Regt euch ab

Lärm und Koalition

Regierungsbildung in Deutschland, es geht um Einfluss: was wollen wir an unserem Gesellschaftssystem ändern, wohin wollen wir Europa steuern, und welche Personen sollen es machen. Das sind keine einfachen Fragen, aber sie sind lösbar. Natürlich werden solche Diskussionen von den unterschiedlichen Sichtweisen der Parteien und Personen bestimmt, aber das ist: Routine. Gelebte demokratische Routine, inzwischen über etliche Jahrzehnte eingeübt. Auch die Empörung derjenigen gehört dazu, die in der aktuellen Wahlperiode nicht mit am Verhandlungstisch sitzen; natürlich kritisieren sie all das, was sie als Koalitionäre vielleicht selber mitgemacht hätten.

Warum also überschlagen sich eigentlich so viele mit ihrer Aufregung?

Wortbruch, Verfassungsbruch, Neubeginn, Neuerfindung, die Vokabeln konnten gar nicht groß genug sein. Die kürzeste Halbwertzeit hatte der Verfassungsbruch. Die FAZ griff mit Schwung diese Behauptung einiger Hinterbänkler auf, die SPD breche mit ihrem Mitgliedervotum die Verfassung – das Verfassungsgericht hatte nur ein Schulterzucken dafür.

Einen politischen Neubeginn, einen Aufbruch in ungeahnte politische Welten beschworen viele Diskutanten, darunter taten sie’s nicht. Nur zögerlich gaben einige zu, dass man nicht wirklich Umsturz, Revolution meinte. Eigentlich haben viele der Regeln, die unser Leben bestimmen, bis heute ganz gut funktioniert; natürlich gibt es überall Verbesserungsbedarf – der Entwurf eines Koalitionsvertrags belegt das sehr anschaulich -, aber: alles Alte weg, Neubeginn, sozusagen Neubau auf der grünen Wiese? Das hat doch kaum jemand ernst gemeint. Das war doch nur ein griffiger Slogan. Und war es nicht in Wirklichkeit nur die Forderung, man wolle neue Schauspieler auf der politischen Bühne sehen, mit neuen Witzen und neuen Skandälchen, aber im selben Stück?

Der Umgang mit dem SPD-Vorsitzenden Schulz ist ein gutes Beispiel für dies Phänomen. Gabriel an der Spitze der SPD musste weg: er war abgewatscht als Vorsitzender, von den Medien als unfähig heruntergeschrieben, ein neues Gesicht sollte her. Schulz auf die Bühne, Applaus! So groß der Hype, so schnell der Absturz. Er kann doch nicht übers Wasser gehen, wir trinken weiter nur Wasser und keinen Wein – als ob man das mit Verstand hätte erwarten können.

Jetzt wird die große Wortbruch-Keule geschwungen. Was für Pharisäer sind da am Werk! Natürlich war es richtig, nach dem schlechten Wahlergebnis eine Regierungsbeteiligung der SPD, einen Eintritt ins Kabinett unter Merkel abzulehnen. „Wir haben verstanden“ musste die Botschaft sein, die von aller Öffentlichkeit erwartet wurde, „Lindner und die Grünen sollen’s machen“. Haben sie aber nicht. Haben sie nicht! Was dann? Europa wartet auf Deutschland, und die SPD sitzt in der Ecke und leckt ihre Wunden? Diese Diskussion ist durch. Die SPD hat diskutiert und entschieden, mit CDU und CSU zu verhandeln. Auf ein verändertes Umfeld muss es veränderte Antworten geben. Da geht selbstverständlich der Spitzenmann Schulz voran in die Koalitionsverhandlungen. Und bewährt sich als professioneller Verhandler, zeigt die Qualitäten, die ein zukünftiger Außenminister braucht. Ja, Schulz muss auch als Außenminister unter Merkel in die Regierung gehen. Alles andere wäre unlogisch, und in diesem Amt wird er sehr schnell wieder an Umfragen-Beliebtheit zulegen – Gabriel hat es gerade vorgemacht aus der allerschlechtesten Startposition heraus.

Und wer sich jetzt noch aufregt über die Zeit, die seit der Wahl vergangen ist, möge sich an Herrn Lindner wenden.