitete die Milch zu Butter und Käse, backte viele Brote. Besonders der Korinthenstuten mit Schwarzbrot und Butter war zum Kaffee sehr beliebt. Das Haus wurde noch einmal renoviert und verbessert.
Aber auch die Konkurrenz schlief nicht. Im Dorf waren die Wirtschaften Vogt, Stähler [später: Rohrkötter], Prinz, Buermann, Soetkamp [später: Lohmann, danach Elfers], Heithorn und Scheller mit ihren schönen Kaffeegärten für die Münsteraner beliebte Ausflugsziele. Hiltrup war das Dorf mit den meisten Kaffeekannen rund um Münster – und dem billigsten Gerstensaft bei Bäumers im „Dicken Weib“.
Einmarsch 1945
Zwischen den Weltkriegen war das Wirtshaus weiterhin bei Ausflüglern beliebt. Aber es wurde kein Bier mehr gebraut. Inzwischen hatte sich durch Einheirat der Name des Besitzers geändert. Dieser arbeitete nicht mehr in der Landwirtschaft und suchte andere Nebenerwerbstätigkeiten. Die Familie erlebte Ostern 1945 angstvoll die Sprengung der Kanalbrücke und das Kriegsende im Keller des Hauses. Alle Gebäude überstanden den Krieg unbeschädigt. Nach dem Einmarsch 1945 haben amerikanische Soldaten das Gasthaus besichtigt, aber nicht beschlagnahmt. „Es war ihnen nicht fein genug“, sagte ein Familienmitglied.
Veränderungen
Die Familie baute 1960 ein neues Wohnhaus mit Gaststätte neben das alte. Sie zogen selbst dort ein. In einer Vitrine hüteten sie alte Zinnkrüge und Teller, große Kaffeekannen und Wirtshausporzellan zur Erinnerung an arbeitsreiche Zeiten.
Das neue „Dicke Weib“ wurde verpachtet. Es konnte aber an die Tradition des alten Hauses nicht anknüpfen. Inzwischen ist die Wirtschaft geschlossen. Die 30 Morgen Ländereien sind verpachtet.
2000
Das alte Haus duckt sich unter den Kastanien. Die große Brauscheune steht leer. Ein alter Taubenschlag läßt ahnen, daß viele Gäste das Aus- und Einfliegen der Segler beobachtet haben und ihre Freude daran hatten. Für Kinder ist die Hofanlage mit dem Brauschuppen und Ställen und huschenden Katzen ein Spielparadies. Eulen finden ihr Einschlupfloch am Nordgiebel wie zur Zeit der Erbauung des Hauses im Jahre 1712. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Mit sehr viel Liebe und unter sachkundiger Anleitung restaurierte der neue Pächter Helmut Brinkbäumer das Haus, das so viel Hiltruper Tradition und Geschichte in sich birgt. Leider verschwand das alte Schild des Wirtshauses und damit der Name Dickes Weib.
2024: Eine nostalgische Annäherung
Was mag aus dem alten Haus geworden sein? Ein „Holzwurm“ (so hieß auch seine Firma) hatte noch eine Zeit lang für Leben gesorgt, jetzt ist es hier still. Die Gaststätte Dicke Weib war schon vor Jahren in einen Neubau nebenan umgezogen und dann geschlossen, dort sind jetzt nur noch Wohnungen. Ein kahler Parkplatz; die Straße, die der Bäumer früher hütete, führt hoch auf dem Damm zur neuen Brücke am Haus vorbei, sie quetscht das alte Haus optisch ein.
Hier rührt sich nichts mehr. Ein toter Briefkasten, ein Schild „Wachsamer Nachbar“.
Die Laterne erinnert noch daran, dass hier früher eingekehrt wurde.
Dies Haus steht leer, und es verfällt. Das struppige Dach ist sehr notdürftig mit Blech geflickt, die ersten Dachziegel fehlen schon. Das ist das Ende, wenn nicht schnell etwas geschieht.
Ja, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Traditionsgaststätte, Brauerei und Brennerei besteht noch. Aber wenn das Dach nicht bald geflickt wird, ist der Abriss nur eine Frage der Zeit.
(2023/2024 durchgesehene und ergänzte Fassung eines Textes aus dem Hiltruper Museum, vermutlich Elisabeth Egger um 2000. Zuletzt aktualisiert am 16.05.2024.)