Der Zeitzeuge K. (Jahrgang 1907) berichtet:
„Mit 14 Jahren begann ich in Mettingen meine Schneiderlehre, die ich als Siebzehnjähriger beendete. Wie es damals üblich war, zog man danach als Wandergeselle durch Deutschland. Meine Stationen waren Brake in Oldenburg, Bremen, Essen, zuletzt Everswinkel. Häufig wohnte ich in Kolpinghäusern. Nach der Meisterprüfung 1932 übernahm ich in Hiltrup eine kleine Schneiderwerkstatt.
Ein trauriges Erlebnis hatte ich Heiligabend 1932. Ich ging in die Schusterwerkstatt von Seppel B. und fragte ihn so beiläufig, ob er schon für seine sieben Kinder die Geschenke habe. Entrüstet und traurig erhielt ich die Antwort, daß er für die Weihnachtstage nicht einmal genügend Brot im Hause habe. In dieser Zeit herrschte wirklich bei vielen Menschen bittere Not, und besonders kleinere Handwerker, von denen ich mehrere in Hiltrup kannte, verdienten kaum etwas Geld. Wenn ich einen Anzug genäht hatte und ihn zum Kunden brachte, kam ich meistens ohne Geld oder nur mit einer kleinen Anzahlung zurück. Die Bauern vertrösteten mich auf den nächsten Verkaufstermin für ein Schwein oder ein Kalb.
Bei den „kleinen Leuten“ hieß es damals immer: „Ihr müßt die NSDAP wählen, dann wird es euch besser gehen“. Das geschah nicht etwa aus Übermut, sondern aus der großen Not heraus.
In Gremmendorf wurden 1933/34 neue Fliegerkasernen gebaut. Dort bekam Seppel B. eine Anstellung als Schuster, von da ab ging es ihm und seiner Familie besser. Er erhielt festen Arbeitslohn und Kindergeld. Bald danach sah ich ihn in Hiltrup mit einem Motorrad fahren. Auch Schneider stellte man in den Kasernen zum Nähen von Uniformen an.
An eine Bemerkung des damaligen Ortsgruppenleiters F. kann ich mich noch sehr gut erinnern. Er meinte, wenn ich auch Uniformen nähen wolle, dann müsse ich in die Partei eintreten. Das war sofort nach der Machtergreifung 1933. Wenn man nicht gleich in einer Organisation war, wie z.B. in der NSDAP, SA, NS-Reitersturm, Deutsche Arbeitsfront, Frauenschaft, als Junge in der HJ, galt man als ausgesprochener Antinazi. Hiltrup war zu der Zeit noch ein kleines Dorf; jeder kannte jeden.
[Anmerkung: K. trat 1932 in die NSDAP ein und nähte Uniformen. Spruch in der Schneiderei: „Trittst du als Deutscher hier herein, so soll dein Gruß „Heil HItler“ sein.“]
Der alte Lehrer K. hatte es fertiggebracht, nicht in die Partei einzutreten, er wurde sofort nach dem Krieg der Entnazifizierungskommission zugeteilt.
Der Ortsgruppenleiter F. war zugleich Bürgermeister von Hiltrup. Plötzlich hatte er auch einen großen beruflichen Aufstieg; er wurde Personalchef bei der Firma Glasurit. Dieses muß man im Zusammenhang mit der Leitung des gesamten Unternehmens sehen, dessen Chef damals ein SS-Mann war.
In unserem kleinen Ort gab es häufig Auseinandersetzungen wegen des Flaggens an bestimmten Feiertagen. Zur Fronleichnamsprozession 1937 wollte die Ortsgruppenleitung das Tragen und Aufhängen von Kirchenfahnen verbieten, stattdessen sollten nur Hakenkreuzfahnen an den Häusern hängen. Viele Hiltruper ließen sich aber nicht einschüchtern und widersetzten sich. Wer am 1. Mai keine Hakenkreuzfahne flaggte, galt als klerikerfreundlich.
Die Patres der Hiltruper Missionare wurden aus den Klostergebäuden ausgewiesen, in die dann der Arbeitsdienst einquartiert wurde. Im Dorf erzählte man, daß auch zwei Nonnen der Hiltruper Missionsschwestern verhaftet und nach Berlin gebracht worden seien. Durch seinen Einfluß in der Partei holte der Rechtsanwalt Sch. sie von dort zurück. Den Erfolg begründete er damit, daß man eben in der Partei sein müsse.
Da ich sonntags regelmäßig den Gottesdienst besuchte, wurde ich von einigen Nazis als „Kirchenläufer“ angesehen. Wer nicht linientreu war, mußte damit rechnen, sofort als Soldat eingezogen zu werden. An einem Samstagabend im Mai 1939 erhielt ich den Stellungsbefehl. Von dem Zeitpunkt an ruhte mein Schneiderbetrieb. Gleich zu Beginn des Krieges wurde meine Kompanie nach Bergen (Norwegen) verlegt, von da ging es später bis 40 km vor Leningrad; bei Braunsberg (Ostpreußen) geriet ich in Gefangenschaft und kam in ein Gefangenenlager in der Nähe von Moskau, in dem ich in der Schneiderei arbeiten mußte. Weihnachten 1950 wurde ich entlassen. Es waren also fast zwölf Jahre, die ich von Hiltrup weg und von meiner Frau getrennt war.
Sonderurlaub erhielt ich Weihnachten 1939 für die sogenannte Kriegstrauung. Ich heiratete kirchlich in der feldgrauen Uniform. Der Ortsgruppenleiter hat es mir übelgenommen, daß eine kirchliche Trauung stattfand; ich hatte ihn dazu auch nicht eingeladen, zumal der Pastor unser Gast war.
Erinnerungen an Situationen mit Juden in Hiltrup vor der Reichskristallnacht habe ich ganz wenige. Soviel ich weiß, lebte damals auch nur ein Zigarrenhändler hier. Der brachte mir fast jeden Freitag seinen Anzug zum Bügeln und Reinigen; dafür zahlte er 4,50 Reichsmark. Eines Tages erschien er nicht mehr in meiner Werkstatt und war aus Hiltrup verschwunden.
[Anmerkung: Von 1934 bis 1935 wohnten der jüdische Frisör und Metzger Josef Salomon und seine Familie vorübergehend in Hiltrup, Hammer Straße 174. 1939 waren sie in Münster im Judenhaus Hamburgerstr. 42 gemeldet, für Josef Salomon war als Stand „Vertreter“ angegeben. Sie wurden in Riga ermordet; vor dem Haus Westfalenstr. 174 in Hiltrup erinnern Stolpersteine an sie.]
Ein Tuch-Großhändler, Katzmann u. Fröhlich, aus Osnabrück belieferte mich häufig mit Stoffen. Es durfte aber niemand wissen, daß ich bei einem Juden einkaufte, deshalb suchte er mich auch nur abends auf.
An die Reichskristallnacht erinnere ich mich, daß ich frühmorgens auf meinem Schneidertisch saß und ein Nachbar vorbeikam mit der Nachricht, die Synagoge in Münster brenne. Ich setzte mich sofort aufs Motorrad und fuhr hin; es war gegen 11 Uhr. Als ich an der Promenade ankam, sah ich keinen richtigen Brand, sondern es qualmte nur. Viele Leute schauten neugierig zu und schüttelten den Kopf. Niemand tat etwas, es erschien auch keine Feuerwehr. Ein Bekannter und ich gossen in der Synagoge einige Eimer Wasser aus und entfernten uns. Auf dem Rückweg fuhr ich Richtung Ludgeriistraße und sah eingeschlagene Fensterscheiben und wie Leute aus dem Geschäft Feibes Auslagen stahlen.
In Hiltrup gab es im Frühjahr 1939 ein Barackenlager, in dem Arbeiter für den Bau der zweiten Fahrt des Kanals untergebracht waren. Dort arbeiteten auch zwei Juden, die wegen eines Unfalls behandelt werden mußten. Da ich zu der Zeit dem Roten Kreuz zugeteilt war, fuhr ich den Wagen für den Krankentransport. Von dem Arzt, der erste Hilfe leistete, erfuhr ich, daß es sich um Juden handele. Das müsse aber geheim bleiben, sonst werde er seine Praxis los, sagte er zu mir. Auf dem Wege zum Hüfferstift bedankte sich der eine Jude mit der Bemerkung, daß wir hoffentlich keine Schwierigkeiten bekämen, da sie doch Nichtarier seien.
Von dem einen der beiden Juden habe ich nach dem Krieg noch einen Dankesbrief aus Lima erhalten, wohin er ausgewandert war. Ebenfalls Angst vor der Schließung seiner Praxis hatte ein Arzt, der gezwungen wurde, den Eingriff der Sterilisation bei einem Mann vorzunehmen, der als leicht verwirrt galt.“
(Quelle: Schülerarbeit; Hiltruper Museum.)