Amri und das Wahlkampfgetöse

Der furchtbare Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat sich gejährt, das Land ist nach wie vor tief betroffen. Was aus dem Blick geraten ist, ist der Missbrauch des Themas im NRW-Landtagswahlkampf.

Wir erinnern uns: Herr Lindner von der FDP attackierte wegen des Attentats Anfang 2017 den nordrhein-westfälischen Innenminister. Lindner behauptete „So einer hätte bis zur Ausweisung festgesetzt werden können. … Herr Jäger persönlich hätte handeln und eine Abschiebungsanordnung erlassen können“ (RP Online). In dem allgemeinen Entsetzen über das Verbrechen stieß diese Kritik auf offene Ohren, niemand wollte etwas über rechtliche Hintergründe hören.

Ein Jahr später befasst sich ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses unter anderem mit der Frage, ob man Amri nicht hätte verhaften und das Verbrechen dadurch verhindern können. Rechtsgrundlage für die Verhaftung von abzuschiebenden Ausländern ist das Aufenthaltsgesetz.

Es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten, eine davon ist die Anordnung der Haft durch einen Richter auf Antrag der Behörde. Aber: „Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei [in schweren Fällen: sechs] Monate durchgeführt werden kann“, bestimmt § 62 Aufenthaltsgesetz. Diese Frist war bei Amri nicht einzuhalten, sein Heimatland Tunesien wollte ihn nicht „zurückhaben“. Anfang 2018 hat der damalige Leiter der Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten im NRW-Innenministerium, Burkhard Schnieder, vor dem Amri-Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus dazu ausgesagt: „Es war klar, dass es nicht möglich ist, innerhalb von sechs Monaten Ersatzpapiere zu bekommen.“

Die Behörde selbst (zweite Möglichkeit) kann den abzuschiebenden Ausländer „vorläufig in Gewahrsam nehmen“ zur Vorbereitung des richterlichen Verfahrens; ist die Anordnung von Haft durch den Richter aber gar nicht möglich – siehe oben -, verbietet sich dies Verfahren von selbst.

So bleibt in der Beurteilung der fatalen Abläufe von Ende 2016 ein übler Nachgeschmack zurück. Einerseits hätten die Behörden manches besser machen, vielleicht den Anschlag verhindern können. Andererseits hat der Spitzenkandidat der FDP, die sich gern als Partei der Freiheitsrechte geriert, massiv eine Verhaftung propagiert, für die es nach bisherigem Kenntnisstand nach wie vor keine Rechtsgrundlage gegeben hätte. Für Regierungsverantwortung empfiehlt man sich so nicht – es ist nicht schade um Jamaika.