Hiltrup war keine Insel der Unschuldigen, als Deutschland vor hundert Jahren nationalsozialistisch wurde. Das katholisch geprägte Westfalen stimmte zwar etwas weniger begeistert für die Nazis (und musste sich dafür von Göring bedrohen lassen). Aus diesem eher Zentrum-geprägten Umfeld stach Hiltrup aber unrühmlich hervor. Die älteste Ortsgruppe der NSDAP im Landkreis Münster wurde hier schon 1930 gegründet. 1933 errang sie vier von 12 Sitzen der Hiltruper Gemeindevertretung. Zum Gemeindevorsteher wurde der Nazi-Kandidat gewählt – mit Stimmen der „bürgerlichen“ Parteien. Der erste NSDAP-Ortsvorsteher im Münsterland. Später war er Vertreter der SS in Hiltrup.
Schon nach sechs Wochen beschloss die Hiltruper Gemeindevertretung am 24.4.1933 auf Antrag des NSDAP-Ortsgruppenführers die Umbenennung von Straßen: Adolf-Hitler-Straße (statt Bahnhofstraße, heute Marktallee), Hindenburgstraße (statt Finkenstraße, heute Max-Winkelmann-Straße), Horst-Wessel-Straße (statt Münsterstraße, heute Hohe Geest), Albert-Leo-Schlageter-Straße (statt Am Himmelreich, heute Hummelbrink) und Jahnstraße (statt Antoniusstraße, heute Hanses-Ketteler-Straße).
Diese Nazi-Propaganda auf Straßenschildern wurde nach Kriegsende 1945 sofort rückgängig gemacht. Bemerkenswert ist, dass die Hiltruper damals auch Hindenburg sofort in der geschichtlichen Versenkung verschwinden ließen – und dass es ausgerechnet ein Hiltruper war, der 2012 den münsterschen Schlossplatz unbedingt nach Hindenburg benannt wissen wollte. 1947 kamen dann noch zwei Nachzügler dazu. Die Hiltruper strichen Bismarck vom Straßenschild (heute Kardinalstraße) und versenkten auch den U-Boot-Kommandanten Weddigen (heute Moränenstraße), mit dem die Stadt Münster heute noch ihre liebe Not hat.
Was auf den ersten Blick nach einer raschen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit aussieht, war bei näherer Betrachtung allerdings nur Ausführung eines Befehls. Grundlage war eine Anordnung der Besatzungsmacht, die Kontrollratsdirektive Nr. 30 vom 13. Mai 1946 über die Beseitigung deutscher Denkmäler und Museen militärischen und nationalsozialistischen Charakters. Im Übrigen hatten die Hiltruper es nicht eilig mit der Aufarbeitung, frühere Nazi-Vertreter behielten Ehrenposten und Funktionen.
Dies – vorsichtig ausgedrückt – Desinteresse an der antidemokratischen Geschichte Hiltrups hatte Folgen. Als Hiltrup 1975 nach Münster eingemeindet wurde (was manche heute noch betrauern), gab es eine ganze Reihe von Namensdoppelungen. Die Hiltruper mussten sich „ihre“ Straßen umbenennen lassen. Dazu gehörten auch Straßen südlich der Marktallee. Aus Klosterstraße wurde Am Klosterwald, und die Max-Winkelmann-Straße zog einfach um: Vom Bahnhof (heute Bergiusstraße) zur früheren Finkenstraße. Auch für die Jahnstraße wurde eine Lösung gefunden, die in den Hiltruper Kontext passt; die Gärtnerei Hanses-Ketteler war früher in diesem Bereich aktiv. Anders war es bei der Südstraße; wer hier den Philosophen und Nazi-Hochschulrektor Heidegger aus dem Hut zog (und Leibniz für die frühere Wilhelmstraße), ist nicht bekannt. Nicht zu übersehen ist aber, dass weder Heidegger noch Leibniz in den Kontext des klerikal-handwerklich-industriellen Umfelds passen. Hiltrup wollte sich wohl nur ein wenig schmücken. Für eine genauere Befassung mit diesen beiden Persönlichkeiten fehlte offensichtlich die Zeit oder das Interesse, schließlich hatte Hiltrup bis zuletzt für seine Unabhängigkeit gekämpft.
Man soll die Geschichte ruhen lassen, das hat dann im Fall Heidegger nicht funktioniert. Neuere Forschungen haben seine enge Verbindung zum Nationalsozialismus belegt. Heidegger war nicht Mitläufer, sondern prominenter Täter. Es war daher folgerichtig, dass Hiltrup im Jahr 2023/2024 eine Diskussion über die erneute Umbenennung der Straße anfing. Aus Sicht eines einzelnen Ratsherrn war es für ihn genauso folgerichtig, nach Hindenburg auch Heidegger in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Die Taktik bestand darin, sich hinter dem Shitstorm einiger Anwohner zu verstecken.
In Münster stehen einige weitere Straßennamen in der Diskussion. Eine gemeinsame Basis für das weitere Vorgehen musste her. Die Einzeldiskussionen (und Shitstürme) wurden auf Eis gelegt, auf Stadtebene wurden „Leitlinien für Ehrungen im öffentlichen Raum“ entwickelt. Fazit: Einzelfälle mit Augenmaß angehen, Historiker fragen und die Anwohner informieren. Bei Bedarf kann auch eine Anwohnerversammlung einberufen werden: „Diese Veranstaltungen dienen der Erläuterung der Beweggründe für die Umbenennung und der Folgen, die auf die Betroffenen zukommen“ (WN 13.9.2024). Nicht mehr und nicht weniger. Die politisch vertretene Stadtgesellschaft entscheidet im übergeordneten Interesse. Die Anwohner (wie weit ist der Kreis eigentlich zu ziehen?) werden informiert, dürfen mitreden, aber sie entscheiden nicht.
Anwohner der Heideggerstraße waren schon einmal zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Auch die praktischen und finanziellen Folgen einer Umbenennung wurden sachlich-nüchtern erläutert, sie wären eher zu vernachlässigen. Die aufgeheizte Stimmung einiger Teilnehmer war damit nicht zu erklären. Eine demokratisch legitimierte Plattform für eine Entscheidungsfindung können solche Veranstaltungen nicht sein.
Nur der Ratsherr, der schon für Hindenburg-Schilder kämpfte, will das so nicht sehen. Entgegen den gerade beschlossenen „Leitlinien …“ setzt er nach wie vor auf ein Votum der Anwohner, praktisch sollen die Anwohner entscheiden („keine Straßenumbenennung ohne Anliegervotum“). Warum? Aus Angst vor dem Zorn einiger Anwohner? Aus welchen Gründen sonst?
Die Heideggerstraße sollte nicht zur Lokalposse werden. Das Thema liegt nun einmal auf dem Tisch, die „Leitlinien…“ weisen den Weg zum weiteren Vorgehen. Da sind Arbeitsschritte abzuarbeiten, und dann müssen die gewählten Politiker entscheiden. Nicht ein paar Shitstürmer. Und in die Entscheidung sollte ein wenig Aufarbeitung Hiltruper Geschichte einfließen. Das heißt konkret, Hiltrup hat eine ganz besondere Verantwortung. Hiltrup stand an der Spitze bei der Machtübertragung an die Nazis, Hiltrup ist durch Straßenbenennungen schwer vorbelastet. Jetzt muss Hiltrup an der Spitze stehen bei der Sensibilität, welche Personen der braunen Zeitgeschichte zuzuordnen und damit zwingend von Ehrungen auszuschließen sind.
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