Eine Hiltruperin erzählt
Meine Familie stammt aus Ladbergen im Altkreis Tecklenburg und ist evangelisch. Meine Großeltern waren Neubauern und Pächter landwirtschaftlicher Betriebe. Wir sind im März 1926 nach Hiltrup gezogen, weil mein Vater im Jahr vorher bei dem Aufbau des Sauerstoffwerks der Fa. Lindes Eismaschinen hinter der Bahn mitgeholfen und dann dort Arbeit gefunden hatte.
Die Wohnungssituation in Hiltrup war in diesen Jahren angespannt. Damals hatte Hiltrup nach meiner Erinnerung 3000 bis 4000 Einwohner; davon waren 200 bis 250 evangelisch. Unsere erste Wohnung lag an der Bahnhofstraße (heute: Marktallee), wo heute das Fahrradgeschäft Hölscher ist. 1928 sind wir an die Münsterstraße (heute: Hohe Geest) in die Nähe der Clemenskirche umgezogen und ein Jahr später in eine Werkswohnung des Sauerstoffwerks an der Ecke Hummelbrink / Münsterstraße.
1930 wurde ich in die katholische Clemensschule eingeschult; eine evangelische Schule gab es in Hiltrup noch nicht. Vor dieser Zeit gingen die evangelischen Schüler aus Hiltrup noch – manchmal sogar zu Fuß – zur Johannesschule in Münster. Wir hatten mit den katholischen Kindern zusammen Unterricht; den Religionsunterricht – Montagnachmittags außerhalb der regulären Schulzeit – erteilte der Rektor der Johannesschule, der dazu eigens von Münster anreiste. In der Clemensschule war ich bis zum Ende der regulären Volksschulzeit. Daran anschließend habe ich die Handelsschule in Münster besucht.
Mein Vater hat bis 1939 bei dem Sauerstoffwerk als Maschinist gearbeitet und wechselte dann zur Fa. Winkelmann – Glasurit -, wo er als Personalchef fungierte und während des Krieges auch die Leitung des Werksluftschutzes übernahm. Wegen dieses Arbeitsplatzwechsels mussten wir die Werkswohnung des Sauerstoffwerks aufgeben; wir haben danach in der Hanses-Ketteler-Straße gewohnt.
An die Hiltruper Geschäfte vor dem Kriege kann ich mich noch gut erinnern; wenn mir ein Luftbild oder ein Lageplan aus dieser Zeit vorläge, könnte ich diese Erinnerung noch konkreter bezeichnen. Immerhin erinnere ich, dass die Sparkasse damals (ca. 1930/31) an der Klosterstraße (heute: Am Klosterwald) hinter dem heutigen Geschäft Grosche untergebracht war. Am jetzigen Standort Grosche war die Post. Postbeamter war Herr Poether, dessen Sohn Geschäftsführer der Sparkasse. Herr Grosche hatte in dieser Zeit ein Zimmer neben unserer Wohnung im Haus Ecke Hummelbrink / Münsterstraße; er fuhr damals mit dem Fahrrad über Land und handelte mit Textilien und Kurzwaren. 1930 eröffnete das erste Lebensmittelgeschäft der Fa. Hill an der Bahnhofstraße (heute: Marktallee), und zwar zwischen dem Haus Beitelhoff und der Rosenapotheke. Neben Wohnhäusern mit Gärten gab es an der heutigen Marktallee noch drei Schuhmacherwerkstätten, eine Metzgerei in Lage der heutigen Sparkasse und einige Tante-Emma-Läden, unter anderem einen Konsum-Laden im westlichen Teil der Marktallee.
Ich habe 1942 das Elternhaus verlassen und ein Lehrerseminar in Posen besucht. Diese Ausbildung war noch nicht beendet als dort um die Jahreswende 1944/45 die russischen Truppen näher kamen. Aus diesem Grunde bin ich nach Hiltrup zurückgekommen. In den folgenden Monaten bis zum Kriegsende war ich Schulhelferin in Angelmodde und Greven. Bis 1942 hat es nach meiner Erinnerung keine oder nur vereinzelte Bombenabwürfe im Hiltruper Gemeindebereich gegeben. Später bin ich nur zu kurzen Ferienzeiten in Hiltrup gewesen. Allerdings weiß ich, dass Häuser an der Marktallee, wo heute die Sparkasse und das Haus Wiesmann stehen, an der Westfalenstraße in Höhe der Praxis Dr. Böckeler, an der Hünenburg neben einem ehemaligen Ziegeleigelände und an der nördlichen Hohen Geest durch Bombentreffer zerstört waren und dass während meiner Abwesenheit von Hiltrup auch Bomben in der Nähe einer Flakstellung beim Hofe Hakenesch gefallen waren. Dabei sind Zivilpersonen umgekommen; soviel ich weiß – auch Kinder. In der letzten Kriegszeit — als ich zur Schule nach Greven fahren musste – wurden wiederholt auch Tieffliegerangriffe, auf alles was sich am Boden bewegte, geflogen. Auch solche Angriffe forderten in Hiltrup noch Todesopfer.
Weil die Gefahr immer näher kam, sind wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, Ende März 1945 mit den Fahrrädern in den Harz nach Beneckenstein gefahren, wo die Schwester meiner Mutter ein Heim leitete. Dort habe ich den Einzug amerikanischer Truppen erlebt. Während unserer Abwesenheit von Hiltrup war in unsere Wohnung die Amtsverwaltung St. Mauritz, die in Münster ausgebombt war, eingezogen. Deshalb waren meine Mutter und ich in der Folgezeit zunächst bei Verwandten in Ladbergen; dort war die Versorgung besser, als in den Städten. Anschließend habe ich bis 1948/49 in Schweinfurt in einer Metzgerei gelebt und gearbeitet. Auf diese Weise habe ich die schlimmsten Hungerzeiten überbrückt; ich bin eigentlich auch in den ganz schwierigen Nachkriegsjahren immer noch satt geworden.
Wir hatten schon 1941 ein Grundstück an der Kardinalstraße gekauft. Dieses Grundstück wurde während unserer Abwesenheit von anderen Familien genutzt. Wir mussten es uns nach dem Kriege erst mit Hilfe der englischen Besatzungsmacht zurückholen. Dort haben meine Eltern dann 1949 ein Behelfsheim mit zwei Zimmern errichtet, das sie – auch mit meiner Hilfe – zu dem Wohnhaus erweitert haben, in dem ich heute noch wohne. Zu Anfang hatten wir dort weder Strom noch Wasser und auch keinen Kanalanschluss. Als WC mussten wir zunächst ein Plumpsklo im hinteren Garten nutzen. Das änderte sich 1951, als wir Wasser- und Stromanschluss erhielten. In den 50-iger-Jahren haben wir nach und nach erst ein Satteldach aufgesetzt und durch Anbauten seitlich und im vorderen Bereich ausreichend Wohnraum schaffen können; ein Ausbau nach hinten aus erfolgte sogar erst 1968.
Da in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Inventarstücke aus der Wohnung an der Hanses-Ketteler-Straße verschwunden waren – auch ein Radiogerät, das wir seit 1935 hatten, haben wir uns eine richtige Wohnungseinrichtung erst 1955 wieder anschaffen können. Seit 1949 hatten wir wieder ein Radio und von 1957 an auch ein Fernsehgerät. In unserem Haus haben wir bis 1978 noch auf einem Kohleherd gekocht.
Ich bin 1949 nach Hiltrup zurückgekommen und habe seither in Münster in dem Sport- und Spielwarengeschäft Brinkmann vor allem im Verwaltungsbereich gearbeitet; bis 1981 habe ich dort – aufsteigend – schließlich eine Leitungsfunktion ausgeübt. 1981 musste ich krankheitshalber meine Tätigkeit beenden; seither bin ich Rentnerin.
Nach der Währungsreform 1948 hatten wir zunächst große Schwierigkeiten, uns wieder ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Erst Ende der 50-iger-Jahre spürten wir Anzeichen eines wirtschaftlichen Wiederaufstiegs. Etwa von dieser Zeit an haben meine Eltern auch wieder Urlaub gemacht; beginnend mit Besuchsreisen zu meiner in Süddeutschland verheirateten Schwester haben sie später Jahr für Jahr Urlaub irgendwo in Deutschland gemacht. Das galt auch zunächst für mich; in späteren Jahren habe ich aber auch das Ausland kennen gelernt. Meine Eltern sind 1980 verstorben.
(Der Text stammt aus dem Jahr 2011. Mit freundlicher Genehmigung des Hiltruper Museums.)