Warum wir Parteien brauchen
„Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ – 1948 wurde dies Karnevalslied ein großer Erfolg und ging auch schon mal als deutsche Nationalhymne durch. Das Lied lobt das „feurig wilde Wesien“ der „deutschen Mägdlein“ – „Eingeborene von Rezonesien“ titelt die Süddeutsche Zeitung (3.6.2019) und geht auf die „feurig wilden“ Reaktionen der Hierarchen auf das Youtube-Video von Rezo und auf andere Formen massenhafter Meinungsäußerungen ein.
Es geht um Meinungsäußerungen in der überkommenen Form der Straßen-Demonstration, aber von eher ungewöhnlichen Akteuren: Schüler und Schülerinnen, die zum Klimawandel politisches Handeln fordern statt Geschwätz; Frauen, die in der Kirche ernst genommen werden wollen. Dazu kommen die neuen Formen, die durch das Internet möglich geworden sind. In den USA nutzt ein skrupelloser Demagoge Twitter, um die Massen zu beeinflussen und am Parlament vorbei Politik zu machen. In den USA und in Europa nutzen ausländische Regierungen diese Medien, um Demokratien zu destabilisieren, Volksabstimmungen und Wahlen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Beides folgt dem klassischen Top-down-Ansatz. Mit dem Youtube-Video von Rezo und den „ungewöhnlichen“ Demonstrationen zeigt sich jetzt, dass man den Spieß auch umdrehen kann: Man kann wichtige Themen öffentlich und ernsthaft „von unten nach oben“ diskutieren, auch wenn dies nicht im Interesse der Hierarchen ist.
Jahrzehntelang ist wenig Bewegung in der öffentlichen Diskussion gewesen. Nach der neuen Ostpolitik, nach „Willy wählen“ und dem Kampf um Abtreibung und informationelle Selbstbestimmung – um nur einige heiße Themen der Vergangenheit zu nennen – sind „die 68er“ stellvertretend für die öffentlich Diskutierenden der Zeit diffamiert worden. Sie sind für jede mögliche und unmögliche (Fehl-)Entwicklung verantwortlich gemacht worden, sie waren angeblich zu links oder zu anarchisch oder zu akademisch, was auch immer. „Keine Experimente“ wurde wieder die Devise wie schon in den ersten Wahlkämpfen der Nachkriegszeit. Kohl und Merkel konnten lange unangefochten regieren, Probleme wurden ausgesessen.
„Ein kleines Häuflein Diplomaten macht heut die große Politik“ hieß es bei den Eingeborenen von Trizonesien, das bezog sich ganz aktuell auf politische Verwerfungen der Zeit. Nun schallt derselbe Text in Rezonesien den Parteien entgegen, aber mit anderer Musik: Das nehmen wir nicht mehr hin, dass sich die Hierarchen zu Experten erklären und sich nicht reinreden lassen wollen.
Was tun? Sollen Merkel und AKK den Rezo zum Kaffee einladen, dann wird Alles wieder gut? Aber die Einladungen kommen inzwischen von der anderen Seite; der Bischof ist in die Küche von Maria 2.0 eingeladen (und nicht gekommen); die Politiker sind eingeladen, sich auf Millionen von empörten Leuten einzulassen. Da hilft kein neuer Youtube-Kanal, da muss Inhalt kommen, da muss geliefert werden.
Die politischen Parteien zeigen in dieser Situation ihre aktuellen Defizite. Sie sind nicht in der Lage, als Plattform für die Diskussion gesellschaftlich wichtiger Themen zu funktionieren. Der Mitgliederbestand altert, die Zahlen schrumpfen, die altgedienten Beitragszahler haben ihre Begeisterung verloren. Neue Medien begreifen sie nicht als Werkzeug des Dialogs, sondern nach wie vor als Einwegkanal, als Flugblätter in anderer Form. Und wer will sich noch in Geschäftsordnungsdebatten, Anträgen zur Tagesordnung und Vorstandswahlen verlieren, dazu noch in den Mühen der Ebene von all dem Kleinkram, der auch diskutiert und entschieden werden muss, weit ab von den großen Themen?
Noch profitieren die Grünen von dieser Entwicklung. Als „Mein Freund der Baum“-Partei bieten sie den Enttäuschten eine emotionale Heimat, eine konfliktfreie Insel der Seligen. Sie haben in Nordrhein-Westfalen erlebt, wie es ist, wenn man selbst handelt, die Empörung der Wähler über ihre reale Politik hat sie aus der Regierung gefegt. Auch wer sie jetzt als Antwort auf den Klimawandel gewählt hat, wird sich beschweren, wenn Handeln ansteht und Konflikte, wenn das Autofahren eingeschränkt und die Wohnung wegen energetischer Sanierung noch teurer wird. Der Kohleausstieg mit seinen Folgen für Arbeitsplätze und öffentliche Haushalte gibt einen Vorgeschmack; die Grünen hatten das Glück, dass sie ihn nicht verantworten mussten und ihre emotionale Bindungskraft bewahren konnten.
So zerfasert der öffentliche Dialog in einer Situation, die handlungsfähige starke Akteure braucht. Langfristig ist unser Wohlstand nur zu wahren und zu mehren, wenn rechtzeitig gehandelt wird: Europa, Klima, sozialer Zusammenhalt, überall werden stabile Entscheidungsstrukturen gebraucht, damit sich etwas bewegt. Rezo und Fridays-for-future können sie nicht ersetzen.
Es gibt nur einen Ausweg: Das Missmanagement in den alten Parteien muss gestoppt werden. Die Parteien dürfen die aktuelle Phase öffentlicher Diskussion nicht als Angriff auf ihre Existenz abwehren, sie müssen sie als Anstoß nach vorn nutzen.
Aber auch auf Seiten des Publikums muss sich etwas tun. Niemandem ist damit gedient, ununterbrochen Kritik zu üben. Sowohl die Medien als auch all die Bürgerinnen und Bürger müssen sich lautstark zu Parteien bekennen. Wir brauchen euch, bewegt euch!