Albert Schäpers erzählt
Der Vater war Eisenbahnbeamter. Er saß im Ersten Weltkrieg in der Hauptzentrale der Eisenbahnstrecke Paris-Berlin auf einem wichtigen Posten. Der Großvater war ein echter Bauer in dem Gebiet zwischen Wulfen /Haltern, seine Frau hatte als gute Hausmutter ihm acht Kinder geboren. Geboren bin ich in Essen / Ruhrgebiet 1915. Volksschule und dann Realschule vier Jahre in Essen bis zur Abschlussprüfung. Nach dem Umzug der Eltern 1926 nach Hiltrup dann kaufmännische Lehre bei der Firma Hiltruper Röhrenwerke Fischer & Co. am Bahnhof bis zum Konkurs der Firma, 1930 Übernahme durch die Nachfolgefirma „Hiltruper Röhrenwerk“, Einsatz in Registratur und Buchhaltung. 1934 Eintritt in den Militärdienst geplant. 1935-1940 kaufmännischer Angestellter bei den Hiltruper Röhrenwerken, nach der Einberufung zur Deutschen Reichsmarine in Kiel Beamter im Reichsamt für Kriegsschiffneubauten in Kiel, Beamter bis zur Pensionierung.
1926 sind die Eltern von Essen nach Hiltrup umgezogen und wohnten zuerst als Familie zur Miete in einem einstöckigen Fachwerkhaus neben der Alten Kirche. Sie haben hier elf Jahre gewohnt. Das Wasser mußte noch mit der Hand aus einem Brunnen geschöpft werden. Dann wurde von Freiherr von Heeremann ein Grundstück in Hiltrup-Ost an der Ringstraße gekauft, wobei ein Quadratmeter nur 1,00 Reichsmark (!) kostete. Es war der Plan des Adeligen, neben dem ihm dort gehörenden großen Waldgelände eine kleine Siedlung nur für Kriegsbeschädigte und deren Witwen aufzubauen. Das zweistöckige Wohnhaus in der Ringstraße wurde selbst gebaut, wobei die Nachbarn wie früher auf dem Lande eine Mithilfe leisteten. Finanziert wurde der Hausbau wie bei den Nachbarn durch eine Kapitalabfindung (Auszahlung der voraussichtlichen gesamten Rentenbezüge).
In Hiltrup fuhr man mit dem Zug recht bequem nach Münster. Als junger Mensch wurde ich bereits 1930 Gründungsmitglied des Turn- und Sportvereins (TUS) in Hiltrup, weil die Leichtathletik (z.B. Turnen am Reck), das Schwimmen und die Ballspiele mir viel Spaß machten. 1935 nahm ich an einer großen überregionalen TUS-Feier in Stuttgart teil und habe dort am Reck und Barren vor den Zuschauern geturnt. In Hiltrup trafen wir Vereinsmitglieder uns oft am Steiner See, um dort Wettkämpfe nach den Regeln des damals übergeordneten „Reichssportvereins“ abzuhalten.
Der enge Kontakt mit dem evangelischen Pastor Spieker, der ein großer Turner war, und die große Vereinsfreiheit haben mich dann zum Glaubenswechsel veranlasst. Die Eltern sind aber weiterhin streng katholisch geblieben. Im II. Weltkrieg war ich als Angestellter im öffentlichen Dienst und dann als Beamter der Kommandantur der Reichsmarine für Kriegsschiffsneubauten in Kiel unterstellt und hatte Gelegenheit, mehrfach auf neuen Zerstörern und einem U-Boot-Neubau kontrollierend mitzufahren. Ich wurde dann aber wegen meiner freiwilligen Meldung zur Marine ohne vorherigen Arbeitsdienst als Soldat einzogen und habe die weiteren Kriegsjahre in Danzig, Graudenz in Hinterpommern und Bromberg (damals im Warthegau) hinter der Front gedient.
Meine Frau, die ich im Sommer 1942 beim Tanz im „Kaiserhof‘ in Münster kennen gelernt hatte, zog nach der Verlobung in diesem Jahr zu mir nach Kiel, wo wir dann bald an den Traualtar traten. Die Errichtung einer Flakstellung der Wehrmacht in Hiltrup und den alliierten Bombenkrieg mit der Zerstörung z.B. des Schwesternhauses haben wir hier erlebt, doch war das weniger schlimm als die ungeheure Zerstörung der Stadt Münster, die wir natürlich mit großer Teilnahme von Hiltrup miterleben konnten. Die Britische Armee beschlagnahmte nach ihrem Einzug im April 1945 in der damaligen Adolf-Hitler-Straße (Marktallee) ein ganzes Haus für sich.
Ohne Kriegsgefangenschaft bin ich im Juni 1945 vorzeitig entlassen worden, weil ich als Beruf „Landwirt“ angegeben hatte. Dieser Beruf wurde damals besonders wegen der Ernährungsnot dringend von den Arbeitsämtern gesucht. Bei Kriegsende 1945 befand sich meine Frau noch in meinem früheren Beschäftigungsort Kiel, ist aber danach sofort nach Hiltrup zu mir gekommen. 1945 wurde unsere Tochter und 1957 ein weiterer Sohn hier geboren.
Um die Ernährungsnot in den ersten Jahren nach dem Krieg zu lindern, wurde Obst und Gemüse in unserem Garten auf dem neu erworbenen Grundstück angebaut. Die Eigentümer der neu errichteten Siedlungshäuser in Hiltrup-Ost wurden von dem früheren Grundherrn von Heeremann angehalten, Hühner und Kaninchen selbst zu halten, wofür ihnen mit seiner Hilfe erstmals kleine Ställe umsonst gezimmert wurden.
Das neue Miteinander mit den aus Schlesien, Polen und Ostpreußen kommenden zahlreichen Flüchtlingen und dann gewaltsam Vertriebenen war anfangs nicht leicht, weil man wie früher alle aus dem Osten einströmende Menschen wie im Ruhrgebiet zunächst einfach als „Polacken“ ansah. Ich wurde zeitweise Schiedsmann zur Schlichtung von hier auftretenden Streitigkeiten, um eine damals besonders schwierige gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden. Diese schwierige Aufgabe habe ich 27 Jahre lang ausgeübt und wurde deshalb später mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Eine zwangsweise Einquartierung gab es bei uns nicht. Das Verhältnis der Flüchtlinge zu den Alteinwohnern war nach einer gewissen Zeit dann besser, doch blieben Kontakte der Flüchtlinge speziell zu den Bauern freilich noch länger gering. Tauschgeschäfte zwischen Bauern, den Flüchtlingen aber auch Münsteraner Stadtbewohnern habe ich selbst nicht erlebt. Ich hatte einen Onkel, der in der Nähe Hiltrups Landwirt war. Bei der Unterstützung unseres mit ihm verwandten Haushalts mit zusätzlichen Lebensmitteln in den schlimmen ersten Nachkriegsjahren, in denen wir uns an sich nur mit den behördlich zugeteilten Lebensmittelkarten zufrieden geben mussten, war er auch recht „kniepig“. Nach dem Erwerb des 1300 qm großen Heeremannschen Grundstücks wurde unsere tägliche Nahrung durch die nun zusätzliche Selbsthilfe besser.
Gleich nach Kriegsende gab es in dem alten Dorf Hiltrup eine große Wohnungsnot. In unserer kleinen Mietwohnung an der Alten Kirche wurden meine Geschwister dort geboren. Wir besaßen nur zwei kleine Räume – Schlaf- und ein Wohnzimmer. Nebenan mußte sich eine aus Ostpreußen zugezogene Familie sogar nur mit einem einzigen Zimmer behelfen.
Nach der Währungsreform, die uns wegen Fehlens von Ersparnissen keine Probleme brachte, gab es zunächst eine nur sehr langsame Einkommensverbesserung. Um das Einkommen zu bessern und die Kinder besser zu versorgen, arbeitete meine Ehefrau eine Zeit lang in Münster als Bürokraft, was aber wegen der Kinderversorgung nun neue Probleme brachte. Ich selbst arbeitete als Angestellter im Kfz-Gewerbe, dann in der Bauwirtschaft und in dem Baumschulenbetrieb Eschweiler für den Unterhalt der Familie. Erst seit der Mitte der 1950er Jahre besserte sich die persönliche und wirtschaftliche Stimmung. Ich selbst besuchte dann 1950 eine Fortbildungsschule für den Öffentlichen Dienst und wurde aufgrund meiner früheren Ausbildung im Krieg zum Regierungsassistent und nach und nach zum Regierungsinspektor und schließlich Regierungs-Amtmann in einem Landesamt der Regierung Münster ernannt. Ich leitete dort zuletzt dann eine Sonderbehörde, welche sich mit der sachgemäßen Eingliederung von männlichen und weiblichen Flüchtlingen bzw. Vertriebenen aus den früheren deutschen Ostgebieten und auch vor allem den Kriegsbeschädigten und ihren Hinterbliebenen zu beschäftigen hatte.
Als erste neue Möbelstücke wurde ein modernes Sofa und Stühle für das Wohnzimmer gekauft, die auch jetzt noch benutzt werden. An damals neu gekaufte Kleidung kann ich mich nicht mehr erinnern. Küchenprobleme gab es bei uns nicht. Es wurde weiterhin wie früher der alte Steinkohlenherd benutzt. Eine moderne Wasserversorgung am Rohrnetz und ein Elektrizitätsanschluss waren auch wie schon vor dem Krieg vorhanden. Beleuchtungskörper mit modernen Glühbirnen und eine Kohlenheizung gab es für uns immer in Hiltrup. Die Ordnung der drei Mahlzeiten mit dem Besteck und Geschirr war wie in einem bürgerlichen Haushalt und hatte nichts mit bäuerlichen Tischbräuchen zu tun. Ein tägliches Tischgebet gab es nicht mehr.
Sonntags besuchte ich die Predigt in der Evangelischen Kirche. Die Freizeit wurde vor allem beim TUS mit den Kameraden verbracht. Die Ehefrau und meine Mutter waren auch am Abend noch mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, bei denen Nähen, Stricken und Häkeln eine große Rolle spielte. Wir Männer waren in der Freizeit mit Gartenarbeiten und Versorgungsproblemen beschäftigt.
Ein Auto war in den 1950er Jahren aus finanziellen Gründen noch nicht vorhanden.
Wegen des langen Wohnens in Hiltrup gab es trotz meiner jahrelangen Unterbrechungen während der Kriegszeit ein fast selbstverständliches Heimatgefühl, was besonders durch die enge freundschaftliche Kameradschaft im Turn- und Sportverein gefördert wurde. Geburts- und Namenstage, besonders Hochzeiten und Beerdigungen wurden im mehr oder weniger festlichen Rahmen begangen sowie alle uns betreffenden Kirchen- und Vereinsfeste gern besucht.
Es gab in den 1950er Jahren in Hiltrup schon zwei Ärzte und einen Zahnarzt neben der Krankenhausversorgung mit den Missionsschwestern sowie auch schon eine Markthalle zum Einkaufen. 1935/36 hatten rd. 4500 Einwohner in Hiltrup gelebt, die deutlich große Vermehrung bis zur Nachkriegszeit ist mir zahlenmäßig nicht bekannt. Schon vor dem Einzug de Supermärkte gab es neben den zunehmenden kleinen Geschäften schon eine Markthalle.
Es gab keine herumziehenden „Kiepenkerls“ (Hausierer) mehr wie in früheren Zeiten, wohl aber in den Straßen herumfahrende Kutschwagen, die frische Brötchen von der Hiltruper Bäckerei oder aber frische lose Milch von der Molkerei zum Milchgeschäft oder sogar bis zur Haustüre frühmorgens brachten, wo keine Landwirtschaft betrieben wurde. Hiltrup war aber schon ein kleiner Industriestandort geworden und benötigte daher immer mehr gewisse kleine Lebensmittelläden. Alle größeren Einkäufe (Möbel und Kleidung) wurden aber noch nur in Münster gemacht. Nach 1960 und besonders nach der Eingemeindung Hiltrups in die Stadt Münster [1975] ist die Zahl der Geschäfte, Gaststätte und Freien Berufe steil angestiegen. Neben den Wochenmärkten wurde die kleine Markthalle von vielen Kunden besucht. Natürlich wurden oft alkoholische Getränke zu sich genommen, aber Probleme damit sind mir nicht bekannt geworden. Natürlich konnte in den Gaststätten der „Trank“ einem Gast nach alter Sitte „angeschrieben“ werden und brauchte erst später zumeist in einer größeren Gesamtsumme bezahlt zu werden. Von einem allgemeinen „Anschreiben“ beim Einkauf anderer Waren habe ich aber nichts gemerkt. Die Supermärkte mit der eigenen Zusammenstellung eines Warenkorbs sind erst nach 1960 üblich geworden. Eine Fahrschule für die zunehmende Zahl der Autofahrer hat es lange in Hiltrup noch nicht gegeben.
(Der Text beruht auf einem Gespräch mit Albert Schäpers im Jahr 2011. Schäpers war zeitweise Vorsitzender der FDP-Hiltrup und Kreisvorsitzender, Mitglied des Feuerwehrausschusses, Gründer und langjähriger Leiter der Marinekameradschaft U 21, ehrenamtlicher Berater des Verbandes der Kriegsversehrten (VDK) und Mitglied des Heimat-und Museumsvereins. Mit freundlicher Genehmigung des Hiltruper Museums.)