Vorläufer

Demokratische Bewegungen im 19. Jahrhundert

Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Frühindustrialisierung und das Bevölkerungswachstum lösen in den Staaten des Deutschen Bundes Massenverelendung und tiefe Strukturveränderungen der Wirtschaft aus. Noch widerstehen die Regierungen dem Verlangen des Volkes nach nationaler Einheit und Demokratie. Oppositionelle Bestrebungen werden scharf unterdrückt. Kurz vor und in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 bis 1849 formieren sich erstmals zwei Strömungen der organisierten Arbeiterbewegung: der recht kleine Bund der Kommunisten unter Führung von Karl Marx und Friedrich Engels vornehmlich im Westen Preußens sowie die Arbeiterverbrüderung mit annähernd 15.000 Mitgliedern unter der Leitung von Stephan Born vornehmlich in Berlin, Sachsen und in Teilen Nord- und Süddeutschlands. Erste Gewerkschaften entstehen. Die Revolution scheitert, und die Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung werden unterdrückt.

Jubiläumspostkarte zum 50. Gründungsjahr der deutschen Sozialdemokratie. Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 1913 © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Jubiläumspostkarte zum 50. Gründungsjahr der deutschen Sozialdemokratie. Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 1913 © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Während zwischen Revolution und Reichsgründung die Industrialisierung ungemein an Fahrt gewinnt, liberalisiert sich das politische Klima nach einem Thronwechsel in Preußen. Ferdinand Lassalle gründet 1863 in Leipzig den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“, der sich auf dem Gothaer Kongress 1875 mit der 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ vereinigt.

Zum Teil eigenständig, zum Teil durch die Anstöße dieser Parteibildung, formiert sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung in Berufsverbänden vornehmlich in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre.

Fahne zum 10. Jahrestag der ADAV-Gründung, 23. Mai 1873 © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Fahne zum 10. Jahrestag der ADAV-Gründung, 23. Mai 1873 © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Gründung des Deutschen Reichs nach dem Krieg gegen Frankreich 1871, unter Führung Bismarcks und Preußens, führt zu einem starken Wirtschaftsboom, in dem die Gewerkschaftsbewegung belebt wird. Diese und die Arbeiterparteien erleiden fortan zum Teil koordinierte Unterdrückungsmaßnahmen durch die konservative Reichsleitung, die Regierungen der Bundesstaaten und weite Kreise der Unternehmerschaft.

"Der Kampf des Riesen gegen den Zwerg" (Karikatur von 1875: Bismarck gegen Arbeiter) © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

„Der Kampf des Riesen gegen den Zwerg“ (Karikatur von 1875: Bismarck gegen Arbeiter) © AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung

Mit der 1875 gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) verfügte die Sozialdemokratie in Deutschland über eine einheitliche Partei. Darin sah Reichskanzler Otto von Bismarck eine der größten Gefahren für die monarchistische Ordnung. Er nutzte die im deutschen Bürgertum und beim Adel vorherrschende Ablehnung der Demokratie und die wachsende Furcht vor revolutionären Bestrebungen der stetig wachsenden Arbeiterbewegung.

November 1877: „socialdemokratische Umtriebe“ sind in Preußen verboten. Die Maurer August Schütt und Adolf Christen gründen mit 16 weiteren Mitgliedern in Münster die Niederlassung des Allgemeinen Deutschen Maurer- und Steinhauer-Bundes; sie werden von der Polizei „drangsalierend überwacht“ und lösen noch im gleichen Monat ihre gewerkschaftliche Organisation wieder auf.

26.8.1878: 15 oder 16 Personen gründen in Münster den Leseverein „Unitas“ mit dem Ziel „das Halten von Zeitungen zur Unterhaltung der Mitglieder und fröhliches Zusammensein an Montag-Abenden“. Ein Polizist gibt die Namen an die Stadtverwaltung weiter, diese informiert die Arbeitgeber: alle verlieren ihre Arbeit, der Verein löst sich am 19.9.1878 wieder auf.

1878 wurden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. Bismarck lastete sie der SAP an, obwohl die Sozialdemokratie die Anschläge entschieden ablehnte und es keine Beweise für eine Urheberschaft gab. Dennoch gelang es Bismarck in Folge der Attentate, die Revolutionsängste so weit zu schüren, dass der Reichstag am 19. Oktober 1878 mit der Stimmenmehrheit der Konservativen und Nationalliberalen das Gesetz „wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verabschiedete.

Dieses so genannte Sozialistengesetz erlaubte Verbote sozialistischer Parteien, Organisationen und Druckschriften sowie politischer Versammlungen. Bismarcks Absicht war es, den zunehmenden Einfluss der Arbeiterbewegung in Politik und Gesellschaft mit polizeistaatlichen Mitteln auszuschalten und die sozialdemokratischen Strukturen zu zerschlagen. Auf Grundlage des „Sozialistengesetzes“ wurden innerhalb von zwölf Jahren etwa 1.300 Druckschriften und über 330 Arbeiterorganisationen, darunter auch die SAP und Gewerkschaftsverbände, verboten. Tausende wurden verhaftet oder zur Emigration gezwungen. Mit ganz wenigen Ausnahmen – die Reichstagsfraktion bestand weiter – wurden alle sozialistischen und freigewerkschaftlichen Bestrebungen verboten. Sozialdemokraten wurden zu „vaterlandslosen Gesellen“ erklärt, das vertiefte die Spaltung der Gesellschaft im Kaiserreich.

1885: Der Maurer August Schütt gründet in Münster eine Freie Hilfskasse der Maurer, die als Ersatzorganisation für die verbotenen Gewerkschaften wie eine Krankenkasse in Arbeiter-Selbstverwaltung wirkte.

Durch die Industrialisierung nimmt der Anteil der Arbeiterschaft an der Erwerbsbevölkerung im Deutschen Reich rasch zu. Trotz des Sozialistengesetzes bleibt die Sozialdemokratie eine politische Bewegung, die Unterstützung bei der arbeitenden Bevölkerung findet. Als das Sozialistengesetz nicht wieder verlängert wird, erreicht die SPD – so heißt sie seit 1890 – bei den Reichstagswahlen 1890 mit 1,4 Millionen Wählern (19,7 Prozent der Stimmen) den höchsten Wähleranteil. Sie gewinnt fortan durchgängig an Wählerstimmen hinzu, steht 1912 bei 34,8 Prozent und bildet nun auch die stärkste Fraktion im Reichstag. Die Gewerkschaften, deren Entwicklung in der Zeit des Kaiserreichs eng mit der SPD verbunden ist, formieren sich 1890 neu und erzielen ab 1895 ungeheure Mitgliederzuwächse.

1891: Mit der „Belle Alliance“ gelingt den frühen Sozialdemokraten in Münster der Versuch, einen langfristig wirkenden Verein zu gründen, der „die geistlichen, sittlichen und gesellschaftlichen Interessen“ fördern sollte.

1896: Aus der „Belle Alliance“ geht der „Arbeiterbildungsverein“ hervor; Vorsitzender: Emmerich Düren.

Juni 1898: Der „socialdemokratische Verein“ wird in Münster gegründet.

Mitgliedsbuch der SPD Münster von 1906: „Eingetreten in Münster 18.1.1906“ (Bernhard Wulff)

Mitgliedsbuch der SPD Münster von 1906: „Eingetreten in Münster 18.1.1906“ (Bernhard Wulff)

(Zum Nachlesen: 125 Jahre SPD in Münster: Der Leseverein Unitas, Hrsg. SPD Unterbezirk Münster 2003.)

Der spätere Reichstags- und Bundestagsabgeordnete Friedrich Wilhelm Henßler kommt 1908 nach Münster und übernimmt wenig später den Vorsitz der SPD-Ortsgruppe Münster-Coesfeld; er gilt bis 1910 als führender ehrenamtlicher Funktionär im SPD-Wahlkreis Münster-Coesfeld, „wenngleich das damalige sozialpolitische Milieu des katholischen Münsters alles andere als die sozialdemokratische Parteiarbeit erleichterte“. 1911 folgte er dem Ruf der Arbeiter-Zeitung und zog nach Dortmund, seiner eigentlichen und zukünftigen politischen Wirkungsstätte.

Die Obrigkeit registrierte misstrauisch jegliche sozialdemokratische Aktivität. In der preußischen Provinz Westfalen, deren Oberpräsident in Münster residierte, standen Organisation und sozialdemokratischer Umtriebe verdächtige Einzelpersonen unter ständiger polizeilicher Überwachung. Die Regierungspräsidenten wurden angewiesen, jährlich Berichte für den Oberpräsidenten zu verfassen, in dem Stand und Entwicklung der Sozialdemokratie peinlich genau niedergelegt wurden. Besonderes Augenmerk fiel dabei auf die wenigen mutigen Frauen, die sich politisch betätigten. Bis 1918 stand Frauen kein Wahlrecht zu, auch durften sie keine politischen Veranstaltungen besuchen. Auf Verlangen der Polizei mussten weibliche Mitglieder und Anhänger der SPD öffentliche Versammlungen verlassen. Dies geschah auch in Münster, deren sozialdemokratischer Organisation um 1909 etwa 25 Frauen angehörten.

Innenpolitisch gehörten die Sozialistengesetze längst der Vergangenheit an – sie waren 1890 nicht mehr verlängert worden. Ihr Geist blieb freilich nach wie vor wirksam. Sozialdemokratische Veranstaltungen waren „polizeiwidrig“, politische Versammlungen mussten bei der Polizei angezeigt werden. Unter diesen Umständen hatten nur wenige Wirte den Mut, ihren Saal für sozialdemokratische Zusammenkünfte zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen musste jeder, der sich offen zur Sozialdemokratie bekannte, damit rechnen, von seinem Arbeitgeber entlassen zu werden.

In dieser Zeit regierte im Deutschen Kaiserreich Wilhelm II – ein vom Gottesgnadentum überzeugter Herrscher, der militärisch-autoritäre Formen für das bestimmende Element des gesamten öffentlichen und privaten Lebens hielt und kaum etwas mehr fürchtete als die sich stürmisch entwickelnde Arbeiterbewegung und deren politische Formation – die Sozialdemokratie. Unter seiner Herrschaft ist Deutschland zum zweitgrößten Industrieland in der Welt geworden. Nach einem letzten Wirtschaftsaufschwung von 1890 bis 1900 gelang es unter Aufbietung aller Kräfte und unter Zurückdrängung Englands, den erreichten Anteil an Weltproduktion und Welthandel zu erhalten. Gleichzeitig stiegen die Heeresausgaben zwischen 1890 und 1912 um etwa 60 %, die Marineausgaben um 500 % (!), Deutschland wurde militarisiert.

Kennzeichnend für jene Zeit war das immer noch bestehende preußische Drei-Klassen-Wahlrecht (bis 1918). Mangels Grundbesitzes oder sonstigen Vermögens waren Sozialdemokraten zu den Landtags- und Kommunalwahlen meist nicht wahlberechtigt. Die Parteiaktivitäten erstreckten sich deshalb mehr auf die allgemeine Stärkung der Organisation und zielten besonders auf die Wahlen zum Reichstag ab. Die Kommunalpolitik trat demgegenüber in den Hintergrund.

Diese Bedingungen führten dazu, dass die Versammlung der Parteimitglieder in den Reichstagswahlkreisen die unterste Ebene der Parteiorganisation bildete. Zunächst nahm die Ortsgruppe Münster diese Funktion für den Wahlkreis Münster-Coesfeld allein wahr, zu dem auch Hiltrup gehörte. Erst im August 1908 wurde ein sozialdemokratischer Verein für diesen Reichstagswahlkreis gegründet. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass inzwischen neben der münsterschen Organisation weitere Ortsgruppen gebildet worden waren, so in Coesfeld, Dülmen und Haltern. Im Laufe des Jahres 1909 kam es dann auch zur Gründung der SPD-Ortsgruppe Hiltrup. Dieses ist der eigentliche Beginn ortsbezogener sozialdemokratischer Arbeit in Hiltrup.

(Dieser Artikel wurde zuletzt am 09.03.2017 aktualisiert.)

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