1944 wurde die „Alte Stiege“ zerstört
Am 30. September 1944 fand einer der zwölf großen Bombenangriffe auf Hiltrup statt. Betroffen war damals vor allem die „Alte Stiege“, heute „An der alten Kirche“. Mehrere Höfe standen in Flammen. Else Kreft geb. Langenkamp erinnert sich genau daran, wie sie damals, am Tag vor dem Erntedankfest, als siebenjähriges Mädchen die Zerstörung ihres Elternhauses und der anderen Gebäude erlebte:
„In Gedanken durchstreife ich den unvergeßlichen Tag.
Nachdem wir Kinder aus der Schule kamen und das Mittagessen verzehrt war, verrichtete jeder sein Arbeitspensum. Bevor ich den Hof harkte, war ich oben im Mädchenzimmer und spielte mit den Perlen meiner größeren Schwester Agnes, was diese nicht ganz gerne sah. Inzwischen hatte meine Mutter die große Küche gesäubert und alles wieder eingeräumt. Dann setzte sie sich für kurze Zeit mit einer Tasse Kaffee auf einen Stuhl unter der Uhr zwischen Schlafzimmer- und Kellertür. Es war alles für den Erntesonntag fertig.
Maria, meine kleinere Schwester, und ich gingen zu ihr und fragten, ob wir zu Schulze-Hiltrup gehen dürften, um mit den Kindern zu spielen. Nachdem sie ihr Einverständnis gegeben hatte, waren wir auch schon unterwegs. Als wir gerade angekommen waren, ertönte Voralarm und kurz darauf Vollalarm. Onkel Adolf (Schulze-Hiltrups Besitzer) forderte uns auf, mit ihm ans Herdfeuer zu gehen und, in Ruhe betend, die Zeit abzuwarten. Ganz aufgeregt kam Agnes durch die Tür und holte uns per Fahrrad ab. Maria auf dem Gepäckträger und ich auf dem Sattel. Sie radelte uns im Stehen nach Hause.
Weil Mutter mit uns Mädchen allein war und die Flugzeugverbände deutlich in der Luft zu hören waren, flüchteten wir in den Bunker. Die Koffer blieben hinter der Haustür unterm Tisch stehen. Wir hatten kein Gepäck mit. Opa, gehbehindert, blieb wie immer im Wohnzimmer, er wollte nie mit uns in den Schutzraum. Dort, unterirdisch, saß Mutter im Winkel der Luftschutzbetten, Maria auf dem Schoß und Agnes neben ihr. Ich lag im Etagenbett direkt darüber. Mutter versuchte tröstend auf uns einzureden, da es draußen krachte und sehr laut donnerte. Durch den Luftdruck eines Knalles flog ich nach unten und landete zusätzlich auf dem Schoß meiner Mutter. Daraufhin verließ sie den Bunker und spähte in das Unheil, das draußen angerichtet wurde.
Kurz nachdem sie uns verlassen hatte, kam sie auch schon wieder und berichtete uns ganz bestürzt: ,Eckervogt steht in lodernden Flammen, aber ich kann nicht bis zu unserem Haus sehen, der Rauch ist zu dicht.‘ In der Tür stehend bleibend, verrichteten wir das Gebet: .Hilf Maria, es ist Zeit, hilf Mutter der Barmherzigkeit .. .‘
Dann lugte Mutter wieder hinaus, und plötzlich hörte sie Opa rufen: ,Agnes‘, sagte sie, ,eile du mit mir ins Haus! Du, Else, nimmst Maria bei der Hand und gehst mit ihr dorthin, wo es nicht brennt!‘
Aus mehrmaligen Übungen im Gashaus auf dem Schulhof wußte ich, wie man sich im Ernstfall verhalten mußte. Als Siebenjährige nahm ich Maria bei der Hand und eilte mit ihr ins Haus, das wie die meisten benachbarten Häuser brannte. Wir holten schnell unsere Gasmasken, stülpten sie uns über und rannten so schnell es eben möglich war, wieder nach draußen. Mit einem Besen unter dem Arm (um Wege zu bahnen, laut Übungen), gingen wir das Pättchen bis zur Straße. Ich kann mich noch genau erinnern, wie unternehmungslustig und interessant es für mich war. Doch als wir durchs Törchen zur Straße hinaufgingen, bekam ich einen gewaltigen Schrecken.
Die damals steinige, rauhe Straße flimmerte von etwa 40 Zentimeter langen brummenden Brandbomben. Schulze-Hiltrup, wohin wir gehen wollten, stand in einem riesigen Flammenmeer. Eckervogt war von Feuerwehr und Feuerwehrleuten versperrt. Unter den Gasmasken weinend, schlängelten wir uns durch die heißen Brandbomben die Straße entlang, bis uns Oma Schäfers holte. In deren kleiner Werkstatt umsorgte sie viele kleine weinende Kinder.
Bei Schäfers waren drei Männer (zur Zeit auf Heimaturlaub) damit beschäftigt, die brennenden Bomben in den Hof zu werfen, somit haben sie ihr Haus gerettet. Es war auch kein Heu oder Stroh auf dem Dachboden, das war ihr Glück.
Als die Entwarnung kam, ging Oma Schäfers mit uns nach draußen. Strahlender Himmel. Aulenkamp brannte lichterloh, auch Kettler und Israel, ein gewaltiges Flammenmeer. Doch der Blick nach uns (Langenkamp) herüber brachte mich wieder zum Weinen. Da sah ich, wie Mutter die ohnmächtige Agnes durchs Schlafzimmerfenster zerrte und sie vorsichtig auf die hinaufgeworfenen Federbetten legte, sie eilte jedoch schnell ins brennende Haus zurück. Oma Schäfers hob mich über die Hecke und schickte mich hinüber, meiner Schwester beizustehen. Sie hustete heftig und konnte wieder frei atmen.
Neben uns flogen die Stalltüren auf, und die Schweine jagten ins Freie. Im großen Bogen lief ich um das Hitze ausströmende Haus. Vor der Haustür saß Opa im Lehnstuhl, im Schutz der Laube und der Werkstatt, die heute [1984] noch steht. Mutter kam mit einem Arm voll Kleidung ins Freie gelaufen und fragte mich, wo ich Maria gelassen hätte. Dann befahl sie mir, wieder zurückzugehen, damit ich keinen brennenden Pfosten abbekäme. Durch Schulze-Hiltrups Kuhweide lief ich zurück.
Da stand ein etwa zweijähriges Pferd, es hatte eine brennende Brandbombe senkrecht durch den Hals bekommen. Sie blieb stecken und lugte unten heraus. Oma Schäfers stand bei ihm, umringt von der kleinen Kinderschar und streichelte das verletzte Pferd.
Dann sah ich Vater mit dem Fahrrad kommen, der sich in großem Tempo unserem Haus näherte, gefolgt von meinen Brüdern Heinrich und Clemens. Emsig machten sie sich ans Retten. Die Funken sprühten weiter, und die geretteten Sachen wurden von meinen Brüdern zur Seite gelegt. Dann geschah es, das Dach krachte ein, und das Feuer loderte von neuem. Alle standen da und sahen in den Brand mit den züngelnden Flammen. Maria und ich eilten zu ihnen. Als Vater uns erblickte und alle unverletzt waren, sagte er: ,Wir wollen dem Herrgott danken, daß wir alle gesund beisammen sind!‘ Mit bebender Stimme betete er den Rosenkranz vor.
Am folgenden Tag war Erntedank.“
(Text: Else Kreft geb. Langenkamp, veröffentlicht 1984)