Warum man Frau May nicht unterschätzen sollte
Mit schwierigen Partnern umgehen und ihre Meinung verändern, in der Rhetorik gibt es dafür ein bewährtes Rezept. Man versuche nicht, gegen ihre Meinung zu halten: Sie reden lassen, mit ihnen ins Gespräch kommen, in ihrer Gedankenrichtung mitfahren – und im passenden Augenblick die Weiche stellen, sie auf das andere Gleis lenken, bis sie sich selbst bei der entgegengesetzten Meinung wieder finden.
Im Augenblick erleben wir, wie Frau May dies Verfahren beim Thema Brexit anwendet. Sie war nicht für den Brexit. Wenn sie ihn verhindern wollte, machte es keinen Sinn, offen dagegen zu argumentieren; Volkes Wille war abgefragt, und auch wenn die Umstände der Volksabstimmung zweifelhaft waren, musste er respektiert werden. Also sprang sie auf den fahrenden Zug auf, machte den Zugführer. Führte allerlei Verhandlungen, tat so, als ob sie England unbedingt aus der EU heraus führen wollte. Stellte mit sehr vernünftigen Argumenten die Weiche: Wenn wir raus wollen, muss Alles seine Ordnung haben, müssen wir über Zölle für Klopapier reden, müssen wir die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten sichern, muss es eine Lösung für Irland geben.
Von diesem Augenblick an rumpelte der Brexit-Zug auf ein anderes Gleis. Ja natürlich wollen sie aus der EU heraus, aber: Nicht ohne das Klopapier vom Kontinent. Und wenn die englischen Autofabriken schließen, wenn die gesamte Industrie leidet und das Land im Chaos versinkt, wie wollen sie das ihren Wählern erklären? Also fuhren all die englischen Parlamentarier, die doch so dringend aus der EU heraus wollten, brav mit auf das Nebengleis. Keinen harten Brexit! Von diesem Punkt an konnte May sich zurücklehnen. Dem Abkommen mit der EU würde das britische Parlament nicht zustimmen, einen harten Brexit will auch keiner, also bleibt am Ende des Nebengleises nur ein Ziel. Man redet weiter vom Brexit und verschiebt ihn auf unabsehbare Zeit. Man wählt Abgeordnete für das europäische Parlament, man zahlt weiter in die EU-Kassen ein, man bleibt dabei. Den Brexit hält man dabei unentwegt hoch, wie eine alte Vereinsfahne – bis sie verschlissen ist, bis sich keiner mehr daran erinnert.
Alle Johnsons und Rees-Moggs können zufrieden sein, denn am Brexit wird nicht gerüttelt. Alle Realisten haben ihr Ziel erreicht, England bleibt in der EU.
May muss endlich liefern, hieß es über Jahre. Man soll sie nicht unterschätzen, sie hat schon geliefert. Wetten?