Hannelore Scheller erzählt
Mein Großvater arbeitete sich vom Bauern bis zum Oberbahnsekretär bei der Reichsbahn empor, der Vater wurde ein Lastwagenhändler in Münster. Meine Mutter war als Sekretärin eines Medizinprofessors an der Universitätsklinik beschäftigt. Geboren bin ich 1927 in Billerbeck, Kreis Coesfeld („Perle der Baumberge“). Hier bin ich auf den Namen Hannelore getauft. Der Pfarrer wollte mich erst nicht auf diesen Namen taufen; meine Großmutter hat ihm dann gedroht, dass sie sonst nach Münster gehen würde. Fünf Jahre Volksschule, dann sechs Jahre an der Fürstin Gallitzin – Mädchenmittelschule in Münster, ein Jahr höhere Töchterschule in Burgsteinfurt.
Die Schellers gehörten zu den ganz alten hier eingesessenen Familien. Die Gastwirtschaft Scheller war 1860 von dem früher umherziehenden „Kiepenkerl“ und Kötter Christoph Theodor Scheller an der Hammer Straße gegründet worden. Er stammte aus der Nähe von Bielefeld und hatte zunächst beim Gastwirt Hummelt in Amelsbüren gewohnt. Als er eine Tochter des Wirts Hummelt geheiratet hatte, konnte er 1860 in Hiltrup die neue Gastwirtschaft mit dem anhängenden Kramladen in dem daneben stehenden Haus gründen. Sie bestand zunächst aus zwei alten Kötterhäusern des Hofs Schulze-Hiltrup. Hier wurde 1872 der erste Sohn Heinrich Theodor geboren, der zunächst ein Bäcker wurde. Nun wurde aus früheren Stallungen daneben auch noch eine Bäckerei für ihn errichtet, er betrieb Bäckerei und Kramladen und die Gastwirtschaft. Damals gab es noch keine Straßennamen, und die Adresse lautete Hiltrup Dorf Nr. 8.
Nach seiner Hochzeit 1905 wurde dann in Hiltrup in der Hammer Straße (heute Westfalenstraße) als erster Sohn Josef Scheller geboren, mein späterer Ehemann. Auch er lernte das Bäckerhandwerk. In der kleinen Bäckerei und dem „Kramladen“ gleich neben der Gastwirtschaft waren drei Gesellen und eine Verkäuferin tätig .
Der auf den ersten Blick seltsame Name „Zum Nordpol“, den die Gastwirtschaft Scheller lange führte, hatte mit folgenden weiter zurück reichenden Hiltruper Umständen zu tun: Als 1912/13 von der katholischen Kirche die große neue Hiltruper Clemenskirche mit ihren hohen zwei Türmen erbaut worden war, wurde die kleine alte Kirche nicht weit vom schellerschen Gasthof entfernt für den üblichen Gottesdienst dort geschlossen. Dies rief bei vielen Hiltruper Bürgern, besonders aber bei den Handwerkern und allen Bewohnern der Hammer / Westfalenstraße, die unter dem volksmundlichen Namen „Altes Dorf“ überall als damaliges Zentrum Hiltrups angesehen wurde, verständlicherweise heftigste Empörung empor. Diese wollten wie wohl die meisten katholischen Hiltruper die Alte Kirche mit ihren traditionellen Funktionen unbedingt beibehalten und sind dem neu berufenen und nicht aus Hiltrup stammenden Pastor in der Clemenskirche nicht zu seinem Gottesdienst gefolgt, sondern gingen vielfach deswegen nach Amelsbüren. Die einflussreichen Hiltruper Handwerksmeister bildeten an ihrem Stammtisch im schellerschen Gasthof zum Protest einen „Bärenklub“. Dieser tagte auch bei den anderen Gastwirtschaften an der Westfalenstraße. Der gegenüber dem Gasthof Scheller wohnende Klempner Mense legte sich als offenes Kennzeichen seiner Zugehörigkeit den Namen „Lötbär“ zu, der Inhaber der bekannten Gärtnerei Eschweiler „Quirken-Bär“ , der Metzger Rohrkötter „Swine-Bär“ und der Bauunternehmer Rohlmann „Oberbär“, mein Schwiegervater Heinrich Theodor Scheller aber „Eisbär“, weil er die nördlichste Gaststätte in Hiltrup hatte. Um seinen neuen Beinamen nach außen hin besser zu dokumentieren, brachte er in der Gaststube das Bild eines Eisbären an und nannte seine Gaststätte „Zum Nordpol“, was freilich von fremden Gästen nicht gleich verstanden werden konnte. Dieser seltsame Beiname, der über der damaligen Drehtür am Eingang angebracht war, wurde von mir später persönlich unter großer Mühe wieder beseitigt. Der „Bärenklub“ bestand bis Anfang der 1980er Jahre noch als Karnevalsverein weiter.
In dem „Kramladen“ konnten die Hiltruper wie die Bauern aus der Umgebung viele nützliche Sachen für ihren Haushalt kaufen. Das reichte vom Würfelzucker über das Pferdegeschirr bis zur Schmierenseife. Natürlich wurden die meisten losen billigeren Lebensmittel in Papiertüten mit der Hand verpackt, abgewogen und nach Gewicht verkauft, Würfelzucker, Bonbons, Schokolade und Kaffee mit höheren Preisen befanden sich Glasterrinen oder Dosen. Wurde ein ganzes Pfund Kaffee auf einmal verkauft, dann war das ein „großes tägliches Geschäft“. Bäckerei und Kramladen waren im Übrigen wie die Gastwirtschaft stets den ganzen Tag in der Woche geöffnet. Da die alte Hammer Straße noch mit schönen Bäumen und Büschen bepflanzt war, konnte man hier manchmal gemütlich auch im Freien sitzen. Der Einkauf im Kramladen spielte sich dabei wie folgt ab: Die Kunden gaben beim Eintreten einen Korb mit einem Bestellzettel dort ab und tranken dann nebenan in der Gaststube ein Bier oder einen Kaffee, wobei dann untereinander ein kleiner Schwatz gehalten wurde.
Mit dieser geschäftlichen Kombination wurden stets gute Geschäfte gemacht.
1927 wurde die Bäckerei auch zur Konditorei mit Café-Ausschank, wo bei schönem wärmeren Wetter auch auf der Straße vor der Tür kleine Serviertische für Kunden und Gäste mit Sonnenschirmen aufgestellt wurden. Die angebaute Bäckerei und „Conditorei“ erweiterte natürlich das Geschäft der Gastwirtschaft mit ihrem kleinen „Kramladen“. Die Bäckerei wurde allerdings später aufgegeben.
Da man schon 1901 ein erstes Fremdenzimmer amtlich angemeldet hatte, wollte man auch diesen Geschäftszweig noch erweitern. 1927 wurde die Bäckerei mit einem zweiten Stockwerk versehen und acht Fremdenzimmer mit einer ganz modernen Zentralheizung und Warmwasseranschluss dort eingerichtet, so dass hier nun auch ein kleines erstes Hotel für Hiltrup entstanden war. Zu den Geschäften gehörte ein großes Grundstück als Hälfte des Platzes bei der Alten Kirche. Der 150 Jahre alte schellersche Gasthof hatte hier hinter seinem Haus seine Stallungen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden beide Söhne Scheller zur Wehrmacht eingezogen. Mein Mann war während der NS-Zeit kein Parteigenosse. Er hatte sich bei Unfällen zweimal die Wirbelsäule gebrochen und wurde trotzdem gleich nach Kriegsbeginn von der Wehrmacht eingezogen und dann beim Frankreichfeldzug 1940 eingesetzt. Danach sollte seine Einheit an die Front nach Russland. In den Tagen davor war er in Albersloh mit dem Auto der Familie Scheller unterwegs und hatte einen Unfall. In Albersloh gab es einen Stützpunkt der SS, betrunkene SS-Leute fuhren ihm ins Auto. Er blieb deshalb zurück und wurde zu einer Sanitätseinheit versetzt.
Die Gaststätte war in dieser Zeit verpachtet an den Pächter Lorenz. Jedoch blieben die Häuser der Familie Scheller bei den Bombardierungen unbeschädigt. Nach Kriegsende heiratete mich dann Josef Scheller im Oktober 1945, und unser Sohn Heinrich Theodor als jetziger Inhaber [Stand: Juni 2011] wurde im November dieses Jahres geboren. Wir übernahmen wieder den Betrieb von „Scheller“, Lorenz wechselte in die Gaststätte Meermann an der Amelsbürener Straße.
Mein Schulschluss in Münster und das Kennenlernen mit der Gastwirtschaft „Zum Nordpol“ / Scheller hatte mit einem plötzlichen Bombenangriff zu tun.
Wegen der zunehmenden feindlichen Luftangriffe auf Münster [rund 100 Angriffe von 1940 bis 1945] fuhr meine Familie mit einem eigenen Lastwagen oft am frühen Abend mit anderen Schutz suchend von Münster nach Hiltrup. Dort parkte man dann vor „Schellers Kneipe“ an der Hammer Straße (heute Westfalenstraße) gegenüber dem Hiltruper Friedhof. Die Kneipe hatte den Namen „Zum Nordpol“. Mutter und Kinder saßen unterwegs auf kleinen Sesseln. Bei den einsetzenden Bombenangriffen suchten die Schellers im Gewölbe der daneben stehenden Alten Kirche immer Schutz. Dies Gewölbe war zusätzlich abgestützt worden und hatte für uns eine Holzbank zum längeren Verweilen. Auch die Schwestern vom gegenüber liegenden Pfarrhof kamen nach dem Fliegeralarm hierher. Viele der damaligen 4000 Hiltruper hatten sich kleine Unterstände in ihrem Garten gebaut, die natürlich keinen großen Schutz bieten konnten.
Nach der Entwarnung konnte man manchmal erst spät in der Nacht um 2 Uhr wieder nachhause in Münster fahren, wobei wir Kinder in den Sesseln schon unterwegs einschliefen. Dort lernte ich als junges Mädchen den 20 Jahre älteren Gastwirt Josef Scheller persönlich erstmals kennen, als er einmal als Soldat von der Front kommend zuhause einen kurzen Urlaub machte.
Auf das Dach unseres Gasthofes fielen 11 Brandbomben, wobei eine mutig mit Hilfe des Bierschlauches gelöscht werden konnte. Dies geschah durch einen mutigen einfallsreichen holländischen Koch, der sich noch in einem deutschen Kriegsgefangenschaftslager befand und als Hilfskraft an den schellerschen Gasthof vorübergehend abgeordnet worden war. Das Haus daneben brannte freilich ganz nieder. Mein späterer Mann, der zu dieser Zeit in der Sanitätstruppe der Wehrmacht in Münster diente, konnte mit einem Motorrad seiner Einheit Gottseidank danach schnell nach Hiltrup zur Hilfe kommen.
Mein schönes fünfstöckiges Elternhaus mit sieben Räumen in der Olferstraße im Südviertel Münsters wurde durch einen Bombenangriff völlig zerstört. Meine Familie zog dann vorübergehend in eine kleine durch eine Margarinefabrik aber bekannte ländliche Gemeinde Rothenfelde-Dissen, wodurch sie erst einmal aus der größten Not gerettet worden war.
Das Kriegsende im Frühjahr 1945 habe ich in der damaligen „Lazarettstadt“ Rothenfelde erlebt, als die amerikanischen Truppen einzogen. Wir sind von dort oft mit dem Fahrrad nach Münster gefahren. Die Brücken über den Kanal waren zerstört, wir mussten mit dem Fahrrad über die Schleusentore. Der schellersche Gasthof war bis zum Frühjahr 1945 verpachtet. Als die Familie Scheller als Eigentümer den Gasthof in Hiltrup wieder betrat, fanden sie die amerikanischen Soldaten mit ihren vollkommen schmutzigen Stiefeln in unseren schönen sauberen Betten liegen, Wasserversorgung und Heizung setzten aus. Die Schellers konnten beim Nachbarn Brüggemann in der Friedhofstraße übernachten, fuhren dann aber wieder nach Rothenfelde zurück. In Hiltrup gab es zunächst auch belgische Soldaten, dann kam längere Zeit eine englische Truppe hierher. Deren Kommandant quartierte sich in der Baumschule „Eschweiler Hof“ ein. In diesem Gartenbaubetrieb stand eine schöne Villa, die beschlagnahmt wurde. Für die britische Sanitätstruppe wurde nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches die Gaststätte Bröcker beschlagnahmt. Der erste neue Hiltruper Bürgermeister war Joseph Elfering. Der NS-Bürgermeister war rechtzeitig vorher geflüchtet.
Am 5. Oktober 1945 habe ich bald nach Kriegsschluss von der Schulbank weg gleich in Hiltrup Josef Scheller geheiratet. Meine spätere Schwiegermutter hatte mich von unseren Lastwagenfahrten gut kennend nämlich zu ihrem Sohn gesagt: „Das ist die richtige Frau für Dich“. Gleich nach der Heirat habe ich dann begonnen, meinen Beruf als Gastwirtin zu erlernen. Das bedeutete, täglich Tische zu decken, Gläser zu spülen und vor allem, was am schwersten war, zu kochen. Es gab aber schon anderes Personal, von dem man viel abgucken konnte.
Bei Kriegsende bestand in Hiltrup noch keine ärztliche Klinik, Kinder wurden daher stets zuhause geboren. Die katholischen Schwestern unterhielten aber eine Pflegestation im Alten Kloster. Hier gab es 4-5 Räume vor allem für die Betreuung alter und kranker Einwohner, doch scheute man sich, jemand aus der Familie dort hinzubringen. Da eine Nonne allein keine Entbindung durchführen durfte, wurde immer eine Amme ins Haus geholt. In dieser Pflegestation war früher ein Arzt namens Dr. med. Tillman tätig gewesen, der aber gleich bei Kriegsbeginn 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Dr. Wiese war dann der erste dauernde Arzt in Hiltrup, der in der Mitte der damals so genannten Adolf Hitler-Allee (heute Marktallee) seine Praxis eröffnete. Ihm folgten dann die Mediziner Dr. Hoefinghoff und der Hausarzt Dr. Stroband. Wegen meines vierwöchigen hohen Fiebers brachte meine Mutter mich zur Operation in das bekannte Münsteraner Franziskus-Hospital, das wegen des Bombenkrieges nach Sendenhorst ausgelagert worden war. Dort drängten sich dann aber sieben Patienten in einem Krankenzimmer zusammen, was für mich ganz entsetzlich war. Kurz vor Weihnachten fand dann dort für mich die glücklicherweise gelungene Operation statt.
Natürlich haben wir nach Hiltrup kommende Ausgebombte und dann Flüchtlinge in der ersten Nacht aufgenommen und auch umsonst verpflegt. Eine wirklich große Wohnungsnot hat es in Hiltrup in den ersten Jahren nach Kriegsende nicht gegeben. Manche Hausbesitzer hatten freiwillig ausgebombte Münsteraner Bürger aufgenommen und auch der Gasthof Scheller einige seiner Fremdenzimmer dafür zur Verfügung gestellt. Er war um diese Zeit immer noch das einzige Hotel in Hiltrup. Manche dieser Bombenflüchtlinge sind dann für immer in Hiltrup hängen geblieben und haben so eine neue Heimat gefunden. Nur das Katholische Pastorat nahm wegen seiner vielen anderen Dienstpflichten in dieser Zeit keine Fremden auf. Außerdem suchten entlassene deutsche Soldaten in Hiltrup eine Zuflucht und blieben sogar länger, wenn sie nicht mehr nach zuhause zurückkehren konnten. Zuerst wurden einige von der englischen Besatzungstruppe eingestellt. Sie erhielten eine neue flaschengrüne Uniform, die auch die englischen Vorgesetzten trugen, und wurden nun – gerade aus der Wehrmacht entlassen – als Lastwagenfahrer eingesetzt. Sie erhielten in dem großen Saal der Gaststätte Vogt eine gemeinsame primitive Unterkunft und wurden dort auch verpflegt.
Andere deutsche entlassene Soldaten wurden zunächst von Hiltruper Haushalten mit Lebensmitteln versorgt und fanden dann erstaunlich schnell bei Glasurit erfreulicherweise eine Stellung, da es dort an männlichen Arbeitskräften mangelte. Andere wiederum schufen sich selbst eine andere neue Existenz. Unter den neuen Glasuritarbeitern befand sich ein gewisser Karl Hartmann. Er gehörte zu den aus den Ostgebieten stammenden entlassenen Soldaten, die wegen der neuen Grenzziehungen der Alliierten nicht in ihre alte Heimat zurückkehren konnten. Er kam zunächst bei einer englischen Sondereinheit in Hiltrup unter, welche den großen Saal der Gaststätte Vogt beschlagnahmt hatte und ihre neu eingestellten Hilfsarbeiter dort unterbrachte. Die Aufgabe war es nun, englische Militärlastwagen zu fahren oder als Hilfskraft zu begleiten. Karl Hartmann, der dann eine erste Unterkunft bei uns fand, holte 1945 seine Frau und seinen sechsjährigen Sohn Karl Heinz nach Hiltrup und wohnte dann ein halbes Jahr in dem schellerschen Gasthof in einem Fremdenzimmer. Dann wurde ihm von der britischen Kommandantur, die sich in der Villa Schenking einquartiert hatte, eine kleine Mansardenwohnung an der Amelsbürener Straße zugewiesen. Mit der Zeit gelang es ihm dann, in einem besseren Kotten der Familie Dahldrup dort eine dauernde Bleibe zu finden, und er wurde nun als Lkw-Fahrer der Firma Glasurit fest angestellt. Sein Sohn war der später in Hiltrup gut bekannte Autolackierer Karl Heinz Hartmann. Unter den Ausgebombten aus der Stadt Münster, die hier zu uns flüchteten, war z.B. ein gewisser Herr Hoffmann, der bei dem Hiltruper Büro der Zeitung „Westfälische Nachrichten“ eine Stellung bekam. Neu entstand auch durch diesen Zuzug nicht weit von uns der Friseurladen der uns gut bekannten früheren Friseuse Hartmann in einem kleinen Kotten an der Straße nach Amelsbüren. Sie war die Schwester von Karl Hartmann.
Die Post beförderte schon Ende 1945 wieder Pakete und dann Personen. Diese Autobuslinie hatte einen Halteplatz vor unserer Gaststätte sowie einen weiteren vor dem Hiltruper Bahnhof. Mitte der 1950er Jahre kam es ferner zur Eröffnung eines ersten Hiltruper Taxi-Unternehmens.
Unter der großen Lebensmittelnot besonders im Winter 1946/47 hatten wir selbst nicht besonders zu leiden. Wir besaßen nämlich neben der Alten Kirche einen etwa 1000 qm großen Garten, der stets gewissenhaft bearbeitet wurde. Für unsere Gäste war es wichtig, z.B. viel Weißkohl anzubauen, aus dem dann das allen Westfalen wohl schmeckende Sauerkraut gemacht wurde, das sich gut länger aufbewahren ließ. Bei den Bauern hamsterten wir in den ersten schlimmen Jahren säckeweise besonders Weiß- und Rotkohl. Außerdem wurden bei uns zwei Schweine gehalten, die natürlich besonders mit unseren vielen Küchenabfällen gemästet wurden. Ich selbst fuhr in dieser schlimmen Zeit mit einem von einem Pony gezogenen kleinen Pferdewagen zu den umliegenden Bauernhöfen, um weitere Lebensmittel für die Gastwirtschaft zu hamstern, z.B. suchten wir schöne Äpfel.
Die Währungsreform 1948 bedeutete für uns ein reines Chaos, da jeder nur 40 DM ausbezahlt bekam. Zunächst musste erst einmal Wechselgeld für die Kasse besorgt werden, und unsere Bäckerei hatte zunächst nicht genug Brot für alle ihre Kunden. Die große Brotnachfrage nach der Währungsreform hatte damit zu tun, dass viele Leute nach der langen Zeit der behördlichen Zuteilung von Brot durch staatliche Lebensmittelkarten befürchteten, auch in der neuen freien Marktwirtschaft könne das so ungeheuer wichtige Nahrungsmittel doch wieder plötzlich ausgehen. Die Leute gingen deshalb möglichst früh die täglichen Lebensmittel einkaufen, wo man aber nun nicht mehr wie vorher in einer langen Kundenschlange anstehen musste. Da aus 10 000 Reichsmark nun 1.000 DM geworden waren und der Bruder meines Mannes nach den Tod meines Schwiegervaters mit seinem Erbschaftsanteil abgefunden werden musste, blieb uns nichts anderes übrig, als Schulden für unsere Gaststätte und Bäckerei mit ihren zusätzlichen Kolonialwaren aufzunehmen.
In der Gaststube hatten wir schon vor dem 2. Weltkrieg ausnahmsweise frühzeitig eine Gaslampe, da wir eine durch die Westfalenstraße nach Bottrop laufende Gasleitung anzapfen konnten, dann kam ein Gasherd dazu. Der Klempner und spätere Elektriker Mense uns gegenüber wohnend half uns bei diesen damals nicht ganz einfachen technischen Anschlüssen.
Ab 1948 wurden zuerst neue Möbel für die Wohnung der Eltern und erst seit der Mitte der 1950er Jahre auch neue Schlafzimmereinrichtungen für die Gäste angeschafft. Mein Ehemann und ich bewohnten weiterhin das frühere Schlafzimmer der Eltern. Eine eigene Wohnung im Obergeschoß besaßen wir nicht. Dies hatte damit zu tun, dass ich mit meinem Mann den ganzen Tag geschäftlich im Gastraum zu tun hatte und nur das private Schlafzimmer für uns eine wichtige Rolle spielte.
Unsere Familie hatte bis auf meinen Ehemann das Frühstück in der oberen Etage in einem kleinen Zimmer, Mittagessen stets unten in der Gaststätte mit dem Bedienungspersonal bis 14.30 Uhr, die Bäckerei nahm schon 12 Uhr ihre Mittagessen ein. Abends haben wir dort auch je nach Gelegenheit vor allem mit Gästen gegessen. Kalbfleisch, Eintopf und Schweinefleisch kamen oft auf den Tisch. Die etwas vornehmen Hotelgäste bevorzugten Suppen mit verschiedenen Einlagen (z.B. Rindfleischsuppe mit Gemüseeinlage und Markklößchen) oder Rindfleisch mit Zwiebelsoße oder Gurken. Am meisten beliebt waren Rinder- oder Kalbsbraten sowie eine Gemüseplatte mit Erzeugnissen aus unserem Garten. Als Nachtisch wurden Johannis- und Stachelbeeren oder an Stelle des Obstes ein Vanillepudding serviert.
Wir hatten niemals selbst einen eigenen beschaulichen Feierabend, sondern kamen oft erst 2.30 Uhr ins Bett, da ich immer die Tür öffnen musste. Einige Gäste blieben manchmal noch länger, so dass wir erst zwischen 3 und 4 Uhr nachts zur Ruhe kamen. Im Gastzimmer wurden täglich, oft auch an der Theke, private Geschäfte zwischen anwesenden Gästen gemacht, die für uns natürlich schönes Geld einbrachten.
Mein Mann frühstückte sogar frühmorgens schon mit den Stammgästen und unserem Personal im Gastraum, wobei bereits ein erstes Bier und ein Schnaps ausgeschenkt wurden, wie das nicht nur in Gaststätten üblich war. Der Postbote und der Küster von nebenan bekamen nach ihrem Eintreten bei uns stets eine ebensolche alkoholische Stärkung. Der Briefträger war praktisch auch eine „lebendige Morgenzeitung“, da er von Haus zu Haus in Hiltrup gehend viele Neuigkeiten von Familien erfuhr, die er nun an Interessierte weiter tragen konnte und besonders für uns auch wichtig war.
Ich trug in der Gaststätte früher immer nur einen weißen Kittel. Das weibliche Dienstpersonal trug dagegen weiße Schürzen, die mit einer Schleife hinten zugebunden wurden. Manche männlichen Gäste erlaubten sich dann den Witz, hinten an ihrer Schleife im Rücken zu ziehen. Das konnte ich als Wirtin aber nicht dulden und verpasste dem Übeltäter einen Klaps oder sogar tüchtige Ohrfeige. Auch sonst musste ich Gästen gegenüber energisch sein: Einmal war mit dem alten Schornsteinfeger Seiler eine Gruppe in der Gastwirtschaft. Seiler verfasste Heimatgedichte und trug sie gern selbst vor. Sie hatten Seiler auf den Tisch gestellt und ihm die Chrysanthemen zwischen die Zehen gesteckt, die ich teuer eingekauft hatte; Seiler sollte ein Gedicht vortragen und danach einen ausgeben. Die habe ich alle rausgeschmissen.
Schon nach der Währungsreform 1948 fertigte eine Hiltruper Schneiderin mir neue Kleider, darunter ein erstes Abendkleid für das jährliche große Schützenfest. Natürlich trugen wir Damen damals noch wie vor dem Krieg z.B. noch schöne Strohhüte mit Federn und auch noch manchmal einen Schleier bei festlichen Anlässen. Die bessere berufliche wie private Kleidung war auch ein Anzeichen dafür, dass wir gut und fleißig gearbeitet hatten und dafür nun Geld jetzt zur Verfügung hatten.
Zwischen 1950 und 1960 ist es bei uns immer schneller finanziell viel besser gegangen. Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung Hiltrups mit seinen neuen Großbetrieben und der großen Bevölkerungszunahme bedeutete für uns einen großen Aufschwung der Hotelübernachtungen. Viele Firmen aus allen Wirtschaftsbranchen schickten regelmäßig nun ihre wichtigen Geschäftsreisenden wie einfachen Vertreter regelmäßig seit 1949 uns zur Übernachtung. Auch die wachsende Firma Glasurit war mit seiner wachsenden Schar von Vertretern allein auf uns angewiesen, bis es zur Gründung weiterer kleinerer Hotels hier kam. Die Hotelgäste aus dem Umfeld von Glasurit waren top; aus dem Umfeld der Polizeischule kenne ich Polizeidirektoren aus ganz Deutschland, die afghanischen Polizisten waren besonders schick.
Unsere Bäckerei wurde in diesen Jahren zunächst durch den Bäcker Oeltigmann betrieben. Die Bäckerei lohnte sich jedoch nicht mehr, Oeltigmann wurde Tee-Vertreter. Bis 1959 arbeitete noch der Nachfolger Rüschhoff, dann wurde die Bäckerei 1959 geschlossen.
Schon vor dem Krieg hatte die Familie Scheller bereits ein privates Auto Marke DKW und seit 1948 auch wieder ein gebrauchtes Automobil der Marke Adler, so dass wir im Gegensatz zu den meisten Hiltruper Einwohnern räumlich mehr beweglich waren. Unser Auto stand meistens bei Nichtbenutzung nur in der Garage oder wurde in der Dunkelheit irgendwo versteckt, um es anderen neidischen Blicken zu entziehen. Nur relativ wenige Hiltruper konnten sich damals schon den Kauf eines Autos leisten. 1960 wurde dann ein neuer „Karmann“ als damals sehr beliebte Marke gekauft.
Der wachsende finanzielle Gewinn ermöglichte es uns, 1961 den ganzen schellerschen Gasthof für einen besseren Neubau abzureißen. Außerdem wurden eine wunderschöne Theke mit teuren Delfter Kacheln und eine neue Decke für die Gaststube angebracht, in die von Kirchen stammende alte Holzbalken gleichsam als Erinnerung an die gute alte Zeit eingebaut wurden. Früher hatte die alte Gaststube mehr einem bescheidenen Eisenbahn-Wartesaal geglichen. Überall merkte man im schellerschen Gebäude die neue Architektur. Früher hatten die Kutscher ihre Pferde vor der Tür der Gaststätte draußen anbinden können. Dazu gab es natürlich keinen Bedarf mehr, und der zum Grundstück gehörende Bürgersteig wurde um 1960 an die Stadt abgetreten.
Ringsherum um uns wohnten nur Freunde. In unserem kleinen Hotel übernachteten natürlich stets nur Fremde. Dies waren aber oft alte Klienten, die sich meistens 3-4 Tage bei uns aufhielten. Eine erste Konkurrenz entstand für uns erst viel später durch das Hotel „Krautkrämer“ am Steiner See. Andere kleine Konkurrenz bestand für uns aber nicht, so dass wir lange das einzige Hotel in Hiltrup waren, das daher auch eine feste treue Kundschaft besaß. Ein zweites kleines Hotel mit dem Namen „Krone“ entstand dann an der Kreuzung Marktallee – Westfalenstraße, wo heute ein bekannter Uhrmachermeister und Optiker seinen großen sehr bekannten Eckladen an der Kreuzung hat.
Eine wichtige Rolle spielten nach Kriegsende z.B. der bei vielen Hiltruper Haushalten täglich vorbeikommende Wagen des Milchgeschäftes Heithorn, ein relativ großer Kolonialwarenladen auf der Marktallee und auch der Friseur Gerlach. Die vielen benötigten Lebensmittel und Getränke für Schellers Gasthof wurden nicht in Hiltrup eingekauft sondern bei Münsteraner Großhändlern, die dann ihre Waren schnell direkt ins Haus lieferten. Zu den ersten größeren Kaufleuten in Hiltrup nach dem Krieg gehörte auf jeden Fall der Lebensmittelhändler Wolske als Zweiggeschäft der sich weit ausdehnenden Hill-Ladenkette.
Auf der Westfalenstraße gab es außer uns noch drei weitere Gaststätten, eine direkt neben uns mit dem Namen Heithorn mit einer gleichnamigen Bäckerei. Unsere Bäckerei wurde schon 1959 geschlossen, die von Heithorn aber erst sehr viel später 1971. Der Besitzer einer anderen Gaststube mit einer eigenen Schnapsbrennerei mit dem heutigen Namen „Olles Dorp“ hieß Stähler bzw. später Rohrkötter, der zugleich ein Metzger war. Außerdem gab es noch die „Ackermann Actienbierbrauerei“, die auch von Heithorn betrieben wurde. Schließlich war für uns auch die wohl schon nach 1868 eröffnete Bahnhofswirtschaft eine Konkurrenz, welche nicht nur Reisende, sondern auch die zahlreichen Glasuritarbeiter jedesmal nach der wöchentlichen Lohnzahlung anzog, weshalb diese bei den Hiltrupern manchmal als unser „Biermob“ bezeichnet wurden. Die Gaststätte Vogt in der Marktallee war für uns auch eine gewisse Konkurrenz, sie zog mit ihrem großen Garten und Musikpavillon viele Gäste und besonders trinkfreudige Studenten von der Universität Münster an, die in der wärmeren Jahreszeit gerne einen Ausflug nach Hiltrup machten mit der Eisenbahn und später mit dem Omnibus. Die Gaststätte Vogt hatte ihren Sitz dort, wo heute die Volksbank steht, die Inhaberin war die Wirtin „Mütterken“ Vogt. Die Gaststätte Elfering besaß sogar einen größeren Saal zum Tanzen und wurde so ein Vorläufer der späteren Tanzschule Husemeyer. 1960 besaß Hiltrup schon insgesamt 16 Gaststätten, was für seine enorm gewachsene kulturelle Anziehungskraft spricht.
Der größte Kriminalfall war bei uns der Diebstahl eines Opel-Autos. Er gehörte einem etwas vornehmen belgischen Gast, der ihn nachts hinter unserem Haus geparkt hatte. Die Polizei schickte uns dann einen Polizisten, der eine ganze folgende Nacht unser Haus und Grundstück erfolglos bewachte. Bei einem Hiltruper Kegelabend hörte ich dann zufällig, dass es hier eine kleine Clique von Jungen gab, die schon einmal Diebstähle verübt hatte. So war vorher einem Arzt aus Hamm in gleicher Weise das Auto hier gestohlen worden. Der Anführer dieser fünfköpfigen „Lausbubbande“, wie diese jugendliche Clique dann genannt wurde, konnte kurz danach von der Polizei gefasst werden. Ein anderes Problem kam dauernd vor, was von den Gastwirten aber hingenommen wurde. Wenn nämlich Gäste in der Gastwirtschaft ihre Getränke stets nur auf ihrem Bierdeckel aufzeichneten und erst später ihre Gesamtrechnung bezahlten, wurde dies hier alter Tradition folgend nicht als Unrecht angesehen, auch wenn die notierten Zahlen manchmal nicht ganz stimmten. Viel schlimmer für den Gasthof Scheller war es, dass einmal in dem schlimmen Notjahr 1946 die Teile eines gerade geschlachteten Schweins hinter unserem Haus gestohlen wurden, wobei der Dieb nach seinem Einbruch Gardinenvorhänge abriss, um seine Beute darunter zu verstecken.
Aus beruflichen Gründen war ich Mitglied aller bekannten Hiltruper Vereine, auch des Kolpings-, Kaninchenzüchter- und Ziegenbock-Vereins.
Ich bin bis zum 78. Lebensjahr [2005] Gastwirtin geblieben, wobei ich natürlich eine Urlaubsvertretung hatte. Ich war aber im schellerschen Gasthof „immer mit Leib und Seele dabei“ und habe meinen nicht einfachen, aber immer für mich unterhaltsamen Lebensgang nie bedauert. Ab 1977 war mein Sohn Heiner als Wirt mit im Geschäft, jetzt führt mein Enkel Hendrik die Gaststätte.
Liste der Gastwirtschaften in Hiltrup:
Drei Gastwirtschaften nebeneinander im „Alten Dorp“ an der Hammerstraße (Westfalenstraße):
Gasthof Scheller „Zum Nordpol“, ab 1961 Hiltruper Hof, Besitzer H. Scheller
Schenkwirtschaft Heithorn, früher Altbierbrauerei Ackermann (1905 von Heithorn übernommen, einem Bierkutscher der Westfalia Brauerei), ab 1959 Neubau „Altes Gasthaus Heithorn“
„Olles Dorp“: früher Brennerei Stähler, danach Gaststätte Rohrkötter mit Metzgerei (Rohrkötters Tochter heiratete einen Aulker und starb früh)
Gaststätte Bröcker an der Bahnhofstraße (heute: Marktallee)
Gaststätte mit Kaffeewirtschaft Vogt an der Bahnhofstraße (heute: Marktallee)
Gaststätte Elfering mit Saalbetrieb an der Bahnhofstraße (heute: Marktallee)
Bahnhofsgaststätte Hülsmann
Gaststätte „An der Prinzbrücke“
„Clubhaus Steiner“ am Steiner See (heute Hiltruper See), ein Baggerloch, das beim Aufschütten des nahen Bahndamms entstand war.
Gaststätte „Dickes Weib“ an der Hammerstraße (heute Westfalenstraße). Sie war viel früher ein Postkutschen- und Zollhaus und wurde später [vorübergehend] die erste Bahnstation für Hiltrup und Umgebung
Eine Gaststätte ebenfalls mit Zollstelle gab es auch an der Straße zum Dorf Amelsbüren, deren Inhaber Hülsmann, Wienecke, Meermann und Vielmeyer waren.
(Quelle: Gespräch mit Hannelore Scheller am 18.6.2011, bearbeitete Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Hiltruper Museums; Gespräch mit Hannelore Scheller am 18.8.2022)