Die Hiltruper SPD in den siebziger Jahren. Eine Erinnerung

Prof. Dr. Dietrich Thränhardt

Dr. Dietrich Thränhardt (1979)

Dr. Dietrich Thränhardt (1979)

„Als ich mich 1970 bei der Hiltruper SPD meldete, besuchte mich als erster Hans Weiße, der Kassierer. Wir richteten gerade unsere Wohnung ein und Hans Weiße wusste alles, was man dazu brauchte. Die Kassierer waren damals das zentrale Verbindungsglied der Mitglieder zur Partei, und es ging nicht einfach um die Beiträge, sondern auch um einen regelmäßigen Kontakt. Mehr als drei Besuche konnte ein Kassierer an einem Abend nicht machen, denn er bekam überall etwas angeboten…

Hans-Jörg Weiße (1979)

Hans-Jörg Weiße (1979)

Hiltrup war um diese Zeit eine aufstrebende Gemeinde am Rande von Münster, dank ihrer Industriebetriebe sehr gewerbesteuerstark und nach Osten ebenso wie nach Westen dynamisch wachsend. Glasurit (heute BASF) schrieb damals auf seine Lastwagen „Glasurit. Hiltrup, Hamburg, Berlin“. Nach Norden wurden keine Bebauungsgebiete ausgewiesen, damit nicht der Eindruck einer zusammenhängenden Bebauung mit Münster entstand. 1969 hatte sich eine neue Mannschaft für die SPD zur Kommunalwahl gestellt und ein Drittel der Sitze gewonnen. Wie in der ganzen Umgebung war allerdings die CDU dominant. Sie war in fast allen Vereinen verankert und hatte in der ganzen Gegend die absolute Mehrheit. Einzige Ausnahme war die Nachbargemeinde Angelmodde, wo Genosse Krause Bürgermeister war. Er erzählte mir einmal, man müsse in allen Vereinen Vorsitzender sein, dann könne man die Termine gut koordinieren. Nur bei den katholischen Vereinen könne er als Protestant nicht mithalten.

Ganz überrascht war ich, als Jochen Riedel, der Fraktionsvorsitzende, mich wenige Wochen später fragte, ob ich nicht Vorsitzender werden wolle. Bei den Jusos? fragte ich zurück. Nein, für die Partei. Und er hatte auch schon Vorschläge für die Stellvertreterin: Christiane Eckardt. Und die hätte auch einen sehr aktiven Mann, der sei dann auch im Boot. Die Wahl fand statt. Insgesamt wählten wir 1970 einen Vorstand, der überwiegend aus Frauen bestand – damals eine Seltenheit.

Es war eine Zeit des Aufbruchs. 1969 hatte die SPD mit Willy Brandt zusammen mit Walter Scheels FDP die Regierung in Bonn übernommen, die gleiche Konstellation regierte auch in Düsseldorf. Jede Woche gab es aufregende Nachrichten. Die Ostverträge wurden verhandelt. Berlin sollte gesichert, die Ostgrenzen anerkannt werden. Die Springer-Presse brachte ständig Indiskretionen aus den Verhandlungen, die CDU warf der Regierung „Erfüllungspolitik“ vor. FDP-Abgeordnete traten zur CDU über, und es entstand der Eindruck, es seien auch finanzielle Anreize im Spiel. Die Bildungspolitik war aufregend, und der Streit um die Abtreibungsregelungen brachte vor allem im katholischen Münsterland viele Katholiken auf. Andererseits bezichtigten Feministinnen den SPD-Justizminister, nicht konsequent genug zu sein: „Mein Bauch gehört mir“. Bei der Geburt unseres ersten Kindes wurde eine Frau in die Klinik gebracht, die heimlich auf der Toilette entbunden hatte. Die Politisierung war enorm. Die Jusos machten merkwürdige radikalsozialistische Erklärungen und fraktionierten sich in „Stamokaps“ und „Anti-Revisionisten“. In Hannover gehörte dazu ein junger Mann namens Gerhard Schröder. In der Stadt Münster tobte ein heißer Kampf zwischen der alten SPD und neu eingetretenen Studenten und Jungakademikern, der die SPD diskreditierte und ihr 1972 Stimme kostete, als die Partei sonst überall gewann. Wir konnten diesen Spaltungsbazillus von Hiltrup fernhalten. Wir gründeten eine Juso-Gruppe und beim ersten Anblick war ich etwas erstaunt über die langhaarigen Köpfe. Die neuen Jusos waren knapp zwanzig, engagierten sich in den folgenden Jahren sehr in den Wahlkämpfen, machten eigene Veranstaltungen und luden auch zu Lebenshilfe-Problemen ein, etwa zu einem Vortrag eines Mathematiker-Kollegen zur „Mengenlehre“, einem Schul-Ungetüm dieser Zeit. Auch eine Vereinigung „Frau und Gesellschaft“ in der SPD wurde gegründet, es war eine Zeit des Aufbruchs.

Wir luden zu Diskussionsveranstaltungen zu den brennenden Fragen der Zeit ein und hatten volle Säle: Zur Ostpolitik diskutierte der ehemalige CDU-Minister Windelen mit Erich Küchenhoff, dem aktivistischen SPD-Professor aus Münster. Zum § 218 kam wiederum Erich Küchenhoff. Wir führten Bürgerversammlungen durch, u.a. in Hiltrup-West, wo bauliche Veränderungen anstanden. Und wir versuchten, ständig auch in der lokalen Presse aufzutauchen, was die überlasteten Redakteure der „kleinen Zeitung“ zu der Bitte veranlasste, wir sollten die Artikel gleich selber schreiben. Wir gründeten und verteilten „Hiltrup heute und morgen“, um die SPD auch mit Hilfe eines Informationsblatts auf gleiche Höhe mit der CDU zu bringen. Der Vorstand stimmte ab, ob wir dazu Werbung akquirieren sollten und entschied sich antikapitalistisch dagegen, was der finanziellen Grundlage des Blattes auf die Dauer nicht gut bekam.

Zur Wahl 1972 bauten wir Stände in Hiltrup-Mitte, -Ost und -West auf und verteilten Hunderte von Broschüren mit den Ostverträgen, außerdem auch die neueste Nummer unseres Hiltrup heute und morgen Nr. 4. Im Hauptartikel warfen wir dem Hiltruper Bürgermeister vor, über seine Mutter Äcker an der Grenze zwischen Hiltrup und Amelsbüren aufzukaufen und diese dann als Bauland ausweisen zu wollen. Die Information stammte aus CDU-Kreisen in Amelsbüren. Am Tag vor der Wahl gab es daraufhin ein Gegenflugblatt der CDU und eine einstweilige Verfügung, die uns die Aussage verbot. Sie wurde meiner Frau überreicht, als sie gerade unsere Tochter wickelte. Streitwert eine Million. Ich war einigermaßen geschockt über diesen Betrag, aber mein Stellvertreter Fritz Muddemann, ein erfahrener Polizeirat, beruhigte mich und erklärte mir, so ein Streitwert sei etwas sehr Vorläufiges. Wir machten noch ein Flugblatt, hergestellt auf einer etwas antiken Vervielfältigungsmaschine, die bei Eckardts auf dem Dachboden stand. Leider hatten wir vergessen, ein Fragezeichen hinter unseren Artikel zu setzen und die Informanten wollten anonym bleiben. So kam es später zu einem Vergleich. Streitwert 5000 DM. Aber vor allem waren wir glücklich über die gewonnene Wahl und die großen Fortschritte, die die Partei auch in Hiltrup gemacht hatte. Vor der Wahl war der Spielmannszug des Schützenvereins Hiltrup-Ost demonstrativ für uns durch den Ort gezogen. Bei der Landtagswahl 1980 mit Johannes Rau war der Erfolg noch größer.

Bauen in großem Stil und große Pläne gehörten zu dieser Zeit. Hiltrup wollte zusammen mit Amelsbüren und Rinkerode Stadt werden, wachsen und unabhängig bleiben. Glasurit plante eine Brücke über den Kanal, um auf der anderen Seite weiter zu wachsen. Der ganze Verkehr quälte sich durch die Marktallee und wir diskutierten, wie man die Leute da entlasten konnte. Wir schlugen einen Fahrradweg am Kanal nach Münster vor. Mitten in Hiltrup gab es eine Schranke am Bahnübergang, an der sich der Verkehr staute, manchmal auch die Feuerwehr oder ein Krankenwagen. Es war klar, dass da etwas geschehen musste. Aber die Pläne sahen auch große Abrisse vor. Es entstand die interessante Situation, dass die SPD versuchte, die großen alten Bürgervillen, die der Marktallee ihren Charakter gaben, zu schützen. Während wir damit wenig Erfolg hatten, konnten wir das Klostergebäude retten, das der Orden der Hiltruper Missionare abreißen wollte, nachdem er sich ein neues Betonkloster gebaut hatte. Das war aber schon in der Zeit nach der Eingemeindung.

Der Kampf um die Selbständigkeit einte die Hiltruper und löste viele Emotionen aus. Hiltrup wies vor der Eingemeindung noch ein großes Wohngebiet im Emmerbachtal aus und begann den Bau der Mehrzweckhalle, die dann nach der Eingemeindung erst einmal eine Bauruine blieb. Die Hiltruper CDU steigerte ihre Mitgliederzahl auf 600, was ein beachtliches Potential war. Dieser Kampf ging allerdings verloren und das Wachstum in Hiltrup schwächte sich beträchtlich ab. Es galten nun die gleichen Steuersätze wie in Münster und die kurzen Entscheidungswege einer kleineren Gemeinde waren nicht mehr da – wie immer sie im Einzelnen genutzt wurden. Die Politik wurde weniger aufregend, sowohl lokal wie national. Die SPD-Versammlungen dauerten nicht mehr bis kurz vor Mitternacht, sie waren weniger besucht und sie fanden seltener statt.

Die Mitgliedschaft der SPD hatte sich in diesen Jahren verändert. Als ich Vorsitzender wurde, meinte ein altes Mitglied, das müsse doch ein Arbeiter sein und nicht ein Doktor. Es gab eindrucksvolle alte Mitglieder, die schon vor 1933 Mitglied gewesen waren und viel mitgemacht hatten. Eine Genossin erzählte von ihrem Vater, der noch 1933 in der Nacht Plakate geklebt hatte. Nun aber zeigte die Bildungsexpansion ihre Resultate und es entstand eine sozial gemischte Partei. Ich habe mich darin sehr zu Hause gefühlt und fand es schön, nicht nur in meiner eigenen Berufsgruppe zu bleiben. Da die SPD im Münsterland in dieser Zeit überall in der Opposition war, gab es meiner Erinnerung nach auch kaum Karrieristen und die SPD in Hiltrup wurde ein Stück Heimat, mit einem großem Vertrauen zu den Genossinnen und Genossen.“

(Der Verfasser Prof. Dr. Dietrich Thränhardt war 1971 – 1973 Vorsitzender der SPD Hiltrup und 1975 – 1984 Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Bezirksvertretung Hiltrup.)