Was wir mit den Erinnerungen tun

Hiltruper Vereine auf dem Weg zum Ehrenmal (13.11.2022, Foto: Henning Klare)
Hiltruper Vereine auf dem Weg zum Ehrenmal (13.11.2022, Foto: Henning Klare)

Volkstrauertag 2022 in Hiltrup

Der Volkstrauertag in Hiltrup hat im Jahr 2022 eine neue Form gefunden. Geblieben ist der traditionelle Rahmen. Spielmannszug, Fahnenabordnungen, Kranzdelegation, Bürgerinnen und Bürger konnten sich an St. Clemens treffen und gemeinsam zum Ehrenmal gehen: Fahnen, Uniformen, klingendes Spiel, 10 bis 15 nicht Uniformierte.

Die Gedenkstunde am Mahnmal prägten Wortbeiträge von Schülerinnen und die Rede des Vertreters der Villa ten Hompel. Die Texte sind es wert, wahrgenommen zu werden. Sie sind hier ungekürzt wiedergegeben:

GedenkSplitter / Wortbeitrag von Schülerinnen:

„Im Jahr 2022 müssen wir Bilder von Krieg und Konflikten sehen, die uns tief erschüttern. Da sind Bilder aus weiter Ferne, die wir schon in den letzten Jahren sehen mussten. Bilder von dem schon so lange andauernden Krieg in Syrien, vom Bürgerkrieg im Jemen und den Auseinandersetzungen in Afghanistan und anderen Ländern. Wir sehen, wie dort täglich Menschen ihr Leben verlieren und unter den Folgen von Not und Hunger leiden.

Seit dem 24. Februar 2022 sehen wir auch Bilder von Krieg aus Europa. Wir sehen Panzer, die durch Städte rollen, zerstörte Häuser und U-Bahnschächte, die als Schutzbunker vor Bomben dienen.

Wir sehen Menschen, die unter diesen Kriegen leiden: Familien, die getrennt werden; Menschen, die ihr Zuhause verlassen müssen; Kinder, die nicht mehr in die Schule gehen können.

In diesem Jahr sehen wir auch, wie Menschen unter anderen Konflikte hier in Deutschland und weltweit leiden: Menschen, die wegen ihrer Herkunft, ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden.

All diese Bilder sind für uns unbegreiflich und machen uns sehr betroffen.“

Zwei Hiltruper Schülerinnen tragen auf Einladung von Bezirksbürgermeister Stein „GedenkSplitter“ vor (13.11.2022, Foto: Henning Klare)

Zwei Hiltruper Schülerinnen tragen auf Einladung von Bezirksbürgermeister Stein „GedenkSplitter“ vor (13.11.2022, Foto: Henning Klare)

GedenkSplitter / Wortbeitrag von Schülerinnen:

„Wir möchten unsere Sprachlosigkeit angesichts der schrecklichen Bilder von Krieg und Gewalt überwinden und verurteilen die kriegerischen Angriffe sowie alle anderen gewaltsamen Konflikte mit Nachdruck. Wir sprechen allen Menschen, die unter diesen Situationen leiden, unser Mitgefühl und unsere Solidarität aus.

Wir denken heute an all die Opfer, die durch brutale Kriege und Gewaltverbrechen in der Vergangenheit ihr Leben verloren haben und an ihre Angehörigen.

Unsere Gedanken sind heute ganz besonders bei den Menschen, deren Freiheit durch politische Machthaber eingeschränkt wird, deren Leben durch die aktuelle Situation bedroht ist und bei all denjenigen, die in Angst leben, die ihr Zuhause verlieren und von ihren Familien und Freunden getrennt werden.

Wir wünschen und hoffen zutiefst, dass alle kriegerischen und gewaltsamen Konflikte möglichst bald friedvoll beendet werden und Familien wieder zusammenkommen.“

Thomas Köhler, kommissarischer Leiter der Villa ten Hompel (13.11.2022, Foto: Henning Klare)

Thomas Köhler, kommissarischer Leiter der Villa ten Hompel (13.11.2022, Foto: Henning Klare)

Thomas Köhler, Ansprache zum Volkstrauertag, 13.11.2022, Münster-Hiltrup:

„Für die Toten und die Lebenden müssen wir Zeugnis ablegen. Denn wir sind nicht nur für die Erinnerungen der Toten verantwortlich, sondern auch für das, was wir mit diesen Erinnerungen tun.“

Diesen Appell formulierte Elie Wiesel am 22. April 1993 bei der Eröffnung des von ihm maßgeblich mit konzipierten United States Holocaust Memorial Museum Washington, seit 2018 enger Partner der Villa ten Hompel. Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger baut uns allen damit eine Brücke von der Vergangenheit in unsere eigene Gegenwart. Was wir als Individuen, als Zivilgesellschaft, als kommunale oder staatliche Institutionen mit Erinnerungen gestalten, ist entscheidend für ein demokratisches und plurales Miteinander in der Zukunft. Denn ohne Erinnerung besteht die Gefahr einer, etwas zugespitzt formuliert, gesellschaftshistorischen Demenz.

Der Volkstrauertag bietet die Möglichkeit einer solchen diversifizierten Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Menschheitsverbrechen. Initiiert wurde er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für die Erinnerung an die gestorbenen deutschen Soldaten. Doch der Erinnerungstag schaffte keine gesellschaftliche Versöhnung, sondern Spaltung. Milieugrenzen wurden so nicht überwunden für eine gemeinsame Erinnerung, sondern im Gegenteil Trennendes weiter manifestiert. Die Nationalsozialisten deuteten den Tag ideologisch zu einem faschistischen Heldengedenktag um. Die DDR funktionalisierte ihn zu einem antifaschistischen Gedenktag. In Westdeutschland blieb der Volkstrauertag lange Zeit in seiner Ausrichtung indifferent.

Wenn nun seit einigen Jahren Repräsentantinnen und Repräsentanten europäischer Staaten im Deutschen Bundestag zur zentralen Gedenkveranstaltung sprechen, ist dies ein positiv schärfender Weg. Der Volkstrauertag hat – auch wenn der im Singular gebrauchte Begriff des Volkes dem immer noch mindestens semantisch entgegensteht, zumindest das Potenzial einer europäischen Dimension der Völkerverständigung. Doch auch diese Erweiterung vom nationalen zum europäischen Blick birgt die Gefahr eines Eurozentrismus auf Kosten einer globalen Erinnerungsperspektive, etwa an die Gewalt und die Gewaltfolgen der Sklaverei, des Kolonialismus und des Imperialismus.

Vor wenigen Tagen, am 9. November, wies Prof. Hubert Wolf in seinem Vortrag über das Projekt zur Edierung von Bittbriefen von Jüdinnen und Juden an den Papst während des Zweiten Weltkriegs noch einmal auf die bekannte Osnabrücker und Münsterische rechtshistorische Besonderheit hin, nämlich auf eine Klausel des Vertragswerks zum Westfälischen Frieden von 1648. Dort wird ein Gebot des Vergessens propagiert als eine Art von notwendigem Heilmittel, um die Schrecken und Gräueltaten des 30jährigen Krieges für ein friedvolles Miteinander in Europa zu überwinden.

Doch zum Glück hat sich dieses Gebot des Vergessens nicht durchgesetzt. Erinnerung, auch und besonders belastete wie belastende, sind ein überaus schützenswertes unveräußerliches Kulturgut. So ist rechtshistorisch der sog. Münsteraner Ordnung die Nürnberger Rechtsordnung gefolgt. Den in den Nürnberger Prozessen sowie den Folgeprozessen wurden nach 1945 nicht nur zumindest einige Täter juristisch zur Verantwortung gezogen, sondern der Erinnerung ein besonderer Stellenwert zuteil.

Überlebende der NS-Verbrechen sagten in Nürnberg aus, berichteten vom beinahe Unerzählbaren – der Beginn der Epoche der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an den Zweiten Weltkrieg, die Völkermorde an den Jüdinnen und Juden Europas, den Sinti und Roma Europas und den Massenverbrechen gegen viele weitere Verfolgtengruppen, so Fremd- und Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, Zeugen Yehovas, körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen im Rahmen der sog. Euthanasie, Homosexuelle und als „asozial“ stigmatisierte Menschen.

Am Geschichtsort Villa ten Hompel bewahren wir solche Erinnerungen nicht nur auf, sondern wir arbeiten mit ihnen wissenschaftlich, museal und pädagogisch. Die ehemalige Industriellenvilla war während des Zweiten Weltkriegs eine machtvolle Kommandozentrale der uniformierten Polizei. Von Münster aus wurden mindestens 24 Polizeibataillone nach ganz Europa gesandt, wo sie zusammen mit den Formationen der SS und der Wehrmacht den Vernichtungskrieg federführend umsetzten. Nach 1945 diente das Gebäude zunächst als Entnazifizierungsdienststelle und bis Ende der 1960er Jahre als Dezernat für Wiedergutmachung. 12.000 NS-Verfolgte stellten hier einen Antrag auf finanzielle Entschädigung, nur Zwei Drittel erhielten Gelder. Wieder-gut-machen übrigens, wie es das Wort naiv oder auch provokant ausdrückt, kann man aber solches Unrecht nicht.

Es sind überwiegend Quellen über die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die wir multiperspektivisch einsetzen, um die Erinnerung an die Vergangenheit für die Gegenwart relevant zu machen. Beispielsweise:

Eine Münsteranerin schildert ihre Erinnerungen als Schulmädchen, als sie im Dezember 1941 voller Scham die Deportation der Jüdinnen und Juden aus dem Gertrudenhof zum Güterbahnhof Münster mit dem Ziel Ghetto Riga beobachtete. Eine jüdische Überlebende, die genau von dieser Deportation nach Riga als traumatisches Ereignis erzählt. Ein Sinto, der schildert, dass seine Mutter 1943 nur deshalb zufällig nicht nach Auschwitz zur Vergasung verschleppt wurde, weil ein Polizist vergessen hatte, ihren Namen auf eine Liste für den Transport aus Münster zu setzen. Eine deutsche Familie, die eine spezielle Weinflasche mit ihrem jungen Sohn trinken wollte, wenn er aus dem Krieg zurückkehrt und die heute Teil unserer Ausstellung ist, weil der Sohn eben nicht aus dem Krieg zurückkehrte. Aber auch Egodokumente der Täter wie ein Polizist, der seiner Frau sowohl von seinen sexuellen Übergriffen berichtet als auch von Erschießungen – und dabei noch die Schuhe der ermordeten Jüdin für den Sohn nach Hause schickt, damit dieser im Winter 1942 nicht frieren muss.

Während sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft jahrzehntelang ein selbstgefälliges und selbstentlastendes Entschuldigungsnarrativ zurechtlegte, nach dem die breite Bevölkerung keine andere Wahl hatte, als gezwungener Maßen diesen einen Weg der Auslöschung aufgrund der NS-Politik mit einzuschlagen, offenbaren die vielfältigen Quellenüberlieferungen eine ganz andere Realität. In den Archiven finden sich Spuren von so vielen Institutionen und Personen, die dieses totalitäre politische Regime entweder aktiv oder passiv unterstützt haben;
und von nur so Wenigen, die sich widersetzten.

Die Quellen zeigen, dass auch in damaligen komplexen und zunehmend restriktiven Zeiten der individuelle Handlungsspielraum erhalten blieb. Das Entdecken dieser beunruhigenden Lebenswirklichkeiten ist unbequem und unangenehm. Dennoch ist dieses Unbehagen der Anfang unseres Verständnisses für ein Nein-Sagen heute, nämlich: Zu erkennen, dass Massenverbrechen nicht nur durch die Nazi-Führung und deren zutiefst überzeugte Anhänger ermöglicht wurden, sondern dass die gewöhnlichen Menschen in Deutschland und in ganz Europa, also die „Ordinary people“ aus verschiedenen Gründen zur Duldung oder Kollaboration motiviert worden waren.

Diese Erkenntnis weist über die Epoche des Nationalsozialismus hinaus und ist beunruhigend, denn: gewöhnliche Menschen gab und gibt es überall und zu jeder Zeit. Das sind auch die Dynamiken, mit der wir uns in der Villa ten Hompel in unseren Bildungsprogrammen für Schulklassen, Polizei, Justiz und für weitere Berufsgruppen beschäftigen. Indem wir fragen, wie Auschwitz, Babji Jar, Bergen Belsen oder Oradour-sur-Glane möglich wurden, decken wir einen Weg zum Außergewöhnlichen auf, der durch das Gewöhnliche geebnet wurde.

Wir müssen noch mehr Freiräume für Bildung schaffen, um gemeinsam die Ursachen und Folgen von belasteter Geschichte zu ergründen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir unseren täglichen Rhythmus unterbrechen und untersuchen, wie das Unvorstellbare möglich wurde. Es ist wichtig, dass wir uns selbst herausfordern, zu überlegen, was aus dieser Vergangenheit heute noch relevant ist.

Denn nach 1945 hörte extremes völkerrechtliches Unrecht, Krieg, Massenmord und Völkermord ja nicht auf wie Kambodscha, Ruanda und Bosnien zeigen. Und natürlich denken wir ganz aktuell an den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und die Massenverbrechen, die genozidalen Charakter haben, die wir bisher kennen und wahrscheinlich eine Vielzahl weiterer Tatorte, die wir noch nicht oder nur schemenhaft kennen wie lokal Mariupol oder strukturell der Versuch der Auslöschung lebensnotwendiger Infrastruktur.

Noch einmal Elie Wiesel: „Wir haben gelernt, dass wir nicht gleichgültig bleiben können, wenn Menschen leiden.“

Für unsere Gegenwart heißt dies: wir müssen weiterhin und noch viel entschlossener an der Seite der angegriffenen Ukrainerinnen und Ukrainer stehen. Wir dürfen uns keinesfalls von der russischen Infiltration manipulieren lassen. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Krieg mitten in Europa. Lviv oder Kiew sind nicht weiter von uns entfernt als Marseilles oder Athen, weder kilometermäßig noch kulturell oder politisch. Und Teheran sollte es in diesem Sinne übrigens auch nicht sein. Wenn Münster jetzt ganz aktuell mit Winnyzja eine Solidaritätspartnerschaft in enger Zusammenarbeit mit unserer polnischen Partnerstadt Lublin aufbaut, dann kann dies ein wichtiges Zeichen, eine ganz pragmatische Hilfe und ein Antrieb für uns alle in Münster sein. Und wie werden wir heute und in Zukunft mit der russischen Partnerstadt Rjasan umgehen und wird Winnyzja dauerhaft auch nach Ende des Krieges Münster Partnerstadt in der Ukraine?

Gedenktage wie der heutige sollte Menschen dazu anregen, über ihre ganz persönlichen Stärken und Schwächen nachzudenken und die Stärken zu nutzen, um persönliche Verantwortung für die Gestaltung einer friedlichen, demokratischen Zukunft aktiv zu übernehmen.“

GedankenSplitter / Wortbeitrag von Schülerinnen:

„Wir müssen in diesem Jahr erleben, dass Frieden in Europa und auf der ganzen Welt keine Selbstverständlichkeit ist. Umso wichtiger ist es, dass unser Gedenken heute auch ein Aufruf zu mehr Frieden ist.

Frieden, der von uns gestaltet werden kann und muss, indem wir nicht wegschauen und auf Konflikte hinweisen, indem wir uns in unserem alltäglichen Miteinander offen, respektvoll und freundlich begegnen und indem wir uns gemeinsam gegen Gewalt und für den Frieden aussprechen.“

Nicht zu vergessen: Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkstunde durch zwei Lehrer des Immanuel-Kant-Gymnasiums und den Männergesangverein.