Neue unsoziale Marktwirtschaft

Anzeige der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" in der Süddeutschen Zeitung (28.6.2017; Ausschnitt)
Anzeige der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" in der Süddeutschen Zeitung (28.6.2017; Ausschnitt)

Zweifelhafte Anzeigenkampagne der Industrie gegen Schulz

Ein Aufschrei geht durch’s Land: Hilfe die Sozis kommen! Unser Oma ihr klein Häuschen wollen sie uns wegnehmen (Stichwort: Erbschafts- und Vermögenssteuer)! Und auf mittlere Einkommen sollen wir Reichensteuer zahlen – wählt bloß nicht den Schulz und seine Leute!

Tja, wenn wir die Metallindustrie nicht hätten, wir wären den roten Barbaren rettungslos ausgeliefert. Aber Gesamtmetall hat für uns gesorgt und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gegründet. Die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie sind so freundlich, das segensreiche Wirken dieser Organisation mit einigen Millionen jährlich zu unterstützen.

Nun, was können wir von der INSM erwarten? Sicher keine Mildtätigkeit. Als Lobby- und PR-Agentur der Industrie vertritt sie deren Interessen. Wenn diese Organisation also teure große Anzeigen in der Bild-Zeitung und in anderen großen Zeitungen veröffentlicht, lohnt es sich schon, genauer hinzuschauen: was wollen die? Und: stimmt das, was da behauptet wird?

Die aktuellen Anzeigen in Bild und Süddeutscher Zeitung sind zunächst ein großes Kompliment für den SPD-Kanzlerkandidaten Schulz: so gefährlich findet ihn die Industrie, dass sie ganz viel Geld zu seiner Bekämpfung ausgibt! Die Botschaft, in bestem Sozi-Rot gedruckt, ist recht eindeutig. Sie richtet sich mit ihrem Slogan „Keine Reichensteuer für die Mitte“ an potentielle Schulz-Wähler. Die Aussage ist einfach: wenn ihr Schulz wählt, müsst ihr mehr Steuern bezahlen.

Für die CDU, der die Industrie nun mal näher steht als der SPD, ist die Lage nicht so komfortabel wie es auf den ersten Blick erscheint. Seit Jahren wachsen die Steuereinnahmen des Staates, immer stärker packt die kalte Progression zu, und die CDU hat darauf keine Antwort. Nun kommt Schulz und legt mit seinem Regierungsprogramm konkrete Pläne vor, nennt genaue Zahlen und beziffert die finanziellen Auswirkungen für den Staat. Die CDU dagegen hat kein Konzept. Schäuble wärmt sich an seiner schwarzen Null und an seinen Haushaltsüberschüssen, aber wie er die Bürger daran beteiligt sagt er nicht.

Muss „die Mitte“ denn nun mehr Steuern zahlen, wenn sie Schulz wählt?

Nehmen wir uns doch die Aussage der INSM in ihren PR-Anzeigen näher vor: „Reichensteuer schon ab 60.000 Euro“ (Bild-Anzeige), „… ab 60.000 Euro mehr als 42% Steuern. Das zahlen bisher nur Reiche mit einem Einkommen ab 250.000 Euro“ (Süddeutsche). Interessant sind hier schon die Unterschiede der Anzeigen.

Die Bild-Anzeige ist extrem holzschnittartig getextet – offensichtlich billigt die INSM den Bild-Lesern die geringste Intelligenz zu – und grob falsch. Denn: die Diktion der INSM in der Süddeutsche-Anzeige („Reiche … ab 250.000 Euro“) meint mit „Reichensteuer“ den höchsten Einkommensteuersatz, der ab einem zu versteuernden Einkommen von 250.000 Euro gilt. Diese Schwelle, ab der eine erhöhte Einkommensteuer zu zahlen ist, will Schulz überhaupt nicht verändern. Die Behauptung, Schulz und die SPD wollten diese Reichensteuer bereits ab 60.000 Euro Jahreseinkommen erheben, ist eine glatte Lüge.

In der Süddeutsche-Anzeige hat die INSM dann schon etwas vorsichtiger getextet. An dem Text „Liebe SPD, Ihr wollt ab 60.000 Euro mehr als 42% Steuern“ ist wenigstens etwas richtig. Zunächst aber lohnt ein Blick auf das, was die INSM weglässt: am Ende kommt es darauf an, was Berufstätige netto ausgezahlt bekommen, nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben; die von Schulz geplante Beitragsentlastung für Geringverdiener unterschlägt die INSM. Sie unterschlägt genauso Schulz‘ Plan, den Solidaritätszuschlag für Einkommen unterhalb von 52.000 Euro zu streichen, und sie unterschlägt die Verschiebung der Steuerprogression: nach dem Schulz-Plan zahlen alle unterhalb von 60.000 Euro weniger als bisher. Dann verschweigt die INSM noch eins: die ganze Zahlenspielerei gilt nur für Alleinstehende, für Familien gelten viel höhere Beträge. Und noch eins muss der geneigte Leser berücksichtigen: hier ist immer von „zu versteuerndem Einkommen“ die Rede – dieser Betrag liegt immer ein Stück unter dem, was als Bruttoarbeitslohn auf der monatlichen Abrechnung steht. Aber mit den Details hat es die INSM nicht so.

Wo die INSM Recht hat, das ist die Anhebung des Spitzensteuersatzes. Um die kommt niemand herum, der seriöse Finanzpolitik betreiben will: wer viele entlasten will, muss irgendwo das Geld dafür hernehmen. Das kann zu einem Teil der Überschuss sein, den Schäuble zurzeit verbucht. Aber hier ist Vorsicht geboten, auf die aktuellen fetten Jahre können auch schnell magere Jahre mit sinkenden Steuereinnahmen folgen. Zum andern Teil können diejenigen die Steuerentlastung „der Mitte“ finanzieren, die mehr verdienen. Will man die Besserverdiener verschonen, muss man andere Finanzquellen nennen. Schulz schätzt die Kosten seiner Steuerpläne auch so schon auf 15 Milliarden im Jahr.

Nicht so platt wie in der Bild-Anzeige kommt in der Süddeutschen die Aussage zur Reichensteuer daher. Gleichwohl ist der Text sowohl richtig als auch falsch: der Aussage „ab 60.000 Euro mehr als 42%“ wird gegenübergestellt „Das zahlen bisher nur Reiche mit einem Einkommen ab 250.000 Euro“, und gerade diese Gegenüberstellung ist schief. Denn damit wird nicht Vergleichbares verglichen. Auch nach dem Schulz-Plan fällt für 60.200 Euro Jahreseinkommen nicht der Spitzensteuersatz an, der ab 250.000 Euro fällig wird. Immerhin muss man der INSM eins zugestehen: solche schiefen Vergleiche zu basteln ist nicht trivial, hier hat man sich für die schräge Aussage ordentlich Mühe gegeben.

Alles in allem: wer so lügt oder mit Halbwahrheiten operiert, der muss es nötig haben. Vertrauen kann man damit nicht gewinnen.

Eine Frage bleibt noch zum Abschluss: wo liegt denn eigentlich „die Mitte“? Das Statistische Bundesamt liefert Zahlen: 2016 lag der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst im produzierenden Gewerbe knapp unter 3.900 Euro. Das sind im Jahr keine 50.000 Euro; das zu versteuernde Einkommen liegt dann noch etwas niedriger – deutlich unter den 60.000 Euro der Anzeigenkampagne.