Hiltruper Röhrenwerke und Direktor Stein
Die Entwicklung Hiltrups im 20. Jahrhundert ist von zwei großen Industrieunternehmen geprägt worden, den Glasurit-Werken und dem Röhrenwerk. Dahinter stehen Unternehmer-Persönlichkeiten. Max Winkelmann, der Gründer von Glasurit, starb 1935. Wenige Jahre vorher hatte Walter Stein die technische und kaufmännische Leitung der Hiltruper Röhrenwerke übernommen. Sein für einen Manager dieser Zeit vielleicht nicht untypischer Lebenslauf soll hier kurz skizziert werden.
Stein (1895-1982) arbeitete sich in der deutschen Stahlindustrie hoch. Bei der Annener Gussstahlwerk AG machte er ab 1913 eine kaufmännische Lehre. 1915 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und kehrte 1916 als Kriegsbeschädigter zurück. Bis 1918 arbeitete er wieder bei der Annener Gussstahlwerk AG. Mit dem Wechsel zu den Vereinigten Stahlwerken stieg er zum stellvertretenden Einkaufsleiter auf. 1924 setzte er seine Karriere bei den Siegburger Walzwerken fort. Aus der Position als Prokurist und Verkaufsleiter wechselte er 1931 zu Hoesch nach Hiltrup.
Stein trat in Hiltrup als Sanierer an. Die relativ kleinen Kleinröhrenwerke Fischer & Co am Hiltruper Bahnhof (gegründet 1919) hatten zunächst durch Auslandsgeschäfte eine gesunde Grundlage gefunden. In der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 hatte der Betrieb zusätzlich mit Qualitätsmängeln zu kämpfen und ging 1929 in Konkurs. Hauptlieferant des zu Röhren verarbeiteten Bandstahls war Hoesch gewesen und übernahm 1930 das Werk, ab 1931 unter der Firma „Hiltruper Röhrenwerke GmbH“.
Hoesch setzte ab 12.6.1931 Walter Stein als einen Direktor ein. Das Werk hatte 1931 65 Mitarbeiter und produzierte Präzisionsrohre für die verschiedensten Verwendungszwecke, Rohre für die Elektroindustrie, Rohre für den Stahlleichtbau, später auch Dachkonstruktionen aus Rohren eigener Fertigung.
Stein war zunächst Geschäftsführer sowohl für den kaufmännischen als auch für den technischen Betrieb. Er zog nach Hiltrup in eine Mietwohnung in der Klosterstraße 7. Das Werk machte in den ersten Jahren Verluste, wurde aber modernisiert und vergrößert (1935: 122 Beschäftigt, 1936: 161 Beschäftigte, 1938: 228 Beschäftigte) und kam in die Gewinnzone. 1939 wurde für die Fertigung eine elektrische Schweißmaschine beschafft. Die Produktion stieg von 1.800 Tonnen 1932/1933 auf über 7.000 Tonnen jährlich ab 1937. Stein blieb kaufmännischer Betriebsleiter, die technische Betriebsleitung übernahm Herr Schorr.
Stein leistete schon in den 1930er Jahren finanzielle Unterstützung für Siedlergemeinschaften. „Ein eigenes Heim auf freier Scholle“ war das Ziel der Siedlergemeinschaften, die nach dem I. Weltkrieg (und auch nach dem II. Weltkrieg) gegründet wurden. In der Siedlergemeinschaft Hiltrup Ost 1938 fanden sich Beschäftigte des Röhrenwerks zusammen (In Münster wurde zum Beispiel 1937 die Siedlergemeinschaft Düesbergweg gegründet.). Sie bauten mit Unterstützung des Werks östlich des Kanals ungefähr 50 Siedlerhäuser.
Während des II. Weltkriegs wurden nach einer Quelle Geschützrohre gefertigt, nach Angaben von Hoesch (direkt nach Kriegsende) dagegen war das Werk kein Rüstungsbetrieb. Beschäftigt wurden in dieser Zeit auch Zwangsarbeiter. Die Zwangsarbeiter waren im sogenannten „Gemeinschaftslager“ auf Werksgelände untergebracht; Unterlagen über das Lager sind im Werksarchiv nicht mehr vorhanden (Auskunft des Corporate Archives (CHA) der thyssenkrupp Services GmbH im Jahr 2023).
Steins Wohnhaus in der Jahnstraße (heute: Hanses-Ketteler-Straße), das er 1938 bezogen hatte, wurde im Mai 1945 von der englischen Besatzungsmacht requiriert und 6 Jahre lang als Offiziersmesse genutzt. Das Werk war zu fast 80% zerstört: „47 Belegschaftsmitglieder hatten sich zusammengefunden … schweres Stück Arbeit ohne Dach und Fach bei Wind und Wetter“ (Abschiedsansprache Stein im Jahr 1961). „Mit Rücksicht auf Ihre betrieblichen Leistungen insbesondere beim Wiederaufbau unseres Werkes“ bekam ein Arbeiter im Juni 1946 eine Lohnerhöhung von 0,84 auf 0,88 Reichsmark pro Stunde.
Der Ingenieur Rudolf Schorr (1906-1974), der 1936 im Röhrenwerk angefangen hatte und schnell technischer Betriebsleiter geworden war, wurde nach Kriegsende aufgrund von Anzeigen aus dem Werk von den Alliierten verhaftet und landete in Warschau in Haft. Als Betriebsleiter wurde er vorübergehend durch Conrad Wieland ersetzt. Wieland gehörte zu der Gruppe Hiltruper Bürger, die am 4. April 1945 als „vorläufiger Gemeindeausschuss“ den Kontakt zur Besatzungsmacht aufgenommen hatte. Wieland wurde noch im Juli 1948 beim 100. Stiftungsfest des Männergesangvereins 1848 Hiltrup als Betriebsleiter und Mitglied des MGV-Ehrenausschusses erwähnt. Schorr wurde nach vier Jahren aus der Haft entlassen und arbeitete dann wieder als technischer Betriebsleiter des Röhrenwerks.
Im Februar 1946 entstand ein Konflikt zwischen Stein und SPD / Gewerkschaften. Hintergrund war ein Geschäft aus dem Jahr 1945 zwischen dem Röhrenwerk, vertreten durch Stein, und dem Werkseinkäufer W.. Stein hatte Anfang 1945 noch vor Kriegsende von W. „Tankholz“ für das Werk eingekauft. W. hatte dies minderwertige Holz privat beschafft, es sollte im Holzvergaser des einzigen verbliebenen Werks-LKW als Kraftstoff eingesetzt werden. Vergütet wurde die Holzlieferung nach Kriegsende durch die Lieferung von Betriebskohle an W., der 1946 in einem Straflager einsaß.
Bommert und Goerke, zwei Mitglieder der Betriebsvertretung sahen dies Geschäft als Bevorzugung des Parteigenossen W. an. Hausbrandkohlen waren knapp, andere Beschäftigte „waren nicht voll ausgeliefert worden“. Sie warfen Stein vor, er sei SA-Oberscharführer und führendes Parteimitglied in Hiltrup gewesen. Der Gang des Betriebes sei von dem Kohlenvorrat abhängig gewesen. Sie wandten sich an die Verwaltung der Gewerkschaften in Münster und erreichten, dass diese in einem Schreiben an die Hoesch AG den „Abbau des hiesigen Betriebsdirektors Walter Stein“ forderten. Diese Aktion hatten die beiden nicht mit den übrigen Mitgliedern der Betriebsvertretung abgestimmt, aber behauptet, „im Auftrage der Belegschaft“ zu handeln.
Zwei Wochen später kam es zum Gespräch zwischen dem Gewerkschaftsvertreter und Stein. Stein war zwar Mitglied der SA-Reserve, aber nicht SA-Oberscharführer gewesen. Er war Mitglied in zahlreichen NS-Organisationen gewesen, ohne sich dort zu engagieren – aus heutiger Sicht eher ein opportunistischer Mitläufer. Die Gewerkschaften zogen den „Abbau“-Antrag bei der Hoesch AG zurück und verwiesen auf das anstehende Entnazifizierungsverfahren.
Weitere zwei Wochen später fand eine Belegschaftsversammlung statt. Die Initiatoren des nicht abgestimmten „Abbau“-Antrags räumten Fehler ein. In der Diskussion wurde der Einsatz Steins für die Siedlergemeinschaft Hiltrup Ost 1938, für Kinderbeihilfen und sonstige Unterstützungen unabhängig von der Parteimitgliedschaft hervorgehoben.
Im März 1947 stufte das Headquarters Military Government Stein in die Kategorie „may be employed“ ein. Im selben Jahr reihte ihn der Entnazifizierungsausschuss in Münster in die Kategorie IV ein: Kein Beschäftigungsverbot, keine Vermögenssperre. Die Belegschaft wuchs auf 111 Beschäftigte.
Im Oktober 1947 war die wichtigste Fertigungsanlage des Werks, die elektrische Rohrschweißanlage, von der britischen Besatzungsmacht zur Demontage vorgesehen. Mit der Unterstützung der benachbarten Glasurit-Werke setzte Stein sich für den Verbleib der Anlage in Hiltrup ein. Ende 1948 waren die Gebäude des Werks weitgehend wieder hergestellt.
Als sein Wohnhaus für britische Offiziere requiriert blieb, engagierte Stein sich 1949/1950 im Landesverband der Besatzungsgeschädigten / Notgemeinschaft der besatzungsverdrängten Hausbesitzer und Betriebe von Münster und Umgebung. Anfang 1950 setzten sich sowohl die Industriegewerkschaft Metall als auch der Betriebsrat mit Erfolg dafür ein, Steins Wohnhaus freizugeben: Frau Stein sei durch die Beschlagnahme körperlich und seelisch völlig zusammengebrochen.
In dieser Zeit erschien Schorr wieder als technischer Betriebsleiter. Er war nach Kriegsende vorübergehend durch Conrad Wieland ersetzt worden. Das Foto zeigt Stein und das Ehepaar Schorr im Gespräch mit Willy Schubert, Stein und Schubert sind zu dieser Zeit die Geschäftsführer des Röhrenwerks.
Stein setzte nach dem II. Weltkrieg die Unterstützung der Siedlergemeinschaften in HIltrup-Ost fort. 1950 wurden in Nachbarschaftshilfe weitere Siedlungshäuser errichtet für die Neusiedler der „Neuen Heimat“. Im Beispielfall eines Vorarbeiters des Röhrenwerks kaufte zunächst die „Neue Heimat“ Münster GmbH das knapp 1000m² große Grundstück. Das Grundstück und die Baukosten, die nicht durch Eigenleistung des Siedlers abgedeckt werden konnten, wurden finanziert mit einer Hypothek der Kreissparkasse (5000 DM zu 6,5% Zinsen) und einer Hypothek des Röhrenwerks (3500 DM unverzinslich). 1954 kaufte der Siedler das Grundstück mit dem fertigen Haus für knapp 17000 DM. Die Hypotheken wurden auf den Kaufpreis angerechnet; der „verbleibende Restkaufpreis [galt] durch Barzahlung oder Arbeitsleistung des Siedlers oder durch Verrechnung zwischen Träger und Siedler als bezahlt“, die sogenannte Muskelhypothek.
In Zeitungsberichten aus dem Jahr 1956 werden als Verdienste Steins hervorgehoben: Das großangelegte Siedlungswerk, das 1956 gestartete Ferienwerk und die Gründung einer Belegschaftskasse für Hilfe in Notfällen von Belegschaftsmitgliedern.
Das Hiltruper Röhrenwerk war eingebunden in den Hoesch-Konzern.
Wasser- und Gasrohre wurden in Hiltrup produziert sowie Stahlrohre für Dachkonstruktionen.
Für den Bau der Marienkirche in Hiltrup-Ost 1955/1956 schenkte das Hiltruper Röhrenwerk die Dachkonstruktion im Wert von 18.252 DM.
Die fertigen Rohre wurden auf dem eigene Industriegleis verladen…
… und per Bahn abtransportiert.
Stein betrieb die weitere Ausweitung der Produktion des Röhrenwerks. Die Produktion in Hiltrup war auf Rohre von 10 bis 76 Millimeter Durchmesser begrenzt.
Die Ölindustrie brauchte größere Rohre bis 219 Millimeter. Dafür war eine Werkserweiterung erforderlich, in Hiltrup kam der Grunderwerb jedoch nicht zustande.
Auf Steins Initiative baute Hoesch für größere Rohre ein Werk in Hagen, es ging am 9.8.1956 in Betrieb. 1957 entstand ein Spiralrohrwerk in Barop. In Hiltrup arbeiteten 1956 rund 500 Mitarbeiter.
Die Hiltruper Röhrenwerk GmbH wurde 1957 umfirmiert in Hoesch Rohrwerke AG, Stein bildete mit Schubert den Vorstand der AG; Schorr wurde Betriebsdirektor des Hagener und des Hiltruper Werkes (Werkszeitung WERK und WIR 10/11 1956).
Stein wurde 1961 pensioniert, der Betriebsratsvorsitzende Heidkötter dankte ihm für ausgeprägtes soziales Verständnis: „… durch Ihre Initiative heute [50] Besitzer eines schönen Siedlerhäuschens“. 1966 verlegte die Hoesch AG das Röhrenwerk nach Hamm, da die nötigen Flächen für eine Werkserweiterung in Hiltrup nicht zur Verfügung standen. Hiltrup verlor rund 400 Arbeitsplätze. 1968 nahm Basalan auf dem früheren Hoesch-Werksgelände die Herstellung von Basaltwolle auf.
Walter Stein starb 1982.
(Der Artikel stützt sich auf Archivmaterial des Hiltruper Museums, dem besonderer Dank für die freundliche Unterstützung gilt.)
(Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 07.02.2024.)